Harald Werner, 2.8.1999

Erste kritische Anmerkungen zu Gregor Gysis Papier "Gerechtigkeit ist modern"

 

Der gewollte Medienevant ist mit Sicherheit geglückt, doch die Chance, dem Blair-Schröder-Papier eine linke Alternative entgegenzusetzen wurde vertan. Auch die Verwendung von Marx-Zitaten kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die geistigen Zuarbeiter in ihrer Beurteilung der gesellschaftlichen Situation aus den gleichen Quellen schöpfen wie die neue Sozialdemokratie. Anthony Giddens und Ulrich Beck lassen grüßen. Zwar werden meistens grundlegend andere Schlüsse gezogen, als von Blair und Schröder, aber in der Analyse und in den konkreten politischen Vorschlägen spiegeln sich die gleichen Modernisierungsvorstellungen wider wie bei den Vordenkern der neuen Sozialdemokratie. Das ist deshalb erwähnenswert, weil aus einer gleichbleibenden Einschätzung der gesellschaftlichen Entwicklung letztlich auch gleiche Schlüsse gezogen werden können. Das Papier von Gregor Gysi tut dies "noch" nicht, sondern läßt der etwas fremdartigen theoretischen Analyse bekannte politische Vorschläge der PDS folgen, aber genau das macht den ganzen Text ausdeutbar, weitgehend diffus und erklärungsbedürftig. Wobei es nicht darauf ankommt, was mit einzelnen Textteilen gemeint wurde, denn wer ein politisches Strategiepapier verfaßt, muß sich darüber klar sein, daß seine Aussagen im Zusammenhang einer existierenden politischen Auseinandersetzung entziffert und verortet werden.

Wer zum Beispiel vor dem Hintergrund einer Debatte über die allmähliche Privatisierung der Altersversorgung sellber Vorschläge zur Ergänzung der Rente durch private Vorsorge macht, kann sich im Detail noch sehr von Herrn Riester unterscheiden, im Ergebnis wird er von der Öffentlichkeit an seine Seite gestellt. Gleiches für den scheinbar völlig unverdächtigen und wohlgemeinten Satz zur sozialen Grundsicherung, wo es heißt: ".. sie muß Chancen und Anreize zum Einstieg und zum Aufstieg in eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, zu Qualifikation und zur Teilnahme am Erwerbsleben als Arbeitnehmerin bzw. Arbeitnehmer, Selbständige bzw. Selbständiger, Existenzgründerin bzw. Existenzgründer eröffnen." Blair und Schröder formulieren das klarer und hemdsärmliger, wenn sie sagen, daß sich die sozialen Sicherungssysteme in ein Sprungbrett verwandeln müssen. In beiden Fällen wird an die neoliberale Behauptung und an den gängigen Populismus angeknüpft, daß die Lohnersatzleistungen "als sanfte ‚Entrsorgung`von Menschen verstanden bzw. mißbraucht werden ..." Am Ende heißt das in der gegenwärtigen politischen Landschaft – und nur darauf kann man sich beziehen – "Arbeit statt Sozialhilfe" oder "Verschärfung der Zumutbarkeitskriterien". Daß das so und nicht anders verstanden wird zeigen die Reaktionen der Presse, wie zum Beispiel im SPIEGEL vom 2.8. :"..Gregor Gysi will seiner Partei offenbar eine Kehrtwende in der Wirtschafts- und Sozialpolitik verordnen."

Tatsächlich gibt es viele Textstellen, die gerade in Sachen Arbeistmarkt- und Sozialpolitik zumnidest für die Kenner des Politikfeldes eine Wende signalisieren. PDS-Themen wie soziale Grundsicherung oder Öffentlich geförderter Beschäftigungssektor tauchen häufig nur noch als Begriff, aber mit anderen Inhalten oder Zielsetzungen auf. All diese Teile wirken wie eine Montage zweier gegensätzlicher Politikansätze. Der weitläufigen Propagierung der Verbindung von Erwerbsarbeit mit "freiwilliger Eigenarbeit" etwa, die auf einen sehr konkreten und ziemlich kritikwürdigen Vorschlag von Ulrich Beck zurückgeht, oder dem Vorschlag des Grünen Willi Brüggen, öffentliche Aufgaben auch an private Unternehmen zu vergeben,wird am Ende wie in einer Fußnote das Etikett öffentlich geförderte Beschäftigungssektor aufgeklebt, obwohl es unter ExpertInnen bislang völlig unstrittig war, daß die PDS sich von solchen Vorschlägen scharf abgegrenzt hat. Das mag außerhalb der Fachdiskussion nebensächlich erscheinen, aber für die SachkennerInnen wird hier tatsächlich die vom SPIEGEL zitierte Wende verordnet.

Gleiches gilt für die innergewerkschaftliche Diskussion, in der sich die PDS bislang auf der Linken verorten konnte. Dies wird, und natürlich auch hier für die ExpertInnen gesprochen, in Zukunft etwas schwieriger werden. So heißt es: "Die Tarifverhandlungen im nächsten Jahrhundert sollten deshalb auch dafür genutzt werden, Produktivitätssteigerung zur Steigerung der beschriebenen Lebensqualität zu nutzen" Erstens wird dieser Satz in eine aktuelle Diskussion hineingestellt, in der die Gewerkschaften darum kämpfen, nach Jahren der Lohnzurückhaltung den Verteilungsspielraum, nämlich die Produktivitätssteigerung wieder auszuschöpfen und ganz aktuell von Wirtschaftsminister Müller aufgefordert werden, sich für absehbare Zeit mit einem Inflationsausgleich zufrieden zu geben. Zweitens ist dieser Satz auf eine ärgerliche Weise bevormundend, weil er natürlich unterstellt, daß die Kolleginnen und Kollegen ihren Einkommenszuwachs für Kinkerlitzchen ausgeben, statt für die blumig beschriebene Lebensqualität. Drittens aber stellt sich doch die Frage, wie man angesichts der bestehenden Verteilungsverhältnisse und tiefen sozialen Spaltung zwischen Arbeits- und Gewinneinkommen ausgerechnet die Verteilung des Produktivitätsfortschritts an die abhängig Beschäftigten beschränken möchte, um angeblich deren Lebensqualität zu verbessern. Und wenn es heißt: "Die Kämpfe der Zukunft werden in starkem Maße Kämpfe um eine neue Lebensweise sein", dann ist erstens daran zu erinnern, daß die Arbeiterbewegung darum seit mehr als einem Jahrhundert kämpft und zweitens, daß sie dazu kein anderes aber auch kein besseres Mittel hat, als im Tarifkampf ihren Anteil am von ihr erzeugten Reichtum zu erstreiten.

Viele Textpassagen, die in den Ohren linker GewerkschafterInnen mehr als schrill klingen werden, gründen sich wahrscheinlich auf pure Unkenntnis. So auch die Feststellung zur Mitbestimmung: "Es reicht auch nicht, die Interessen der Belegschaften einzubinden. Geboten wären Aufsichtsgremien mit Drittelparität" Mit dem neuen Drittel sind gemeint "Die Vertretung derjenigen öffentlichen Interessen, die durch die Tätigkeit des jeweiligen Unternehmens betroffen sind.." Das heißt zum Beispiel ganz konkret, daß die Beschäftigten in mitbestimmten Betrieben in Bayern auf Mandate verzichten, damit ihre Plätze von CSU-KommunalpolitikerInen eingenommen werden. Für diejenigen, die die gegenwärtige Mitbestimungsdebatte kennen, erinnern solche Sätze an die Vorschläge derjenigen, denen jede Idee recht ist, wenn man nur den Einfluß der Gewerkschaften in den Aufsichtsräten zurückdrängen kann. Und auch hier kommt es nicht darauf an, was man gemeint hat, sondern wie es verstanden wird.

Unbefriedigend und ärgerlich sind trotz der eingestreuten Marx-Zitate vor allem die gesellschaftstheoretischen Passagen, die sich einerseits einer modischen Soziologensprache bedienen und kaum einen Zusammenhang mit der marxschen Analysemethode erkennen lassen. So heißt es etwa: "Heute wird die Erwerbsbiographie durch das Neben- und Nacheinander sehr verschiedener Rollen geprägt. Gestern Lehrling, heute selbständig und Teilzeitbeschäftigte bzw. Teilzeitbeschäftigter, morgen arbeitslos und übermorgen vielleicht Unternehmerin bzw. Unternehmer, schließlich Aktienbesitzerin bzw. Aktienbesitzer mit Sozialhilfe usw. Die verschiedenen sozialen Rollen sind nicht mehr eindeutig mit bestimmten sozialen Klassen, Schichten und Gruppen verbunden.... Es gibt Arbeiterinnen, Arbeiter und Angestellte mit relativ hohen Einkommen, reiche Selbständige, aber auch solche, die über Jahre an der Existenzgrenze leben, pleite gegangene Unternehmerinnen bzw. Unternehmer ohne jede soziale Sicherung, reiche und arme Ärztinnen bzw. Ärzte und Hochschulabsolventinnen bzw. Hochschulabsolventen ohne Arbeit und ohne Anspruch auf soziale Sicherungen und solche mit besten materiellen Chancen.." Abgesehen davon, daß die linke Wissenschaft nicht ohne Grund einen heftigen Kampf gegen die Anwendung des Rollenbegriffs auf ökonomische Klassenlagen geführt hat, stimmt auch die ganze Aussage nicht. Die hier geschilderte gesellschaftliche Mobilität ist ein ideologischer Popanz und geht völlig an der Realität vorbei. Der Aufstieg vom Arbeitslosen zum Unternehmer ist ebenso wie die Sozialhilfeempfängerin mit Aktienbesitz bestenfalls eine statistische Restgröße und was sich in diesem Lande wirklich Unternehmer nennen kann, steigt auch nicht zur Sozialhilfe ab. Nach wie vor thront in diesem Lande über den in eine schreckliche Mobilität geworfenen unteren sozialen Gruppen eine ausgesprochen immobile Klasse von Kapitalisten – die man ruhig auch mal beim Namen nennen kann, statt fortgesetzt von Unternehmern zu reden, wozu bekanntermaßen sowohl der Bäckerladen an der Ecke, als auch der weltweite Laden von Siemens gehört.