"Anwesenheit im Krankheitsfall" - Effekte und Schlupflöcher der Konzepte zur Fehlquotensenkung / Von Mag Wompel

 

Die kürzlich gemeldeten Rekordtiefs der Fehlquote in Westdeutschland werden als Erfolg gefeiert, obwohl sie eher zu denken geben sollten. Die aktuellen Zahlen zur krankheitsbedingten Abwesenheit in den Betrieben belaufen sich auf durchschnittlich 6,7 Tage oder 3,98 Prozent in den ersten drei Quartalen des Jahres 1998 bzw. auf 18 Tage und 4,6 Prozent bei Pflichtmitgliedern der Betriebskrankenkassen (BKK) im Jahr 1997 (FR vom 13.10.98).

Die Gründe, die hierfür genannt werden, sind vielfältig und oft interessengeleitet: Einschränkung der Lohnfortzahlung, Konjunktur, Angst vor Arbeitslosigkeit, der rückläufige Anteil der Industriearbeiter mit schweren körperlichen Tätigkeiten oder die Verjüngung und "Verfittung" der Belegschaft durch Auflösungsverträge und Vorruhestandsregelungen. Hinzu kommt, daß die Quote von 6 Prozent der einzustellenden Schwerbehinderten immer stärker unterschritten wird und Arbeitsplätze für sogenannte "leistungsgewandelte Beschäftigte" abgebaut bzw. outgesourct werden. Ergänzend ist in diesem Zusammenhang auf die zunehmende Befristung der Arbeitsverträge hinzuweisen - laut Statistischem Bundesamt war bereits 1997 jede dritte Stelle befristet -, die dazu führt, daß auch Betriebsräte besonders den befristet eingestellten KollegInnen bei Krankheit zum Einsatz von Tarifurlaub oder Zeitguthaben raten. Und schließlich werden bisherige Fehltage nicht nur bei befristeten Verträgen zum Einstellungs- bzw. Übernahmekriterium, wie z.B. bei einer Thyssen/Krupp-Tochter in Dortmund (Westfälische Rundschau vom 27.11.98).

Viel lauter betont werden jedoch die vermeintlichen Erfolge des betrieblichen "Gesundheits-managements", das sich - sei es mit oder ohne Betriebsvereinbarungen - in der Regel allerdings auf die Senkung von Fehlzeiten durch Rückkehrgespräche, Hausbesuche und an den Krankenstand gebundene Sonderzahlungen beschränkt. So haben z.B. die gestuften und standardisierten Rückkehrgespräche (AVP) bei Opel Kaiserslautern nach Managementangaben dazu geführt, daß die für das volle Weihnachtsgeld erforderliche Fehlquote von weniger als 6 Prozent mit 4,8 Prozent sogar noch deutlich unterboten wurde (vgl. Rheinpfalz-Zeitung vom 19.11.98); bei Opel Rüsselsheim waren es sogar nur noch 4,1 Prozent (vgl. Rüsselsheimer Echo vom 16.12.1998). Was bei all diesen Meldungen verschwiegen wird, sind die aus der Sicht des Managements kontraproduktiven Effekte dieser Konzepte selbst sowie der diese Konzepte und den Druck auf die Beschäftigten unterstützenden, auf Zielwerte des Krankenstandes reduzierten Personalreserven, die ja jeden spüren lassen sollen, "wie sehr er gebraucht wird".

Die in Schweden in einer Untersuchung festgestellte steigende "Anwesenheit im Krankheitsfall" (vgl. Handelsblatt vom 4.9.1998), nach der bereits jeder Dritte krank zur Arbeit geht, scheint auch bei uns um sich zu greifen, denn wie anders soll dieser, m.E. ungesund niedrige, Krankenstand erklärt werden? Leider liegen für Deutschland entsprechende überregionale Untersuchungen nicht vor. Doch in einer 1993 von der Angestelltenkammer Bremen für das Land beauftragten Untersuchung gaben 40 Prozent der Befragten an, krank zur Arbeit gegangen zu sein. Und in der IG Metall-Zeitung "metall" vom Dezember 1998 wird nicht nur eine erschreckende Untersuchung der Arbeitsbedingungen der IG Metall Mannheim, sondern auch ein Arzt aus Sindelfingen zitiert, dessen Patienten sich immer häufiger mit einer Bronchitis zur Arbeit schleppen und von ihm hierfür fit gemacht werden.

Der in der "metall" zitierte Arzt führt dies auf die Rückkehrgespräche zurück, die die Beschäftigten scheuten "wie der Teufel das Weihwasser". Diese Beschreibung erscheint noch untertrieben, wie eine Befragung von Beschäftigten bei Opel Rüsselsheim zeigt (siehe Arbeit & Ökologie-Briefe 25/1998). Hier einige Auszüge:

· "Mitarbeiter lassen sich auch bei ansteckenden Krankheiten nicht krank schreiben, sie investieren privat Zeit und Geld, um Kranksein zu vermeiden, das AVP-System macht Angst"

· "man sucht ständig einen Weg, um das Rückkehrgespräch zu umgehen"

· "ehrliche Antworten gibt es nicht, eröffnet die Möglichkeit zum Mobbing. Krankheiten, die auf Vorgesetzte zurückzuführen sind, werden verschwiegen"

· "... dringende OP-Krankheiten werden hinausgezögert, um den 9-Monateschritt zu erreichen, es ist wichtig, den nächsten Punkt zu vermeiden"

· "... Mitarbeiter machen Druck auf ihre Kollegen, um die Statistik zu verbessern, der gesamte Gesundheitszustand der Belegschaft wird immer schlechter...."

· "... der Mitarbeiter wird eingeschüchtert, es verleitet den Mitarbeiter im Krankheitsfalle zu längeren Krankzeiten, Mitarbeiter werden durch Mitarbeiter bedroht der Quote wegen...."

· "Wenn ich krank bin, bin ich krank, ich komme mir bevormundet vor, die Fragen sind erniedrigend für mich, "du böser Bub, du bist ja wieder krank""

· "... es geht auf Kosten der gesamten Gesundheit der Mitarbeiter, und der Betrieb macht damit Gewinne"

· "... das Gespräch wird als Züchtigung verstanden, Erkältung übergeht man und wird dann herzkrank"

· "... Wenn ich gefragt werde, werde ich lügen, mein Verhältnis zu meinen Vorgesetzten ist schlecht, er nutzt das System, um zusätzlich Mobbing gegen mich zu betreiben".

Und selbst ein Vorgesetzter äußert, die Rückkehrgespräche seien unangenehm und die Fragen zu persönlich. Er versuche daher, den unsicheren Mitarbeitern zu helfen.

Bezogen auf die Ergebnisse der schwedischen Studie werden als Gründe für das Phänomen der "Anwesenheit im Krankheitsfall" die Karenztagregelung (seit 1993 wird der erste Krankheitstag nicht bezahlt, danach werden nur noch 80 Prozent gezahlt) sowie das "Verantwortungsbewußtsein gegenüber den Kollegen" genannt. Zumindest hinsichtlich der deutschen Verhältnisse sollte man weniger vom "Verantwortungsbewußtsein", als vom direkten Druck der KollegInnen aufeinander sprechen, krank zur Arbeit zu erscheinen, statt "mimosenhaft" oder "unmännlich" jede Erkrankung - auch die immer häufigere psychische Belastung durch Streß - auszukurieren. Dieser Druck wird in den zitierten Äußerungen der Opel-Beschäftigten angesprochen, und er wird systematisch aufgebaut: durch Belegschaftsabbau, Wegfall des Ersatzes für Kranke oder Anpassung der Personalreserven an die angestrebte niedrigere Krankenquote sowie durch kollektive Strafen für das Überschreiten der vereinbarten Krankenquote. Wenn also, wie Sascha Stockhausen in express 11-12/98 zutreffend schreibt, die Umsetzung der EU-Arbeitsschutznovelle in bundesdeutschen Betrieben weitgehend immer noch auf sich warten läßt, dann ist dies auch ein Resultat der in den Unternehmen bereits durchgeführten Kampagnen zur Senkung der Fehlquote mittels Rückkehrgesprächen, Krankenbesuchen und anderen Formen des Drucks auf Kranke. Doch sind es die Rückkehrgespräche, die bei einer tatsächlichen Verbesserung des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes sowie allgemein der Arbeitsbedingungen überflüssig wären, wenn sie, wie vom Management behauptet, tatsächlich diesen dienen sollten. Allerdings wird spätestens beim Druck durch Fehlquoten-Benchmarking für Investitionsentscheidungen deutlich, daß es bei diesem "gesunden" oder "Gesundheits-Wettbewerb" (so bei Daimler und VW) weniger um Gesundheit als um Anwesenheit - auch im Krankheitsfall - geht. Ehrlicherweise nennt sich das Opel-Konzept entsprechend "Anwesenheitsverbesserungsprogramm" (AVP). Wesentlich unkomplizierter ist es da für kleine und mittlere Unternehmen, die ihre Beschäftigten direkt dem Druck des Kunden aussetzen oder auch in den Unternehmen des sogenannten Gesundheitswesens (z.B. Krankenhäusern), in denen den dort Beschäftigten suggeriert wird, ihre Krankheit gehe unmittelbar "auf Kosten der Patienten" geht.

Wo der Bogen des Belegschaftsabbaus und der Arbeitsverdichtung überspannt wird, steigen die Fehlquoten durchaus - allem Druck zum Trotz. Dies ist in einzelnen Bereichen der Automobilindustrie aktuell der Fall. Die Anfang Oktober 98 bei Opel Bochum stattgefundene Arbeitsniederlegung mit der Forderung nach Neueinstellungen war eine Folge drastischer Arbeitsverdichtung an den Montagebändern und eines nicht ersetzten Krankenstandes bei 10 Prozent - gerade um Druck zur Arbeit auch trotz Erkrankungen zu erzeugen. Bei Daimler-Chrysler in Bremen herrschen ähnliche Bedingungen, hier ist aktuell von Krankenständen zwischen 8 und 20 Prozent die Rede. Auch hier kam es Mitte November zu begrenzten Arbeitsniederlegungen mit der Forderung nach unbefristeten Einstellungen - zwecks Arbeitsentdichtung und um die angehäuften Überstunden abfeiern zu können. In Bremen hat sich seit der Einführung von Rückkehrgesprächen die Krankheitsdauer verlängert, wobei nicht zu klären ist, wie groß der Einfluß der unabhängig von der Krankheitsdauer anstehenden Rückkehrgespräche und derjenige von verschleppten Erkrankungen ist.

Es spricht zudem vieles dafür, daß die KollegInnen Strategien entwickelt haben, den durch Rückkehrgespräche angestrebten Druck zur Anwesenheit zu umgehen bzw. mit ihren Erkrankungen "just-in-time" umzugehen. Genau diese "Lücken im System" sollen nun geschlossen werden. Denn wie anders soll es erklärt werden, wenn das Management bei Opel Bochum mit dem Hinweis auf den "Verdacht des Mißbrauchs" anweist, alle Beschäftigten an die Fertigungsdirektion zu melden, die wiederholt kurz nach dem 9-Monats-Zeitraum erkranken, der die Krankheits-Akte wieder auf den Nullstand der in Bochum "Siedler-Programm" genannten Rückkehrgespräche setzt?

Aber auch ohne das Geschick der Beschäftigten gibt es Probleme mit den Konzepten der standardisierten und gestuften Rückkehrgespräche, und sie gehen von den Meistern aus, die sich oft zu den Rückkehrgesprächen gezwungen fühlen und die angesichts des Personalabbaus Probleme haben, ihr vorgeschriebenes Programm zu erfüllen. So gibt es in Bremen die vom Opel-Modell abweichende Regelung, daß die Stufung der Beschäftigten bei der zweiten Erkrankung innerhalb von 6 Monaten (bei Opel 9) nicht automatisch erfolgt, sondern dem Meister überlassen wird. Die KollegInnen befürchteten den berüchtigten "Nasen-Faktor", der dazu führt, daß nur die Lieblinge des Meisters von einem Gespräch mit Abteilungs- oder Personalleitung verschont bleiben. Dem Vernehmen nach führen so zwar die Meister die Rückkehrgespräche der ersten Stufe pflichtgemäß durch, doch kaum jene der höheren Stufen. Der zu vermutende Hintergrund ist die extrem dünne "Personaldecke" - und die Meister brauchen momentan "jeden Mann", auch den unliebsamen. Bei Opel Bochum mißtraut das Management scheinbar auch dieser Pflichterfüllung durch die Meister, denn der Vorstoß, ab sofort die Personalgespräche (Stufe 3) laut einem internen Papier "gut sichtbar ... zur besseren Visualisierung der Siedleraktivitäten" durchzuführen, ist vom Personalleiter erst nach Protesten zurückgenommen worden.

Einen anderen Fokus zur Senkung der Kosten krankheitsbedingter Abwesenheit stellen die Arbeitsunfälle dar. Hier wird jeder Tag Arbeitsunfähigkeit durch die Zahlungen an die Berufsgenossenschaft richtig teuer. Entsprechend gibt es Prämien und Wettbewerbe zur Senkung von Arbeitsunfällen, z.B. bei Daimler-Chrysler in Bremen und angestrebt auch in Düsseldorf. Die mehr oder minder latente Gefahr dieser Maßnahmen ist der Druck zur Nichtmeldung von Arbeitsunfällen und zur Verkürzung der Abwesenheitsdauer nach Arbeitsunfällen. Dennoch steigen Wege- und Arbeitsunfälle z.B. in Bremen in auffälliger Weise seit der Einführung von Rückkehrgesprächen (Unfallhäufigkeit um 10 Prozent und Unfallschwere um 13 Prozent). Das Management führt dies darauf zurück, daß die Beschäftigten eine Unfallmeldung mißbrauchten, weil Arbeitsunfälle von der Höherstufung im Rückkehrgespräch ausgeschlossen sind. Daher werden nun bei Arbeitsunfällen gesonderte und in der entsprechenden Betriebsvereinbarung nicht vorgesehene Gespräche geführt. Es bleibt offen, ob durch diese (indirekte) Betrugsunterstellung nun auch bei Arbeitsunfällen etwa vom unterlassenen Arbeits- und Gesundheitsschutz oder der erhöhten Unfallgefahr durch kranke oder übermüdete KollegInnen abgelenkt werden soll.

Aus Sicht des Managements sind diese Konzepte also durchaus noch nicht perfekt, und die "Anwesenheit im Krankheitsfall" scheint noch längst nicht hoch genug. Dabei haben sinkende Krankenstände direkte und fatale Auswirkungen, denn sowohl die krankheitsbedingte Kündigung verschlissener KollegInnen mit unbefristeten Verträgen als auch Konzepte gegenüber "auffälligen Beschäftigten" sind an den jeweiligen betrieblichen Durchschnitt gekoppelt. Immer feinere statistische Auswertungen sollen daher helfen, "auffälliges Krankheitsverhalten" zu erfassen und die "Schlupflöcher" der Konzepte zu schließen.

Der Druck steigt aber auch "von unten" und bekräftigt die These vom abzusehenden Ende der Auspreßbarkeit (Wompel in express 10/98). So hat der IG Metall-Vertrauenskörper in Bremen eine Forderung an den Betriebsrat verabschiedet, die entsprechende "Betriebsvereinbarung zur Verbesserung der Anwesenheit und Gesundheitsförderung" zu kündigen. Dies ist zwar erst zum Ende des Jahres 2000 möglich, doch kann dieser Aufruf dazu beitragen, ähnliche Betriebsvereinbarungen zu verhindern. Als Mittel zur Schwächung des Drucks und der Betrugsunterstellung gegenüber willkürlich durchgeführten Gesprächen haben sich solche Vereinbarungen bislang disqualifiziert, zumal sie zur Standortsicherung und Kostensenkung beitragen sollen. Als Beitrag zur betrieblichen Gesundheitsförderung ohnehin: rascher Verschleiß und rascher, befristeter Ersatz bestimmen die Personalpolitik der Unternehmen - der Arbeitsmarkt gibt es her.