Rot-grüne Spar- und Rentenpolitik: Wie die Regierung von Bundeskanzler Schröder im Sozialstaat randaliert

Überholen ohne einzuholen

 

Selbst eine Sechsjährige würde auf die Barrikaden gehen, wenn ihre Eltern das Taschengeld kürzen, gleichzeitig jedoch den Zuschuss der gut situierten Oma zur Haushaltskasse dankend ablehnen würden. Die bundesrepublikanische Öffentlichkeit hingegen nimmt die Gleichzeitigkeit von Sozialabbau aufgrund leerer Kassen und die Plünderung derselben Kassen mittels Steuergeschenken an einkommensstarke Gruppen bisher seltsam gelassen hin.

Doch der Reihe nach. In der Neuen Mitte angekommen, hat die traditionelle "Partei der kleinen Leute und der sozialen Gerechtigkeit" beim Kürzen von Sozialleistungen wahrlich den Turbo gezündet. Die Grünen präferieren mehrheitlich offensichtlich eher die Rolle des Antreibers beim Sozialabbau als die Rolle eines sozialpolitischen Korrektivs. Die mit "Zukunftsprogramm 2000" titulierte rot-grüne Spar- und Rentenpolitik ist die Fortsetzung des schwarz-gelben Sozialabbaus mit verschärften Mitteln. Es geht alles schneller, tiefer, widerspruchsfreier. Überholen ohne einzuholen.

Über ein Drittel der 30 Milliarden aus dem Sparpaket von Bundesfinanzminister Hans Eichel soll nächstes Jahr direkt zu Lasten von Rentnern und Erwerbslosen zusammengestrichen werden. Allein bis 2003 kumuliert das den Rentnern und Erwerbslosen abverlangte Sparopfer zu der astronomischen Summe von 48,5 Milliarden Mark. Das Tempo und Ausmaß, mit dem die Regierung Schröder im Sozialstaat randaliert, dürfte dem Ex-Arbeitsminister und Herz-Jesu-Marxisten Norbert Blüm entweder Freudentränen oder Schamesröte ins Gesicht treiben.

Was solcherlei abstrakte Milliardensummen bei den Betroffenen anrichten, mögen folgende zwei Beispiele veranschaulichen: Bei einer durchschnittlichen Arbeitslosenhilfe von aktuell 935 Mark monatlich wird klar, dass hier jede zusätzliche Mark dringend zum Leben gebraucht wird, wie schmerzlich die geplante Umstellung der jährlichen Anpassung vom Nettolohnbezug auf Inflationsausgleich ist. Dasselbe sozialpolitische Folterinstrument reißt, gerechnet über fünf Jahre, im Portemonnaie eines ehemals durchschnittlich verdienenden Rentners ein Loch von 3.000 Mark - alles andere als Peanuts.

Diese Grausamkeiten des Sparpakets als "gerechten Beitrag" der Erwerbslosen und RentnerInnen zur Zukunftssicherung des Sozialstaates zu verkaufen ist gleich in zweifacher Hinsicht heuchlerisch. Erstens: Ein Haushaltsloch kann sowohl von der Einnahmen- wie auch der Ausgabenseite her zugeschüttet werden. Erst die kategorische Weigerung der Regierung Schröder, Reiche stärker zu besteuern, schafft den vermeintlichen Sachzwang, bei leeren Kassen die Ausgabenseite durch Sozialabbau zu begrenzen.

Zweitens: Das rot-grüne "Zukunftsprogramm" ist nicht ausschließlich "Sparpaket", sondern enthält durchaus auch Wohltaten in Form von Steuergeschenken. Die Reform der Einkommensteuer beschert eine Nettoentlastung von über 20 Milliarden Mark, von der keineswegs nur Arbeitnehmer und Familien, sondern eben auch - über die Senkung des Spitzensteuersatzes - Einkommensmillionäre profitieren. 2001 sollen die Unternehmen netto um rund acht Milliarden Mark entlastet werden. Somit findet nicht nur eine Sanierung des Bundeshaushalts auf Kosten der bereits benachteiligten sozialen Schichten statt. Vielmehr wird mit der Sparoperation die Voraussetzung geschaffen, Steuergeschenke für privilegiertere Gruppen zu ermöglichen. Kurz: Statt zu sparen wird von Rentnern und Erwerbslosen zu Unternehmen und Reichen umverteilt.

Aber auch der erhoffte Beschäftigungseffekt aufgrund einer durch Steuersenkung angekurbelten privaten Binnennachfrage wird nur bedingt eintreten. Zum einen werden die direkte Vernichtung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst sowie die indirekten Arbeitsplatzverluste durch einen Rückgang der öffentlichen Nachfrage im Rahmen des Sparpakets komplett ausgeblendet. Zum anderen wird der Einkommensmillionär seine geplante Steuerentlastung in Höhe von jährlich 38.921 Mark (!) wohl eher als Spielgeld im Kasinokapitalismus verwenden, statt (beschäftigungswirksam) einen zweiten oder dritten Porsche zu erwerben. Für den Unternehmenssektor gilt: Den hier geplanten Steuergeschenken das Ettikett "moderne Wirtschaftspolitik" aufzukleben, grenzt an Begriffsverdrehung aus Georg Orwells Roman "1984".

Was kann es Rückwärtsgewandteres geben als die Fortsetzung einer seit 1982 praktizierten Politik, zumal einer Politik, die nachweislich keinerlei Beschäftigungseffekte gebracht hat? Wir brauchen nicht die Kristallkugel einer Wahrsagerin zu befragen - der Praxistest aus der Vergangenheit belegt eindrücklich: Die Realitätstüchtigkeit der Wirkungskette "niedrige Unternehmensteuern - mehr Gewinne - mehr Investitionen - mehr Arbeitsplätze" entspricht derjenigen der Klapperstorchgeschichte. Offensichtlich setzen arbeitsplatzschaffende Erweiterungsinvestitionen der Unternehmen die Erwartung steigender Absätze voraus und nicht profitsteigernde Steuergeschenke.

Das rot-grüne "Zukunftsprogramm" hat es durchaus verdient, mit Superlativen charakterisiert zu werden. Es ist nicht nur das "größte Sparpaket in der Geschichte der Bundesrepublik" (Eichel), auch seine Durchsetzungschancen sind historisch einmalig und bestechend gut. Man nehme zwei ehemals linke, der sozialen Gerechtigkeit verpflichtete Parteien, schicke sie in die Regierung, wechsle nicht die bisherige Regierungspolitik, sondern deren Programmatik aus, und schon lässt sich in Ermangelung einer starken parlamentarischen Opposition auch noch der dreisteste Sozialklau durchführen.

Darin ist die Sozialdemokratie einzigartig: Allein ihr kann es gelingen, Gewerkschaften und andere mehr oder minder fortschrittliche Organisationen ruhig zu stellen, in eine Konsenspolitik mit dem Kapital und eine Konfrontationspolitik gegen Erwerbslose und Arme einzubinden. Oder wie es der grüne NRW-Landtagsabgeordnete Daniel Kreutz auf den Punkt gebracht hat: Rot-Grün hat sich zum "Subjekt des 'friedlichen Wegs' neoliberaler Revolution" gewandelt.

Dass politische Verortung immer weniger anhand von Parteibüchern erkennbar ist, dass die inhaltlichen Differenzen nicht mehr entlang von Partei- und Organisationsgrenzen laufen, sondern quer durch diese hindurch, bietet aber auch die Chance für einen politischen Aufbruch und neue gesellschaftliche Bündnisse. Vorausgesetzt, diejenigen, deren Herz links schlägt und nicht an der Börse gehandelt wird, fühlen sich den eigenen Inhalten stärker verpflichtet als Parteiloyalitäten und Kanzlermachtworten.

Martin Künkler

taz vom 7.8.1999 Seite 12 Meinung und Diskussion