letzte Änderung am 21. Juni 2002

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Bildungsdebatte im Juni 2002 - der Widerstand wird breiter

Vorbemerkung

Mit dieser Zusammenfassung versucht LabourNet Germany all jenen eine - hoffentlich nützliche - Hilfestellung zu geben, die die Notwendigkeit empfinden, sich an der gegenwärtig praktisch laufenden Auseinandersetzung um eine Reform des Bildungswesen (gemäss den Erfordernissen der Warenwirtschaft) zu beteiligen.

Oft genug allerdings hat die gewerkschaftliche Linke die Fragen der Schul- und auch der Berufs- und Weiterbildung, die tatsächlich immer wichtiger werden, dem "Mainstream" überlassen. Das sollte nicht so bleiben.

Indem wir hiermit eine Reihe von Texten - ultrakurz kommentiert - zusammenstellen, die zu wesentlichen Fragebereichen des Gesamtkomplexes kritische Stellungnahmen und Widerstandsaktivitäten verschiedenster politischer Strömungen widergeben, hoffen wir

ein nützliches Werkzeug zum Einstieg in die Thematik anzubieten. Kommentare und weitere Vorschläge werden gerne entgegengenommen, da wir dieses Thema, aber auch diese Art Dienstleistung fortsetzen möchten.

Helmut Weiss


Was Regierungen in Bund und Ländern sowie die Unternehmerverbände und alle sonstigen Worthülsenproduzenten in den letzten Wochen zur Reform des Bildungswesens von sich gaben, führte selbst die FAZ zu dem Kommentar: "...Unternehmerverbände verwechseln die Schule mit einem Trainingslager"(FAZ 9.2.02)

Was Unternehmer wünschen, wird in zahllosen teilprivaten kommunalen Projekten (bei denen sich in der Regel noch der letzte Dorfbürgermeister modern geben möchte) so realisiert: "Passgenaue Ausbildung".

Ansonsten haben auch einige bereits begonnen, mit dem Thema wieder Wahlkampf zu machen - so die bayerische Kultusministerin Hohlmeier - nomen est omen. In der "Süddeutschen Zeitung" vom 17.6 sagt die ehrenwerte Dame: "Wir brauchen keine falsch verstandene Behüte-Pädagogik, sondern ein modernes Leistungsverständnis, das bedeutet: Kinder zu fördern und zu fordern."

Sofort verwertbare Arbeitskraft wird gefordert - keine betrieblichen Zeitverluste mehr durch Ausbilden, Anlernen, Einarbeiten. Die Zahl der Lehrstellen wird demzufolge geringer, Naturwissenschaft und Technologie in den Rang der Religion erhoben, Elitedebatten und Strafmassnahmen werden vervielfacht. Auf der anderen Seite wird nicht nur die Bildung endgültig und direkt der Profitwirtschaft unterworfen, sondern soll auch - ebenfalls:noch direkter - zum je nationalen Wettbewerbsfaktor werden.

Es war im wesentlichen die Veröffentlichung der PISA-Studie, die die Bildungsdebatte wieder belebt bzw beschleunigt hat. Unter http://www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/pdfs/ergebnisse.pdf - ist zu finden, was das Max Planck Institut für Bildungsforschung von der PISA Studie zugänglich macht.

Die Studie hat aber mehr bewirkt als das, was sie auch sollte: Sie setzte eine weitere Reform auf die praktische Tagesordnung. Handlungsbedarf wird allerorten signalisiert - zur selben Zeit da der EU Ministerrat in Sevilla zum Thema Privatisierung der Bildung tagt.

Dass es bei der Privatisierungsoffensive um bedeutende wirtschaftliche Grössenordnungen geht, zeigt die Dokumentation des französischen "Observatoriums der Transnationalen Konzerne". Ein Markt von 2 Milliarden Euros, bisher zu 80% in öffentlicher Hand - welche Strategien benutzen Konzerne um an diese Masse heranzukommen ? Die (englischssprachige) Dokumentation: http://www.transnationale.org/dossiers/information/education.htm

Und jene Konzerne, die im Geschäft mit Bildung, Kommunikation etc pp stehen, sind dabei besonders aktiv. Ausgerechnet CHE heisst die Aktionstruppe des besonders aktiven Bertelsmann-Konzerns. Centrum für Hochschulentwicklung - und dessen Bedeutung und Aktivität hat der Osnabrücker Professor Bennhold in einem Vortrag bei der Heinrich Böll Stiftung unter die Lupe genommen - die GEW Duisburg hat den Text auf ihrer Sonderseite zur "Selbstständigen Schule": http://gew-duisburg.net/s_s_site/bennhold.html

Nun sollte nicht so getan werden, als wäre die PISA-Studie eine sozusagen neutrale Arbeit, auf deren Grundlage bedenkenlos argumentiert werden könnte. Erstens gibt es keine neutralen Arbeiten und zweitens ist PISA 1 (zwei weitere sollen folgen) eine langfristige Terminarbeit im Auftrag der Regierungen der OECD Staaten.

"Aus einer ideologiekritischen Position heraus ist die Definition der Kompetenzfrage in der PISA-Studie unbefriedigend und ein Ansatzpunkt der Kritik". Heisst es in einem Artikel von Ulrich Klemm in der "Graswurzelrevolution" 267: http://www.graswurzel.net/267/pisa.shtml

Aber dennoch zeigt PISA auch einiges auf, um noch einmal Klemms Artikel zu zitieren: "Hier zeigt PISA, dass in keinem anderen Industrieland die soziale Herkunft so entscheidend für den Schulerfolg ist wie in Deutschland".

Wenn Finnland besonders gut abgeschnitten hat, mag das für Konkurrenzpolitiker ein Thema sein, wer im Netz sucht (auch hier kann GEW Duisburg als Ausgangspunkt genutzt werden) wird auch genügend Debatten um das dortige System finden. Dass der wesentliche Grund für das bessere Abschneiden aber in Strukturen liegt, die hierzulande in der Regel als utopisch oder leistungsfeindlich (oder beides) abgelehnt werden, ist ziemlich plausibel. Einheitsschule bis 16, kostenlos, kein Notenterror.

Solche Argumente werden in der BRD ohnehin gerne verschwiegen - in Wirklichkeit, wie der Gelsenkirchener Bildungsaktivist Rolf Jüngermann nachweist, werden von der deutschen PISA Abteilung (Max Planck) die Ergebnisse der internationalen Studie (die nicht gedruckt vorliegt) sogar verfälscht. "Der Internationale PISA-Report stellt in bemerkenswert klarer Form in Wort und Bild einen deutlichen Zusammenhang her zwischen der gegliederten deutschen Schulstruktur der Sekundarstufe I und der verheerenden sozialen Ungerechtigkeit des deutschen Schulwesens", schrieb Jüngermann in seinem Artikel "PISA-International - die ganze Wahrheit, bitte!": http://www.bipomat.de/pisa-international/pisa-international.html - dem er auch noch ein ganz knappe Erhebung über die Wirklichkeit an Gelsenkirchener Schulen für Migrantenkinder beifügt: Apartheid im Schulwesen einer Ruhrgebietsstadt - das Beispiel Gelsenkirchen. http://www.bipomat.de/texte/apartheid2/apartheid2.html

Innerhalb des Gesamtproblems "Bildungswesen" gibt es eine Reihe gesonderte, besonders wichtige, eklatant problematische Bereiche - der Frage nach der Auswirkung der sozialen Herkunft am nächsten liegend jene nach den unterschiedlichen Bildungsvorstellungen für Schule und Ausbildung der Eltern: "Allerdings wäre es falsch zu vermuten, alle Eltern strebten in ähnlicher Weise für ihre Kinder den höchsten allgemeinbildenden Schulabschluss an. Die Bildungsaspiration von Eltern kovariiert erheblich mit dem Berufs- und Bildungshintergrund der Eltern. Für Kinder aus Arbeiterhaushalten wird das Abitur nur in 25 Prozent der Fälle gewünscht, während Selbstständige und Beamte zu 58 bzw. 65 Prozent dieses Bildungsziel für ihre Kinder vor Augen haben." Schreiben Kai Uwe Schnabel / Knut Schwippert in: Einflüsse sozialer und ethnischer Herkunft beim Übergang in die Sekundarstufe II und den Beruf: http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/Personal/Liesner/Lehre/SoSe02/schnabel-schwippert2000.rtf .

Herkunft und Geschlecht sind und bleiben wesentliche Bestimmungsfaktoren für die Möglichkeiten - was gerade in der Berufsausbildung der Frauen besonders deutlich wird: "Noch problematischer stellt sich die Situation in den neuen Bundesländern dar: 63,7% aller Arbeitslosen sind Frauen, 68% der Arbeitslosen mit einer schulischen Berufsausbildung und 65,4% der Arbeitslosen mit einer betrieblichen Berufsausbildung sind weiblich – d.h. hier sind insgesamt Frauen in allen Bereichen deutlich stärker von Arbeitslosigkeit betroffen" schreiben Faulstich-Wieland/Nyssen in Geschlechterverhältnisse im Bildungssystem – Eine Zwischenbilanz: http://www.erzwiss.unihamburg.de/Personal/Liesner/Lehre/SoSe02/FaulstichWieland-Nyssen.doc - worin deutlich wird, dass Frauen die eine schulische Berufsausbildung machen, besonders schlechte Karten haben.

Eine gute und nützliche Zusammenfassung für alle, die einen systematischen Überblick gewinnen wollen, bietet ein Vortrag der Erziehungswissenschaftlerin Ingrid Lohmann "Anmerkungen über Bildungspolitik", gehalten auf einer Tagung der GEW Hamburg im April 2001, worin es heisst: "Dabei dienen die neuen Humankapitalansätze dazu, der marktwirtschaftlichen Effektivität und Effizienz des Bildungssystems entscheidende Bedeutung für das Wirtschaftswachstum zuzuschreiben" - http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/Personal/Lohmann/Publik/Anm2.htm

Dass es nicht nur darum geht, Bildung zur Ware zu machen, sondern passgenau ausgebildete Arbeitskräfte auch als wichtiger Faktor der Standortkonkurrenz verstanden werden, zeigt sich auch - gerade ? - in den USA. Ein weiterer Artikel von Ingrid Lohmann zur kritischen US-Debatte um das corporate-takeover der Ware Bildung: http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/Personal/Lohmann/corptake.htm .

Ebenfalls bei den ErziehungswissenschaftlerInnen der Uni Hamburg (Dr.Liesner) zwei wichtige klassische Texte, die sehr wohl die Frage der Ökonomisierung von Bildung behandeln, aber vor allem den wichtigen gesellschaftlichen Rahmen und Hintergrund behandeln: Ein Auszug aus Pierre Bourdieus "Die feinen Unterschiede": http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/Personal/Liesner/Lehre/SoSe02/bourdieu1984.rtf und Theodor W. Adornos "Theorie der Halbbildung": http://www.erzwiss.uni-hamburg.de/Personal/Liesner/Lehre/SoSe02/adorno1959.rtf

Ist von Bildungsreform die Rede, fällt - spätestens seit 1964 - immer sehr bald der Begriff "Bildungsökonomie". Die Disziplin Bildungsökonomie gibt bereits durch ihre Anlage einige Grenzen vor, die insbesondere auch bei gewerkschaftlichen Debatten gerne vergessen werden: "Diese Zielsetzung der Bildungsökonomie impliziert zwei Prämissen, die auch ganz deutlich das erkenntnisleitende Interesse dieser Wissenschaftsdiziplin offenlegen: Zum einen wird, obwohl von Bildungsökonomie gesprochen wird, mit einem zur Anpassung von Humankapital verstümmelten Bildungsbegriff operiert; Bildung kommt ausschliesslich in ihrer verzweckten Form als Arbeitskräftequalifizierung - einem Faktor wirtschaftlichen Kalküls - ins Blickfeld. Zum anderen wird Wirtschaftswachstum zur selbstverständlichen Schlüsselgrösse gesellschaftlicher Entwicklung hochstilisiert; implizit wird damit suggeriert, dass nur durch permanente Produktivitätssteigerungen und eine Ausweitung des materiellen Wohlstands die Voraussetzung für glückhafte menschliche Existenz gegeben sei".

So schreibt der österreichische Professor und Berufsbildungsforscher und -praktiker Erich Ribolits in "Bildung als Ware": http://www.gewi.kfunigraz.ac.at/edu/erwachsenenbildung/handouts/Bildung_als_Ware.doc+ribolits&hl=de&lr=lang_de

Auch sein Artikel zur Frage der Weiterbildung als Grundlage für sicherere Arbeitsplätze - ein gerade in Gewerkschaften beliebtes Thema (und unter dem irreführenden Titel "Lebenslanges Lernen" soll es zwanghaft zur Pflicht des Einzelnen gemacht werden) ist ausgesprochen lesenswert: http://www.univie.ac.at/iffgesorg/ifftexte/kont2er.htm

Noch zu einem anderen sehr aktuellen Bereich, zum Fragenkomplex "Ausbildung und neue Medien" hat Ribolits eine Arbeit verfasst "IKT und Mündigkeit", die sich insbesondere der Kurzsichtigkeit der üblichen Politik "hauptsächlich viele Computer an der Schule" widmet und dies in den Zusammenhang mit der Warenbewirtschaftung des Bildungswesen stellt - und mögliche Alternativen andeutet: http://www.agrarpaedak.at/IKT_und_Muendigkeit.pdf .

Auf die Seite der zahlreichen Lehrerprobleme - Kürzungen und Lehrermangel sowie Prekarisierung des Berufs sind ja fast tägliche Pressethemen - geht der Verband der Lehrer an den Berufskollegs in NRW ein - insbesondere die Frage der Arbeitszeit dürfte manchen überraschen - 1839 Jahresstunden: http://www.vlbs.de/dl/bbw2001/heft_7-8-2001.pdf .

Womit - mit den täglich gehandelten Begriffen Kürzungen, Kosten, Mängel - diese kurze, als Einführung gedachte Übersicht, dann auch bei der aktuellen praktischen Politik gelandet wäre: Stichwort Studiengebühren - als ein wesentlicher Schritt zur Abschaffung des Rechtes auf Bildung (wie sie auch bisher immer aussehen mag). Die Studentenproteste haben bereits dazu geführt, dass sich die SPD NRW und auch der Kanzler von der Clement-Regierung auf Abstand begeben haben - öffentlich jedenfalls.

Das "Aktionsbündnis gegen Studiengebühren" allerdings hat bereits vor den NRW Uni-Streiks gegen Studiengebühren in Niedersachsen gegen Gebühren für sogenannte Langzeitstudenten mobil gemacht: "Nach Baden-Württemberg schickt sich Niedersachsen an, das zweite Bundesland zu werden, das Langzeitstudiengebühren einführen wird", heisst es in der entsprechenden Pressemitteilung:
http://www.asta.tu-darmstadt.de/abs/aktivitaeten/niedersachsen/niedersachsen.html . Und dass die Erhebung von Studiengebühren eben SPD-Politik ist und kein NRW Alleingang, wird auch an der Rücktrittsforderung der ABS Studenten an die Bildungsministerin deutlich:
http://www.asta.tu-darmstadt.de/abs/aktivitaeten/bulmahn-ruecktritt.html . Dem stellen die Studenten ihre Dokumentation der Lage der Studenten gegenüber: http://www.asta.tu-darmstadt.de/abs/download/langzeit/langzeit.pdf . Zu Übersicht und Berichten über bisherige Aktionen: http://www.abs-nrw.de/u-aktion-nrw.pdf .

Aber auch in anderen Bereichen gibt es Widerstand und Aktivitäten: "Die DGB-Jugend Hamburg versteht institutionalisierte Bildung als einen umfassenden Begriff, der sich nicht auf die Schule reduzieren lässt. Institutionalisierte Bildung findet neben der Schule auch in den Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, an Hochschulen und im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung statt.

Die DGB-Jugend Hamburg versteht unter Bildung den Prozess des Menschen, sich die Umwelt anzueignen und dabei die eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Bildung hat die Funktion, Menschen diesen Prozess unabhängig vom gesellschaftlichen Status, Geschlecht und Herkunft diesen Prozess zu ermöglichen. Bildung ist somit der individuellen und gesellschaftlichen Emanzipation verpflichtet". Heisst es in dem Antrag 2, der am 14.6.02 auf der Jugendkonferenz der DGB Jugend Hamburg angenommen wurde. Auf dieser Konferenz beschloss die DGB Jugend Hamburg eine ganze Reihe wichtiger Anträge zur Bildungspolitik, die wir hiermit dokumentieren (das Paket der Beschlüsse enthält auch Positionen zur Friedenspolitik und zu den Wahlen).

Schliesslich haben in Hessen am 4.Juni die Landesschülervertretung, DGB Jugend, GEW und IG Metall aus Anlass der Übergabe einer Unterschriftensammlung für die Vermehrung und Verbesserung von Ausbildungsplätzen eine Pressemitteilung zum Stand der Auseinandersetzung in der Lehrstellenfrage veröffentlicht, die wir ebenfalls zur Kenntniss bringen wollen.

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