Ein Schritt vor - drei Schritte zurück: Das Projekt "Bildungsurlaub" verendet

In Nordrhein-Westfalen hatte der Bildungsurlaub - verschämt "Arbeitnehmerweiterbildung" genannt - vom späten Anfang (1985) an einen schweren Stand: Besonders kampflustige Arbeitgeber und eine streckenweise feindliche Rechtsprechung trafen auf eine im Vergleich zu den 70er Jahren schon bescheidenere Bildungspolitik, die sich angesichts der betrieblichen Konflikte und der Sorge um den "Standort NRW" aufs resignierte Zuschauen verlegte; die Folge: 0,5 % Nutzung des gesetzlichen Anspruchs. Nun wird eine Gesetzesnovelle angekündigt, die eine "konfliktfreie Inanspruchnahme" befördern soll. Sparen wir uns die ideologiekritische Rückfrage, welchem Gesellschaftsbild diese Formel entspringt - fragen wir lieber konkret, was geplant ist!

Zuerst die gute Nachricht: Gewerkschaften, Weiterbildungsanbieter und ein Rechtsgutachten forderten seit Jahren einvernehmlich Klarstellungen in Verfahrensfragen. Bisher können Arbeitgeber z.B. einen Freistellungswunsch einfach "aussitzen" - dem soll nun ein Riegel vorgeschoben werden, in dem eine Bildungsfreistellung nach Ablauf einer Frist als erteilt gilt. Alles andere am Verfahren bleibt unverändert: betriebliche Auseinandersetzungen über Themen und Anerkennung, Beweispflicht der ArbeitnehmerInnen, im Konfliktfall Lohnfortzahlung erst nach jahrelangen Prozessen ...

Und damit dieser kleine, den Rechtsmißbrauch der Betriebe begrenzende Schritt nicht als wirtschaftsfeindlich angeprangert werden kann, muß er durch ein ganzes Paket bildungs- und arbeitnehmerfeindlicher Maßnahmen flankiert werden: Menschen aus Betrieben unter 10 Beschäftigten sollen überhaupt kein Recht auf Bildungsurlaub mehr haben; zwei der in der Regel fünf Tage Freistellungsanspruch werden der betrieblichen Fortbildung zur Verfügung gestellt, und ein Bündel z.T. überflüssiger, z.T. absurder Negativkriterien soll dem "Mißbrauch" Einhalt gebieten, der u.a. angeblich darin besteht, sich in europäischen Nachbarländern über die dortigen politischen und sozialen Verhältnisse zu informieren, deutsch-deutsche Dialoge zu führen, ja während eines Seminars gar den Lernort zu wechseln!

Gesellschaftliche Kompromisse sind auch beim Projekt "Bildungsurlaub" denkbar und sinnvoll; antikapitalistischer Größenwahn ist den BildungspolitikerInnen und Bildungsveranstaltern längst ausgetrieben. Das Problem ist nur - der "Kompromiß" ist bereits durchgesetzt: 80 % der anerkannten Veranstaltungen widmen sich beruflichen Themen und Zielen; eine allgemeine Schutzklausel ermöglicht es den Betrieben, ihre Prioritäten durchzusetzen und eine Freistellung immer wieder hinauszuschieben; pädagogische Experimentierbereitschaft im Bildungsurlaub wurde in einem jahrelangen Kleinkrieg durch Arbeitgeber und Arbeitsgerichte "kleingearbeitet" und gedämpft.

Auch angesichts des beschriebenen Pakets finden sich Optimisten, die einen Fortschritt sehen: et-was mehr Rechtssicherheit der Bildungsurlaubswilligen und die vage Hoffnung auf ungestörtere Teilnahme der wenigen, die sich noch trauen, seien es wert, die beschriebenen "Kröten" zu schlucken. Diese Leidensbereitschaft ist erklärlich, aber nicht jedem zuzumuten; sie setzt voraus, noch die derbste politische Niederlage zu verleugnen und zum halben Sieg zu deklarieren. Ob es noch Kräfte gibt, die die NRW-Koalition zur "Raison" in einem anspruchsvolleren Sinne bringen können?

Norbert Reichling

(erscheint im Februar 2000 in "kursiv - Journal für politische Bildung" - Wochenschau-Verlag)

 


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