Laut der Begründung soll die Neuregelung eine konfliktfreie Inanspruchnahme des Rechts auf bezahlte Freistellung von der Arbeit zum Zwecke der Arbeitnehmerweiterbildung fördern. Insgesamt soll mehr Rechtssicherheit für die antragstellenden ArbeitnehmerInnen geschaffen werden.
Die Inanspruchnahme des Rechts auf Bildungsfreistellung soll aber insgesamt nicht erhöht werden. Das ist bereits ein Widerspruch in sich, denn die geringgradige Inanspruchnahme (derzeit unter 1% der Anspruchsberechtigten) beruht gerade auf der Rechtsunsicherheit und dem komplizierten Verfahren. Würde die Rechtssicherheit wirklich erhöht, müsste sich dieses dahingehend auswirken, dass die Inanspruchnahme insgesamt erhöht wird. Wenn dem aber durch Ausgleichsregelungen entgegengewirkt wird, ist die Novellierung schlicht überflüssig.
Bei genauer Betrachtung wird aber nicht mehr Rechtssicherheit erreicht, sondern Rechtsunsicherheit an anderen Stellen geschaffen; im Zusammenwirken mit den Ausgleichsregelungen ist daher eher anzunehmen, dass die geringfügige Inanspruchnahme nicht nur nicht erhöht, sondern eher noch vermindert wird.
§ 1 Abs.2 Satz 2: Auch bisher war die Arbeitnehmerweiterbildung auf die berufliche und politische Arbeitnehmerweiterbildunq sowie deren Verbindung beschränkt. Die Präferenzklausel in Satz 2 hatte eher klarstellende Bedeutung; der daraus von Arbeitgeberseite und einigen Gerichten abgeleitete "Arbeitnehmerbezug" ist vom Bundesarbeitsgericht abgelehnt worden. Umgekehrt diente die Präferenzklausel aber auch zur Begründung des weiten Politikbegriffs in der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Ihre Streichung ist daher materiell-rechtlich wohl eher bedeutungslos, setzt aber ein Signal in die falsche Richtung. Es ist z.B. zu befürchten, dass mit der Streichung der Präferenzklausel dahingehend argumentiert wird, dass nach der Rechtsprechung zulässige Veranstaltungen, die gleichzeitig Schulungen für betriebsverfassungsrechtliche Funktionsträger im Sinne des § 37 Abs. 6 und Abs. 7 BetrVG sind, nicht mehr als Arbeitnehmerweiterbildung angesehen werden dürfen, weil dort insbesondere die Stellung des Arbeitnehmers in Staat, Gesellschaft oder Beruf angesprochen wird. Die insoweit erreichte - insbesondere für gewerkschaftliche Bildungsveranstalter -Rechtssicherheit geht also ein Stück weit verloren.
§ 1 Abs.3 und 4 geben im wesentlichen die höchstrichterliche Rechtsprechung wieder.
§ 3 Abs. 7: Satz 1 ist verfassungsrechtlich bedenklich, wenn dort geregelt wird, dass bei Inanspruchnahme von 10 Prozent im laufenden Kalenderjahr der Anspruch für die übrigen Beschäftigten entfällt. In einem Betrieb mit beispielsweise 10 Beschäftigten würde also nur der erste Anspruchsteller freigestellt werden können; bereits beim zweiten Anspruchsteller entfiele der Freistellungsanspruch. Ein generell für alle Beschäftigten eingeräumter Freistellungsanspruch kann nicht davon abhängig gemacht werden, wie intensiv er genutzt wird. Man stelle sich eine Regelung im Steuerrecht vor, nach der etwa eine Abschreibungsmöglichkeit, die für alle Unternehmen gilt, dann entfallen soll, wenn bereits 10 Prozent sie in Anspruch genommen haben.
Satz 2 ist in noch höherem Maße verfassungsrechtlich bedenklich, wenn dort geregelt wird, dass in Betrieben mit weniger als 10 Beschäftigten überhaupt kein Freistellungsanspruch besteht. Im Kündigungsschutzrecht ist die sog. Kleinbetriebsklausel vom Bundesverfassungsgericht gerade noch als verfassungsgemäß gebilligt worden, wobei den Fachgerichten ( Arbeitsgerichten) eine zweckorientierte Auslegung auferlegt worden ist (beispielsweise gilt sie nicht für konzern- oder unternehmensangehörige Kleinbetriebe, auch wenn diese jeweils zahlenmäßig darunter fallen). Im Bereich einfacher arbeitsrechtlicher Ansprüche dürfte die vom Bundesverfassungsgericht als entscheidungserheblich angesehene enge Verbundenheit von Arbeitgeber und Arbeitnehmer und die häufig geringere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Kleinbetrieben nicht ausreichend sein, um eine Ungleichbehandlung sachlich zu rechtfertigen. Man stelle sich wiederum vor, Arbeitnehmer in Kleinbetrieben beispielsweise von der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auszunehmen, obwohl diese für die Betriebe eine weit höhere wirtschaftliche Belastung darstellt. Das wäre verfassungsrechtlich undenkbar. Eine etwaige besondere wirtschaftliche Belastung von Kleinbetrieben kann allenfalls durch Umlage- oder ähnliche Verfahren relativiert werden, wie es etwa in §§ 10ff. des weiterhin geltenden Lohnfortzahlungsgesetzes vorgesehen ist.
4 Abs. 2: Diese Anrechnungsvorschrift schafft neue Rechtsunsicherheit. Es ist nicht geregelt, welche Qualitätsanforderungen an die anrechnungsfähigen betrieblich oder dienstlich veranlassten Bildungsveranstaltungen gestellt werden müssen. Ist beispielsweise die Teilnahme an einem Kurs, den ein Werkzeugmaschinenhersteller durchführt, um die Arbeitnehmer eines Metallbetriebes mit der neuen Technik vertraut zu machen, anrechnungsfähig, obwohl den Arbeitnehmern dort nur das vermittelt wird, was der Arbeitgeber ihnen ohnehin vermitteln muss (Unterweisung im Gebrauch der von ihm zur Verfügung gestellten Arbeitsmittel? Nicht geregelt ist, was passiert, wenn der Arbeitnehmer bereits eine 5-tägige Bildungsveranstaltung ausgewählt hat und deren Inanspruchnahme dem Arbeitgeber nach § 5 mitteilt. Kann dann der Arbeitgeber noch anrechnen? Gibt es überhaupt genügende 3-tägige Bildungsveranstaltungen? Wie ist das Verhältnis der Freistellungsfiktion des § 5 Abs. 3 Satz 2 mit der Anrechnung: kann der Arbeitgeber auch noch anrechnen, nachdem er zunächst freigestellt hat für eine fünftägige Veranstaltung und/oder die Freistellungsfiktion eingetreten ist? Was ist in einem solchen Fall mit den für die Arbeitnehmerweiterbildungsveranstaltung nicht mehr zur Verfügung stehenden, weil durch Anrechnung weggefallenen, Tagen: darf der Arbeitnehmer gleichwohl fünf Tage an der Arbeitnehmerweiterbildungsveranstaltung teilnehmen, bekommt aber nur 3 Tage bezahlt, oder darf er nur 3 Tage teilnehmen (welche)? Was ist, wenn durch eine nur 3-tägige Teilnahme die Erreichung des Weiterbildungszwecks nicht gewährleistet wird, weil das Konzept auf eine fünftägige Veranstaltung ausgerichtet ist? Die Anrechnungsvorschrift öffnet jedenfalls das Tür und Tor für neue Rechtsstreitigkeiten, deren höchstrichterliche Klärung wiederum Jahre in Anspruch nehmen wird.
§ 5 Abs. 1 Satz 2: Die Vorschrift, nach der Mitteilung nach Satz 1 die Unterlagen über die Bildungsveranstaltung beizufügen sind, schafft weitere Rechtsunsicherheiten. Was ist beispielsweise der Nachweis über die Anerkennung der Bildungsveranstaltung, zumal es keine Einzelanerkennung mehr geben soll. Müssen jeweils die Anerkennungsbescheide der Veranstalter nach dem AWbG vorgelegt werden. Welche Anforderungen sind an das Programm zu stellen, aus dem sich "Zielgruppe, Lernziele und Lerninhalte" ergeben sollen? Muss das pädagogische Konzept dort bereits enthalten sein? In welcher Umfänglich- und Ausführlichkeit? Die Vorschrift bietet damit weiten Spielraum für neue rechtliche Auseinandersetzungen, insbesondere in Zusammenhang mit § 5 Abs. 3. Die dortige Zwei- Wochenfrist beginnt möglicherweise erst dann, wenn eine ordnungsgemäße Mitteilung im Sinne des Abs. 1 Satz 2 vorliegt, (Beispiel: Wochenfrist des § 99 BetrVG beginnt erst dann, wenn der Arbeitgeber die vollständigen Bewerbungs- oder sonstigen Unterlagen vorgelegt hat). Der Arbeitgeber kann also argumentieren, die Freistellungsfiktion nach § 5 Abs. 3 Satz 2 sei gar nicht eingetreten, weil die 2-Wochen-Frist des § 5 Abs. 3 Satz 1 noch gar nicht begonnen habe, weil die Mitteilung bzw. die Unterlagen nach § 5 AbS. 1 nicht vollständig bzw. ordnungsgemäß gewesen seien.
§ 5 Abs. 3: Die im Grunde in die richtige Richtung zielende Vorschrift mit Freistellungsfiktion wird durch § 5 Abs. 1 Satz 2 relativiert (siehe oben) und damit entwertet.
§ 5 Abs. 4: Eine komplizierte Regelung, die insbesondere dem Arbeitnehmer weiter die volle Darlegungs- und Beweislast auferlegt. Auch die Entgeltfortzahlung ist erst einmal nicht gewährleistet, weil der Anspruch nach § 7 erst gegeben ist, wenn der Arbeitgeber die Freistellung zu Unrecht verweigert hat; das steht aber erst nach rechtskräftigem Prozess fest. Im Sendler-Gutachten war daher auch eine Rückzahlungsverpflichtung des Arbeitnehmers vorgesehen, die erst dann eingreift, wenn der Arbeitgeber eine rechtskräftige Entscheidung erstreitet, dass die Veranstaltung nicht mit den Bestimmungen des Gesetzes vereinbar war. Zunächst wäre danach also erst einmal das Entgelt zu zahlen. Die Rückzahlungsverpflichtung kann nach dem Sendler-Vorschlag im übrigen noch durch die dort vorgesehene Anrechnungsmöglichkeit auf den Erholungsurlaub abgemildert werden.
§ 9 Abs. 1: Die Beschränkung auf nach dem AWbG anerkannte Einrichtungen und Volkshochschulen bei gleichzeitigem Wegfall der Einzelanerkennungsmöglichkeit greift möglicherweise in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise in den Besitzstand anderer Bildungsträger ein. Es werden vermutlich auch vermehrt Kooperationsveranstaltungen erforderlich werden von NRW-Bildungsträgern und Nicht-NRW-Bildungsträgern, was zu erneuter Rechtsunsicherheit führen dürfte: Wer ist bei solchen Kooperationsveranstaltungen letztlich der Veranstalter: der NRW-Bildungsträger oder der Nicht-NRW-Bildungsträger)?
§ 9 Abs. 2: Ziffer 2. fällt hinter die höchstrichterliche Rechtsprechung zur beruflichen Arbeitnehmerweiterbildung zurück und steht somit im Widerspruch zu § 1 Abs. 3 (Stichwort: Anti-Streß-Training für den Beruf; Rhetorik Kurse für Frauen). Was sind im übrigen "ähnliche Fertigkeiten" bzw. "ähnliche Berechtigungen" in Ziffer 3.?
§ 9 Abs. 3: Ziffer 1.: Studienreisen sind kein Rechtsbegriff. Soweit in der Begründung eine Definition gegeben wird (Lehrveranstaltungen mit wechselnden Lernorten) ist diese ebenfalls rechtlich nicht fassbar: liegt bereits eine Studienreise vor, wenn Exkursionen veranstaltet werden? Was ist, wenn das pädagogische Konzept den Wechsel des Lernortes gerade erfordert, etwa bei ökologischen Seminaren? Im übrigen dürfte ein verfassungsrechtlich bedenklicher Eingriff in die Lehrfreiheit der Bildungsveranstalter vorliegen.
§ 9 Abs. 3: Ziffer 2.: Die Beschränkung erscheint willkürlich, die Begriffe im übrigen rechtlich nicht fassbar: was sind "Gedächtnisorte"? Was ist ein Ort von Gedenkstätten: müssen es mindestens zwei Gedenkstätten sein oder reicht eine aus? Müssen Veranstaltungen, die am Sitz von Institutionen der europäischen Gemeinschaft stattfinden, sich auch mit diesen beschäftigen? Oder können an einem solchen Ort auch Veranstaltungen mit ganz anderen Themen, die aber ansonsten §1 entsprechen, stattfinden? Wieso sind Institutionen der europäischen Gemeinschaft privilegiert, Institutionen innerhalb der Bundesrepublik aber ausgeschlossen, wenn ihr Sitz nicht in einem direkten NRW angrenzenden Land liegt?
Der Novellierungsvorschlag schafft nicht mehr, sondern eher weniger Rechtssicherheit. Er wird die Inanspruchnahme nicht nur nicht erhöhen, sondern weiter verringern. Die bisher in 15-jähriger rechtlicher Auseinandersetzung geschaffene Rechtssicherheit wird zur Makulatur; es werden nicht die höchstrichterlich geklärten Fragen im Gesetz festgeschrieben, sondern neue Fragen aufgeworfen.
Die bildungs- und allgemeinpolitischen Bedenken gegen die provinzielle Verengung der Arbeitnehmerweiterbildung seien nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Die Beibehaltung des bisherigen Rechtszustandes ist besser und der Rechtssicherheit und der Inanspruchnahme mehr dienlich als der Novellierungsvorschlag. Dieser darf nicht Gesetz werden.
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