Nur noch etwa jede/r siebte Beschäftigte in Deutschland hat eine "normale" Arbeitszeit. Rund 86% der Beschäftigten dagegen haben irgendeine Form flexibler Arbeitszeit. Das zeigt eine im Auftrag des nordrhein-westfälischen Arbeitsministeriums vorgenommene repräsentative Untersuchung. Der Anteil flexibler Arbeitszeitverhältnisse hat seit der ersten Untersuchung dieser Art im Jahr 1989 stetig zugenommen. In erheblichem Maß wird an Wochenenden gearbeitet. Ein gutes Drittel der Beschäftigten arbeitet regelmäßig samstags. Stark zugenommen hat auch die Sonntagsarbeit. Vor zehn Jahren arbeiteten noch 10% der Beschäftigten regelmäßig sonntags, heute sind es 15%. Nach wie vor ist der Widerwille gegen Wochenendarbeit beträchtlich. Die Ablehnung von Sonntagsarbeit ist sogar weiter gestiegen. Nacht -und Schichtarbeit haben einen regelrechten Sprung gemacht. Mehr als jede/r sechste Beschäftigte ist davon betroffen. Stark angestiegen ist auch der Anteil derjenigen, die regelmäßig Überstunden leisten. Das alles ist auch Ausdruck einer zunehmenden Arbeitsverdichtung und eine Tendenz zur faktischen Verlängerung der Arbeitszeiten und damit wachsender Gesundheitsbelastungen am Arbeitsplatz.
Das Land Nordrhein-Westfalen lässt die Arbeitszeiten der Beschäftigten regelmäßig untersuchen. Die Erhebung, die im Auftrag des Ministeriums vom Kölner Institut zur Erforschung sozialer Chancen (ISO) vorgenommen wird, ist bundesweit repräsentativ. Für den neuesten, von Hermann Groß und Eva Munz verfassten Bericht "Arbeitszeit ‘99" wurden in der ersten Jahreshälfte dieses Jahres insgesamt 4024 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in West- und Ostdeutschland über ihre tatsächlichen und die gewünschten Arbeitszeiten befragt. Einbezogen wurden Beschäftigte zwischen 18 und 65 Jahren. Die Ergebnisse zeigen: Die Entwicklung der Arbeitszeiten ist heute schon viel flexibler als vielfach angenommen. Die klassische Regelarbeitszeit wird immer mehr zur Ausnahme.
Nur noch 15% (etwa jede/r siebte) der abhängig Beschäftigten in Deutschland arbeiten unter Bedingungen des Normalarbeitszeit-Standards, d.h. in einer Vollzeitbeschäftigung mit wöchentlich zwischen 35 und 40 Stunden, montags bis freitags und in der Lage nicht variiert. 85% der Beschäftigten sind dagegen in irgendeiner Form flexibler Arbeitszeit tätig: Wochenendarbeit, Schicht- und Nachtarbeit, Teilzeitarbeit, Überstunden, Arbeitszeitkonten. Diese Flexibilisierung hat seit 1989 stetig zugenommen. Damals arbeiteten also noch 24% der Beschäftigten in Normalarbeitszeit, 76% in flexiblen Arbeitszeitformen.
Die Zunahme betrifft alle Formen flexibler Beschäftigung mit Ausnahme der Gleitzeitarbeit. Die Teilzeitquote stieg von 15% im Jahr 1989 auf 20% in diesem Jahr, in Westdeutschland sogar auf 22%. Teilzeitarbeit ist aber weiterhin überwiegend "Frauensache": Sie wird dominiert von Halbtagsbeschäftigung. Teilzeit für Fach- und Führungskräfte bleibt die Ausnahme.
Die Beschäftigten wünschen sich eine Veränderung des Teilzeit-Angebots: Vollzeitbeschäftigte mit Teilzeitwunsch wollen ihre Arbeitszeit um 12 Stunden auf 27 Stunden reduzieren. Sie wollen keine Halbtagsbeschäftigung, sondern eine drei- bis vier-Tage-Woche. Die Teilzeitbeschäftigten wollen im Schnitt ihre Arbeitszeit um vier Stunden erhöhen.
Der Anteil regelmäßiger Schicht- und Nachtarbeit stieg von 14% auf 18%, der von Samstagsarbeit von 30% auf 35% (siehe Abbildung). Ein gutes Drittel (34%) der Beschäftigten arbeitet regelmäßig samstags (1989: 30%). Stark zugenommen hat die Arbeit am Sonntag: Vor zehn Jahren mussten 10% der Beschäftigten regelmäßig sonntags arbeiten, heute sind es insgesamt 16%.
Nach wie vor ist der Widerwille gegen Wochenendarbeit beträchtlich. Zwei Drittel der Befragten geben an, lieber weniger oder gar nicht am Samstag oder Sonntag zu arbeiten. Gegenüber 1995 ist die Ablehnung der Sonntagsarbeit noch einmal um 4 Prozentpunkte auf 67% gestiegen. 64% wollen lieber keine Samstagsarbeit (1995: 63%).
Einen regelrechten Sprung haben Nacht- und Schichtarbeit gemacht. Mehr als jede/r sechste Beschäftigte (18%) muss regelmäßig Nacht- und Schichtarbeit leisten (1995: 13%). Die Akzeptanz von Nacht -und Schichtarbeit ist heute höher als vor zehn Jahren. Mehr als die Hälfte (51%) sind damit einverstanden (1989: 43%). Der Zuwachs bei Schicht und Nachtarbeit stimmt überein mit der in anderen Studien festgestellte Zunahme der Betriebszeiten im verarbeitenden Gewerbe von 60,6 Wochenstunden 1984 auf 71,8 Wochenstunden 1996.
Stark zugenommen hat auch die Überstundenarbeit, was den Anteil der Beschäftigten in regelmäßiger Überstundenarbeit anbelangt. 1989 hatten nur 35% der Beschäftigten regelmäßig Überstunden geleistet. 1999 sind es schon 56%. Dieser Trend gilt allerdings nicht für das Überstundenvolumen - gemessen an der Anzahl der wöchentlichen Überstunden, die jede/r Beschäftigte leistet. Hier hat es gegenüber 1995 keine nennenswerten Veränderungen gegeben. 1995 hatte jede/r Beschäftigte 2,9 Überstunden pro Woche geleistet, 1999 waren es 2,8 Überstunden pro Woche.
Starke Verschiebungen gibt es aber in den Abgeltungsformen. 1999 liegen erstmals die in Freizeit ausgeglichenen Überstunden (1,1 Stunden pro Beschäftigten pro Woche) vor den bezahlten (0,9) und den unbezahlten (0,8) Überstunden pro Woche. Die bezahlten und unbezahlten Überstunden betrachtet das ISO-Institut als beschäftigungsmindernd. Hier ist ein leichter Rückgang festzustellen. Damit, so das Institut, ist freilich die beschäftigungspolitisch motivierte Forderung nach einem massiven Abbau von beschäftigungsmindernden Überstunden nicht gegenstandslos geworden.
Tabelle 1: Arbeitszeitformen im Vergleich (Angaben in %)
1989 |
1995 |
1999 |
|
Vollzeitbeschäftigte |
85 |
82 |
80 |
Teilzeitbeschäftigte |
15 |
18 |
20 |
Gleitzeitarbeit |
81 |
74 |
83 |
Nacht- und Schichtarbeit, regelm. |
14 |
13 |
18 |
Samstagsarbeit, regelm. |
30 |
32 |
35 |
Sonntagsarbeit, regelm. |
12 |
15 |
16 |
Überstunden, regelm. |
35 |
45 |
56 |
Arbeitszeitkonten |
37 |
||
Normalarbeitszeitstandard |
24 |
19 |
15 |
Quelle: ISO
Im ersten Halbjahr 1999 sind pro Woche jeweils 47.705.400 beschäftigungsmindernde Überstunden geleistet worden. Hochgerechnet aufs Jahr ergibt das 1.984.000.000 Überstunden (28.062.000 abhängig Beschäftigte mal 70,7 beschäftigungsmindernde Überstunden). Dem entspricht ein rein rechnerisches Arbeitsplatzäquivalent von rund 1,25 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen. Bei einer Realisierungsquote von 40% des rein rechnerisch Möglichen wären das immerhin noch rund 500.000 Vollzeitarbeitsplätze, die durch Überstundenabbau gesichert oder geschaffen werden könnten.
Angesichts der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit, so wertet das NRW-Arbeitsministerium dieses Ergebnis, sei eine so hohe Zahl von Überstunden unerträglich. Es müsse endlich eine ernsthafte Diskussion über eine bessere Verteilung der Arbeit geführt werden.
Dies gilt um so mehr, als die Zustimmung zu Überstunden unter den Beschäftigten deutlich abgenommen hat. Nur noch ein Drittel der Beschäftigten, die regelmäßig Überstunden leisten, war mit dieser Mehrarbeit zufrieden. Ein wachsender Anteil von Beschäftigten würde seine Überstunden lieber beschäftigungswirksam (und gesundheitsförderlich) in Freizeit ausgleichen oder würde für kürzere Arbeitszeiten sogar finanzielle Einbußen in Kauf nehmen.
Die Abnahme der beschäftigungsmindernden und die Zunahme der beschäftigungsneutralen Überstunden ist auch dem starken Zuwachs an Arbeitszeitkonten-Modellen geschuldet. 37% der abhängig Beschäftigten arbeiten unter Bedingungen eines Arbeitszeitkonten-Modells. Dieser Anteil hat geradezu rasant zugenommen. Besonders häufig gibt es solche Modelle in den Bereichen Bergbau und Energie, Metall- und Elektroindustrie, Verkehr und Nachrichten, chemische Industrie und öffentlicher Dienst.
Tabelle 2: Tatsächliche, vertragliche und gewünschte Wochenarbeitszeit 1995 und 1999 nach Arbeitszeitumfang (Angaben in Stunden pro Woche)
Alle Beschäftigten
West |
Ost |
Insgesamt |
||||||
X |
95 |
99 |
95 |
99 |
95 |
99 |
||
1. tatsächliche Arbeitszeit |
38,1 |
36,9 |
41,3 |
40,1 |
38,7 |
37,5 |
||
2. vertragliche Arbeitszeit |
35,1 |
34,8 |
38,5 |
37,6 |
35,8 |
35,3 |
||
3. gewünschte Arbeitszeit |
34,1 |
34,5 |
37,2 |
37,8 |
34,7 |
35,2 |
||
Differenz zwischen 2 und 1 |
3,0 |
2,1 |
2,8 |
2,5 |
2,9 |
2,2 |
||
Differenz zwischen 3 und 1 |
4,0 |
2,4 |
4,1 |
2,3 |
4,0 |
2,3 |
||
Differenz zwischen 3 und 2 |
1,0 |
0,3 |
1,3 |
+0,2 |
1,1 |
0,1 |
Quelle: ISO
Ein erhebliches Beschäftigungspotential lässt sich offenbar auch aus dem Verhältnis zwischen tatsächlichen, vertraglichen und gewünschten Wochenarbeitszeiten aller Beschäftigten ableiten (vgl. Tabelle 2). Im Jahre 1999 beträgt die die vertragliche Wochenarbeitszeit eines Arbeitnehmers/einer Arbeitnehmerin durchschnittlich 34,8 Stunden, die tatsächliche Wochenarbeitszeit durchschnittlich 36,9 Stunden. Gewünscht wird eine Arbeitszeit von 34,5 Stunden!
Nähme man diese Wünsche ernst, so ergäbe sich hier, so die Rechnung des Ministeriums, ein Beschäftigungspotenzial von rechnerisch 1,6 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen bundesweit. Bei einer Realisierungsquote von 40% wären das immerhin noch 640.000 Arbeitsplätze.
Weitere Informationen:
Quelle: ARBEIT & ÖKOLOGIE-BRIEFE Heft 24/1999, 1. Dezember
1999
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