letzte Änderung am 22. Okt. 2002 | |
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Die Thesen bieten eine inhaltliche Diskussionsgrundlage für die Arbeit in den Foren und Arbeitsgruppen auf der Konferenz. Die Debatte auf der Konferenz soll dazu beitragen, diese Thesen zu überarbeiten und weiterzuentwickeln, um eine Grundlage für die weitere Arbeit in der IG Metall zu schaffen.
Erwerbsarbeit ist nicht nur eine Quelle von Einkommen, sondern auch ein wichtiges Feld, um berufliche Interessen, arbeitsinhaltliche Ansprüche und soziale Bedürfnisse zu verwirklichen. Deshalb zählt die Gestaltung der Arbeit zu den gewerkschaftlichen Kernaufgaben. In der IG Metall wird über ein Leitbild von "guter Arbeit" diskutiert. Zu "guter Arbeit" gehören nicht nur Entgeltbedingungen und Zugang zu Bildung und Qualifikation, sondern auch Arbeitszeitgestaltung, Schutz vor Leistungsüberforderung und ein nachhaltiger Umgang mit der menschlichen Leistungsfähigkeit. Nachhaltig sind Bedingungen dann, wenn sie es erlauben, Leistungsfähigkeit und Gesundheit der Einzelnen sowie Teilnahme am sozialen Leben über das gesamte Arbeitsleben zu erhalten. "Gute Arbeit" schließt deshalb auch einen ganzheitlichen, präventiv und beteiligungsorientierten Arbeits- und Gesundheitsschutz ein.
Daran hat sich auch eine Definition von Zumutbarkeit bei der Arbeitsgestaltung zu orientieren.
Die Bedingungen für die Realisierung von "guter Arbeit" sind in den letzten Jahren stark unter Druck geraten: Leistungsintensivierung, Arbeiten ohne Ende und in einigen Bereichen auch ein arbeitspolitischer Rollback zurück zu monotonen, gesundheitsschädigenden Arbeitsbedingungen. Arbeitsbedingte Gesundheitsrisiken, nicht zuletzt durch zunehmende psychische Belastungen, erfordern neue gewerkschaftliche Antworten. "Gute Arbeit" und menschengerechte Arbeitsgestaltung müssen von der IG Metall als "konkrete Utopie" wiedergewonnen und in umsetzbare Handlungskonzepte für die betriebliche Alltagsgestaltung übersetzt und konkretisiert werden.
Die arbeitspolitische Gestaltungsaufgabe "gute Arbeit" bzw. menschengerechter Arbeit trifft auf betriebliche Handlungsbedingungen, die durch eine Unternehmenspolitik der "kurzen Fristen", durch Standortkonkurrenz und Einbindung in "Wettbewerbsbündnisse" geprägt sind. Markt und Wettbewerbsfähigkeit werden zum alleinigen Maßstab für die Entgelt-, Leistungs- und Arbeitsbedingungen erhoben. Maßstab von "guter Arbeit" können aber nicht die Bedürfnisse des Marktes, sondern müssen auch die Leistungsfähigkeit und die Zeitbedürfnisse sowie das Wohlbefinden der Menschen über ein gesamtes Arbeitsleben sein.
Es geht um den Vorrang sozialer Nachhaltigkeit gegenüber kurzsichtiger Betriebswirtschaft. Dies erfordert Gestaltungskompetenz und Kooperationsbereitschaft wo möglich, aber auch konfliktbereite Durchsetzungsstrategien gegen Marktdiktat und Kurzfristökonomie wo nötig.
Das auf der europäischen Rechtsetzung beruhende neue deutsche Arbeitsschutzrecht bietet für menschengerechte Arbeitsgestaltung und Stärkung der Prävention eine grundlegend verbesserte Basis und wirkungsvolle Instrumente. Dies, obwohl die Vorgaben der EU nicht vollständig in deutsches Recht umgesetzt und diese Instrumente in der betrieblichen Praxis noch nicht ausgeschöpft wurden. Diese mangelnde Nutzung hängt sicherlich mit dem überbordenden Problemdruck und erschwerten Handlungsbedingungen in den Betrieben zusammen. Arbeitsplatzabbau, Reaktion auf permanente Reorganisationsprozesse und ähnliche Herausforderungen führen mitunter zu einer Überforderung der Interessenvertretungen.
Es fehlt allerdings auch seit der Verabschiedung des Arbeitsschutzgesetzes 1996 eine wirkungsvolle staatliche Kontrolle und Unterstützung der Umsetzung des neuen Arbeitsschutzrechts. Stattdessen wurde vielfach auf eine weitere Deregulierung von Schutzrechten und Einschränkung von Ressourcen gesetzt. Die vom Bundesarbeitsministerium gestartete "Initiative für eine neue Qualität der Arbeit" eröffnet die Chance, die Prävention arbeitsbedingter Gesundheitsrisiken (insbesondere auch durch psychische Belastungen) als zentrale Aufgabe anzupacken und zu einer besseren Koordinierung von Umsetzungsstrategien beizutragen. Ein Kriterium für den Erfolg wird sein, ob hierdurch die Chancen für eine notwendige neue Humanisierungsoffensive in den Betrieben verbessert werden können.
Eine traditionelle Arbeitssicherheitspolitik ("Reparaturmodell"), die ausschließlich (wenngleich sehr wirksam) auf eine Unfallverhütung orientiert, ist überholt. Der Auftrag des modernen Arbeits- und Gesundheitsschutzes richtet sich auf einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess hin zu einer menschengerechten Arbeitsgestaltung. Er ist deshalb auch nur als Querschnittsaufgabe wahrnehmbar ein bislang nicht erreichtes Ziel. Arbeits- und Gesundheitsschutz muss deshalb in die zentralen betriebspolitischen Handlungsfelder integriert werden, um die Problemlösungskompetenz unter Beweis zu stellen. So könnte bei jeder im Betrieb zu lösenden Aufgabenstellung geprüft werden, ob die neuen Instrumente des Arbeitsschutzes (z.B. Gefährdungsanalyse und systematische Maßnahmenentwicklung) die Lösung erleichtern und ein höheres Niveau der Qualität der Arbeitsbedingungen und der Qualität der Arbeit sichern helfen.
Die Nutzung der Mitbestimmung im Arbeits- und Gesundheitsschutz (auf der Basis des § 87.1.7 BetrVG) gibt dem Betriebsrat ein Initiativrecht und damit auch erweiterte Handlungsmöglichkeiten. Dies verlangt von ihm aber auch, neue Kooperationschancen im Betrieb auszuloten, die über die bisherigen Akteure im Arbeitsschutz wie Fachkräfte für Arbeitssicherheit, Betriebsärzte usw. hinaus auch die Zusammenarbeit mit den Zuständigen für die Weiterbildung und Qualifizierung, der Qualitätssicherung, der Personalentwicklung usw. einschließen.
Arbeits- und Gesundheitsschutz muss in die Organisations- und Entwicklungsprozesse von Unternehmen integriert werden. Dies setzt erst einmal die Überprüfung der Wirksamkeit der Organisation des betrieblichen Arbeitsschutzes voraus, wie es auch das Arbeitsschutzgesetz verlangt. Dies setzt aber auch eine autonome Positionsbestimmung der Interessenvertretung voraus. Die Aufgabe des Betriebsrats besteht darin, sich der gesundheitlichen, sozialen und arbeitsinhaltlichen Interessen der Beschäftigten zu vergewissern und auf dieser Basis ein Arbeitsprogramm für eine solche Gestaltung menschengerechter Arbeit zu entwickeln. Darüber hinaus kann dann eine Verankerung von Gesundheit und Sicherheit als Unternehmensziel und als Führungsaufgabe bei einer solchen Integration in die Unternehmensstrukturen helfen (Arbeitsschutzmanagementsysteme, Sozialstandards usw.).
In den Betrieben ist ein wachsender Leistungs- und Arbeitsdruck allgegenwärtig. Dies gilt in den traditionellen Produktionsbereichen wie bei den zunehmenden Dienstleistungstätigkeiten. Psychische Belastungen als Ursache arbeitsbedingter Erkrankungen haben ein neues Gewicht gewonnen. Erstmals bietet das Instrumentarium des neuen Arbeitsschutzrechts die umfassende Möglichkeit, solche psychischen Belastungen zu ermitteln und entsprechende Präventionsmaßnahmen einzuleiten. Neu ist ferner: Auf diesem Wege kann die Gestaltung der Arbeitsorganisation wie auch die Personalbemessung beeinflusst werden.
Arbeitsgestaltung sollte nicht nur Schutz vor physischer und psychischer Überforderung, sondern auch ergonomische Mindeststandards und persönlichkeitsfördernde Arbeitsinhalte einschließen. Dies könnte über Arbeitsanreicherung, Aufgabenintegration und mehr Autonomie in der Arbeit, die beispielsweise durch innovative und partizipative Gruppenarbeitskonzepte befördert werden, erreicht werden. Dabei müssen gesundheitsgerechte Eckpunkte gesichert sein.
Gleichzeitig muss "gute Arbeit" aber auch als tarifpolitische Aufgabe so konkretisiert werden, dass der Entgrenzung von Leistung und Arbeitszeit Einhalt geboten werden kann und die Rechte der einzelnen Beschäftigten sowie die kollektiven Mitbestimmungsrechte gestärkt werden. Dies gilt gerade mit Blick auf die abgeforderte Leistung. Der Tarifvertrag soll einen Rahmen bieten, der vor Leistungsüberforderung schützt. Er soll allen Beschäftigten einen Anspruch auf faire Leistungsvereinbarungen und den Betriebsräten die Mitbestimmung sichern.
Prävention statt Kompensation von physischen und psychischen Belastungen ist ein wichtiger Grundsatz bei der Weiterentwicklung der Tarifverträge. In einem Teil der Entgeltbestimmungen in Tarifverträgen wird bis heute die Kompensation von gesundheitlichen Risiken und Gefährdungen (z.B. Belastungszulagen, Abgeltung von Umgebungseinflüssen in analytischen Systemen) geregelt. Solche Tarifbestimmungen zur Abgeltung von erhöhten Belastungen stehen heute in einem Normenkonflikt mit den Anforderungen des Arbeitsschutzgesetzes, das den Abbau der Gefährdungen verlangt. Gefährdungsbeurteilungen können die Grundlage in den Betrieben schaffen, diesen Präventionsvorrang durchzusetzen. Es gibt heute schon Tarifbestimmungen, die diesem Gedanken der Prävention folgen. Für die Tarifverträge der Zukunft wird es eine Anforderung an die IG Metall sein, solche Elemente zu stärken.
Gleichzeitig zum flächendeckend gewachsenen Arbeitsdruck haben in vielen Bereichen zusätzlich überlange Arbeitszeiten und besonders belastende Arbeitszeitlagen wie Schicht- und Wochenendarbeit zugenommen. Da in solchen Bereichen vor allem psychische Belastungen feststellbar sind, ist Arbeitszeitpolitik auch aus einer gesundheitspolitischen Sicht gefordert. Die Arbeitszeit muss erfasst und dokumentiert werden, und sie muss planbar und beeinflussbar sein. Dem Arbeiten ohne Ende müssen Grenzen gesetzt und die tatsächlichen Arbeitszeiten müssen wieder stärker mit den tariflichen in Übereinstimmung gebracht werden, um eine neue Perspektive für Arbeitszeitverkürzungen zu eröffnen. Dies ist vor allem auch eine betriebspolitische Herausforderung. In der Arbeitszeitdebatte sollte auch eine Reduzierung von Arbeitszeiten für besonders belastete Beschäftigtengruppen (beispielsweise in Schichtarbeit) geprüft werden.
Bei der Gestaltung von Arbeitszeitmodellen ist der arbeitswissenschaftliche Grundsatz eines möglichst "belastungsnahen Ausgleichs" im Gegensatz zum Ansparen von Zeitguthaben über lange Zeiträume - vorrangig zu berücksichtigen. Dieser Grundsatz muss auch bei Kontenregelungen und bei der Schichtplangestaltung beachtet werden.
Arbeitszeitgestaltung an der Schnittstelle von Arbeits- und Lebenszeit gewinnt eine ganz neue Bedeutung für die Qualität der Arbeit wie für die Lebensqualität und ist deshalb ein Kernbereich der Gestaltung von "guter Arbeit".
Neuer Problemdruck und Handlungsbedarf entstehen auch durch die Zunahme von prekären Arbeitsverhältnissen. Die Zahl der Beschäftigten, die nur mit Zeitverträgen oder in Leiharbeit tätig sind, droht - auch gefördert durch die staatliche Arbeitsmarktpolitik - weiter anzuwachsen. In diesem Bereich ballen sich alle gesundheitlichen Belastungen, so dass das prekäre Beschäftigungsverhältnis selbst schon zu einem Gesundheitsrisiko wird. Da außerdem die arbeitsmedizinischen Vorsorgesysteme und andere Arbeitsschutzmaßnahmen ebenso wie die Präventionskonzepte der Berufsgenossenschaften sich an stabilen, langfristig angelegten Arbeitsverhältnissen orientieren, fallen prekär Beschäftigte bisher weitgehend aus diesem Schutz heraus.
Dies hat auch negative Auswirkungen auf die Arbeitsstandards der "Stammbelegschaften", die massiv unter Druck gesetzt werden. Tarif- und betriebspolitische Konzepte einer "guten Arbeit" werden auf diese "Spaltung" Antworten finden und den Schutz für prekär Beschäftigte als aktuelle Aufgabe einschließen müssen. Auch in der Sozialpolitik steht der Kampf um eine verbesserte soziale Sicherung für prekär Beschäftigte auf der Tagesordnung.
Die jetzt aktualisierte Herausforderung einer menschengerechten Arbeitsgestaltung verlangt eine neue Art des Arbeitens für die Interessenvertretung. In der traditionellen Arbeitssicherheitspolitik wurde die Zuständigkeit vielfach an "Beauftragte" und "Fachkräfte" ausgelagert. Qualität der Arbeit und ganzheitlicher Arbeits- und Gesundheitsschutz ist aber eine Querschnittsaufgabe, die eine neue Arbeitsweise des Betriebsrats verlangt. Dies gilt gleichermaßen für die Konzern- und Euro-Betriebsräte und die Schwerpunkte der Branchenkoordination.
Die Zielsetzung, einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess menschengerechter Arbeitsgestaltung einzuleiten, ist sehr anspruchsvoll. Es kommt deshalb darauf an, an konkreten betrieblichen Problemen einen praktischen Einstieg zu finden und dann realisierbare Ziele zu bestimmen. Dabei müssen Schwerpunkte gesetzt werden ("weniger ist hier mehr").
Die Schwierigkeiten und die Komplexität der Aufgaben rufen bei vielen den Wunsch hervor, die Lösung dieser Probleme an externe Experten und Beratungseinrichtungen zu delegieren. Dabei ist klar: Ohne Qualifizierung und hohe fachliche Kompetenz werden die Aufgaben nicht zu lösen sein.
Voraussetzung für ein betriebspolitisches Konzept der menschengerechten Arbeitsgestaltung ist deshalb eine eindeutige Klärung der Rollenverteilung zwischen Betriebsrat, Gewerkschaft, Beratern und den Beschäftigten:
Die politische Steuerung, das heißt die Initiativ- und Koordinierungsfunktion, ist und bleibt eine Aufgabe der Gewerkschaft bzw. ihrer Verantwortlichen vor Ort. Die (externen) Experten werden das notwendige Fachwissen bereitstellen. Ihnen fällt also eine sehr wichtige Beratungsrolle zu, mehr aber auch nicht. Der Betriebsrat kann dieses aufnehmen und umsetzen. Der Betriebsrat hat gestützt durch die Wahrnehmung seiner Mitbestimmungsrechte eine zentrale Rolle im Gestaltungsprozess. Wichtig ist dabei, dass die Beschäftigten als Experten in eigener Sache - sowohl was die Erfahrungen der Belastungen als auch was das Wissen über Lösungsmöglichkeiten angeht - einbezogen werden. Bei dieser Sensibilisierung und Einbeziehung der Beschäftigten können Vertrauensleute eine wichtige Rolle einnehmen.
Neue Handlungsmöglichkeiten ergeben sich auch durch den erweiterten Präventionsauftrag für die Berufsgenossenschaften und die Möglichkeiten arbeitsbezogener Gesundheitsförderung für die Krankenversicherungen. Die Selbstverwaltungen der Berufsgenossenschaften wie der Krankenversicherungen sind deshalb in der Pflicht, hierfür konkrete Strategien und Programme einzufordern.
In der Selbstverwaltung von Berufsgenossenschaften und Krankenversicherung sind viele Kolleginnen und Kollegen aus der betrieblichen Interessenvertretung engagiert. Dies eröffnet die Chance, die Tätigkeit der Berufsgenossenschaften und Krankenversicherungen auf die aus der betrieblichen Erfahrung resultierenden Gefährdungsschwerpunkte und Aufgaben zu orientieren.
Der sozialpolitische Effekt einer wirksamen Prävention in der Arbeitswelt ist bedeutsam: Gute Arbeit zu realisieren kann zu einer mittel- und langfristigen finanziellen Entlastung der Sozialsysteme beitragen, da arbeitsbedingten Erkrankungen an ihrem Entstehungsort vorgebeugt wird.
Aus alldem folgt: Die IG Metall muss sich fit machenfür diese neue Aufgabenstellung fit machen! (Baustelle!)
In der IG Metall steht die Debatte auf der Tagesordnung, wie Arbeitspolitik mit dem Schwerpunkt "gute Arbeit" und menschengerechte Arbeitsgestaltung (wieder) als Politik- und Handlungsfeld aufgewertet werden kann. Für die IG Metall bedeutet dies eine Chance, weil wichtige Probleme der betrieblichen Alltagsgestaltung ernst genommen und für die Interessenvertretung aufgegriffen werden eine Chance sowohl für eine stärkere Mitgliederbindung als auch für neue Mitgliedergewinnung.
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