letzte Änderung am 05. März 2003 | |
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Im Krankheitsfall wird bislang, von Ausnahmen abgesehen, noch keiner gefragt, wie er gelebt oder gearbeitet hat, was er sich und seiner Gesundheit zugemutet hat, wie es zu seiner Krankheit kommen konnte und wer die Schuld daran trägt. Die Selbstverantwortung in der Haftungsfrage wird in diesem unseren Gesundheitssystem, das eigentlich ein Krankheitsbewältigungssystem darstellt - im Unterschied zur Dritten Welt - stark relativiert bzw. sogar weitgehend ausgeblendet. Allerdings zeichnet sich hier eine Trendwende ab. Im Rahmen der derzeitigen Debatte um die Reorganisation der Sozialsysteme ist dieser Aspekt immer stärker ins Zentrum gerückt.
Welche Zumutungen und welche Chancen kommen hier auf die Beschäftigten zu, wie sieht es dabei mit der "Verteilungsgerechtigkeit" von Gesundheitschancen und risiken aus? Wie die betriebsnahen Systeme der sozialen Sicherung (Krankenkassen, Unfallversicherung, Arbeitsschutz usw.) und ihre präventiven Ansätze in den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen des 19. Jahrhundert entstanden sind, wie sie fortan tradiert und zugleich verändert wurden (Kaiserzeit, Weimarer Republik, Nationalsozialismus, DDR und BRD), wie Prävention dabei zwischen wirtschaftlichen und gesundheitlichen Interessen verortet wurde, welche jeweiligen ideologischen Konzepte dabei eine wichtige Rolle gespielt haben (z.B. Taylorismus, Gesundheitsführung im Nationalsozialismus) und schließlich welche Kontinuitäten und Brüche dabei heraufscheinen, wird in einigen medizinhistorischen Beiträgen im ersten Teil dieses Bandes versucht nachzuzeichnen. Insbesondere die farbigen Arbeitschutzplakate aus der Zeit des Nationalsozialismus illustrieren recht anschaulich die Wende in der Arbeitschutzpolitik in den letzten Kriegsjahren Anfang der 40er Jahre.
In den übrigen Beiträgen wird aus verschiedenen Blickwinkeln erläutert, welche Bruchlinien in den scheinbar konsistenten Präventionskonzepten heute zu beobachten sind, wie Gesundheitsrisiken zwischen Belegschaften "unterschiedlichen Rechts" verteilt werden, nicht zuletzt auch international, und wieso der traditionelle Arbeitsschutz und die dahinter liegenden sozialen Sicherungssysteme derzeit an Grenzen stoßen und folglich dringend einer Veränderung bedürfen. Da ist zum Beispiel die schlichte Tatsache zu registrieren, dass die Zahl zeitlich unbefristeter Vollarbeitsverhältnisse stark rückläufig ist. Eben dies aber war die Form der Arbeitsverträge, die dem Arbeits- und Gesundheitsschutz, der Rentenversicherung und dem gesamten tarifvertraglichen Regelwerk zugrundegelegt worden war. Die schleichende Erosion der Normalarbeitsverhältnisse schreitet immer weiter fort.
Es ist in den letzten zehn Jahren parallel zu dieser Entwicklung eine immer größer werdende neue Schicht von sogenannten "Arbeitskraftunternehmern" entstanden, Menschen, die ihre Arbeitskraft nicht mehr über ein Lohnarbeitsverhältnis vermarkten (können oder wollen), sondern die als formal Selbständige für andere Aufträge übernehmen und ausführen, derzeit unter der Wortschöpfung "Ich-AG" seitens der Arbeitsämter propagiert. Dabei verfügen sie aber nicht wie traditionell wirtschaftlich selbständige Unternehmer über ein nennenswertes Betriebskapital oder Produktionsmittel. Ihr einziger "Besitz" sind ihre Arbeitskraft, ihre Qualifikation, ihr Know-how. Jenseits von Lohnarbeitsverhältnissen müssen sie zwangsläufig auch ganz selbständig als Private für ihre Kranken-, Unfall- und Alterssicherung sorgen. Gesundheit ist für diese Gruppe ein überlebenswichtiges Gut, Krankheit folglich eine viel größere existenzielle Bedrohung als für "gewöhnliche" abhängig Arbeitende. Ein Gesundheitswesen in Form eines "Reparaturbetriebes" greift hier zu kurz, Krankheitsvermeidung bzw. Förderung der Gesundheit sind für diese zwangsweise eigenverantwortlichen Existenzen angemessenere Ziele, die jedoch nur schwer mit ihrer von Marginalisierung bedrohten Lebensweise vereinbar sind.
Aber auch für die Kernbelegschaften in den großen Unternehmen verändert sich vieles. Zumindest in manchen Branchen sind Subjektivität, Kreativität und Motivation heute in weitaus größerem Maße als früher für den wirtschaftlichen Erfolg der Unternehmen von Bedeutung. Das bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das betriebliche Personalmanagement wie auch auf Arbeitsschutz und Gesundheitswesen: Notwendig wird eine neue Arbeitskultur, die auf die Subjektivität und Menschenwürde der einzelnen Beschäftigten Rücksicht nimmt zumindest auf einer symbolischen Ebene, in Umgangsformen und Führungsmethoden. Für den Arbeitsschutz bedeutet das, er muss die zu schützenden "Objekte" seines Handelns nunmehr als eigensinnige (und mitunter schwer zu motivierende) "Subjekte" wahrnehmen und ansprechen. Sollen doch die Beschäftigten am Arbeitsplatz nicht mehr nur vor Lärm, Hitze/Kälte, Schadstoffen, Unfällen, und sonstigen krankmachenden Arbeitsumgebungsbedingungen geschützt werden: damit sie sich am Arbeitsplatz wohlfühlen und ihre Motivation und Leistungsbereitschaft im Interesse der Unternehmensziele optimal zum Einsatz bringen, ist vielmehr ein Arbeitsklima nötig, das den Einzelnen Spielraum zur Entfaltung ihrer Individualität zugesteht, Über- und Unterforderungen vermeidet und Kränkungen durch Vorgesetzte und Kollegen nach Möglichkeit verhindert. Ein solches "Tatkraft motivierendes-Rund-um-Wohlfühl-Management" ist nicht ohne und erst recht nicht gegen, sondern nur mit Beteiligung der Beschäftigten selbst erreichbar. Auch dies erfordert von den hauptamtlichen Arbeitsschützern ein grundlegendes Umdenken.
Die vorliegende Dokumentation liefert interessantes Material für eine historische Relativierung der momentan stattfindenden Präventionsdebatte. Der Druck des Buches wurde von der gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Stiftung (Düsseldorf) unterstützt.
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