letzte Änderung am 05. Juni 2002

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Wie der Boden nicht nur für die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe vorbereitet wird ...

Neue sozialpolitische Aufgaben der Arbeits- und Sozialämter?

Es gibt schon jetzt Veränderungen in der Praxis der Arbeits- und Sozialämter, die die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe aktiv vorbereiten.

Diese Veränderungen zeichnen aber, so behaupten wir, auch ein erstes Bild von der radikalen Umstrukturierung der sozialpolitischen Landschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Und dieser Umstrukturierung wird möglicherweise nicht nur die Arbeitslosenhilfe zum Opfer fallen, sondern sie wird ggf. sogar die Existenz der Arbeitslosenversicherung als solche in Frage stellen.

Wir behaupten weiter, daß diese Veränderungen in erster Linie Wirtschaftsinteressen und -erfordernissen dienen und damit die bisherige regulierende Aufgabe der traditionellen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik (Integration von Erwerbslosen in den Arbeitsmarkt etc.) ablösen.

Deshalb wird sich diese Umstrukturierung vollziehen - egal, welche Partei die Bundestagswahl im September gewinnt.

Daß alle bürgerlichen Parteien die "Zusammenlegung" von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe auf ihre Fahnen geschrieben haben, ist nur ein Indiz dafür; daß selbst die PDS für den Wahlkampf ihre Lieblingsidee eines "öffentlich geförderten Beschäftigungssektors" in die Forderung nach einer Art Massen-Arbeitsdienst auf ABM- und SAM-Basis (Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen, die allesamt mindestens 20 Prozent unter Tarif bezahlt werden müssen) umgemünzt hat, lässt (leider) auch nicht gerade auf parlamentarische Alternativen hoffen.

Daß sich die Praxis der Ämter gegenüber Erwerbslosen und SozialhilfebezieherInnen schon jetzt drastisch geändert hat, merken wir tagtäglich in der Sozialberatung - gerade seit der Einführung des Job-Aqtiv-Gesetzes. Um zu sehen, ob sich diese Eindrücke als allgemeiner Trend erweisen, haben wir uns die Vermittlungspraxis des Oldenburger Arbeitsamtes nach dessen eigenen Veröffentlichungen und den regionalen Arbeitsmarkt, wie ihn der SIS-Computer ausweist, einmal genauer angesehen.

Dazu zwei Vorbemerkungen:

1. Bei den folgenden Untersuchungen handelt es sich um Stichproben. Sie beziehen sich in diesem ersten Anlauf auf die Arbeitsämter. Untersuchungen über veränderte Aufgaben der Sozialämter müssen noch folgen.

Die Ergebnisse sind nur als erste Argumente für unsere Behauptungen zu betrachten. Und als Aufforderung an alle sozialpolitischen Initiativen, ebensolche Untersuchungen vor Ort anzustellen. Laßt uns Ergebnisse aus der ganzen Republik sammeln und zusammentragen, laßt uns auch Einzelbeispiele dokumentieren, laßt uns ein Stück Gegenöffentlichkeit schaffen gegen den "nacherzählenden Journalismus" - und natürlich Widerstand gegen die Pläne, Millionen von Leuten in die Armut zu schicken!

2. Wir haben die Region Oldenburg ausgewählt, weil wir hier leben. Es geht uns nicht darum, "unser" Arbeitsamt als ein besonders repressives darzustellen (ist es sicherlich auch nicht) oder die MitarbeiterInnen als besonders "scharfe Hunde" (auch das wäre schlichtweg falsch). Sehr wohl fordern wir aber ein, dass die Beschäftigten der Arbeitsämter kritisch hinterfragen, ob ihre Arbeit künftig tatsächlich noch die Vermittlung von Beschäftigung ist oder ob sie sich zur Abstrafung, Kontrolle und Sortierung von Erwerbslosen benutzen lassen.

 

Teil I: Wie die Arbeitsämter so vermitteln … am Beispiel Oldenburg im April 2002

"Hier drücken sich sechs Arbeitslose um eine offene Stelle"

Zum Bezirk des Arbeitsamtes Oldenburg gehören neben der Stadt Oldenburg die Gemeinden Hatten, Hude, Rastede, Wardenburg, Bad Zwischenahn, Brake, Delmenhorst, Nordenham und Wildeshausen. Im April 2002 gab es 26.248 Arbeitslose im Arbeitsamtsbezirk Oldenburg. Diesen stehen 4.188 offene Stellen gegenüber. Was also soll das Gerede von der "Aktivierung", wenn real mehr als sechs Arbeitslose auf eine offene Stelle kommen (und was eine offene Stelle ist, siehe Kasten)?

In diesem April wurden dem Arbeitsamt ca. ein Drittel weniger offene Stellen gemeldet als im Vorjahr. Seit Jahresanfang sind es 28 Prozent weniger offene Stellen als im Vorjahr. Diese Zahlen strafen das öffentliche Geheule um die Millionen angeblich nicht besetzbarer freier Stellen Lüge. Das Arbeitsamt wiederum vermittelt in diesem April 40 Prozent weniger Arbeitslose als im Vorjahr.


Definitionen:

Was sind eigentlich offene, also "gemeldete Stellen"? Otto Normalverbraucher denkt, es handele sich dabei um Arbeitsplätze, die einen Menschen, wenn nicht gar die ganze Familie ernähren können - und die der faule Arbeitslose bloß nicht anzutreten gewillt sei. Doch weit gefehlt, denn:

"Als gemeldete Stellen gelten den Arbeitsämtern zur Besetzung gemeldete Arbeitsplätze mit einer vorgesehenen Beschäftigungsdauer von mehr als sieben Kalendertagen".

(nachlesbar unter www.arbeitsamt.de "Statistik"). Klartext: ein unbezahltes Praktikum mit einer Dauer von 14 Tagen gilt als offene Stelle, ebenso wie die Aushilfstätigkeit als Verkäuferin auf dem Weihnachtsmarkt.


Vermittlungen, durch die Lupe betrachtet

Insgesamt 4.734 Arbeitslose "verschwinden" im April 2002 aus der Arbeitslosigkeit, davon aber nur 2.440 in neue Arbeitsverhältnisse. Warum und wohin die anderen 1.294 Erwerbslosen sich abgemeldet haben - darüber werden in der Veröffentlichung des Arbeitsamtes keine Angaben gemacht.

Von den 2.440 Abmeldungen wegen Arbeitsaufnahme hat das Arbeitsamt 1.130 vermittelt, davon wiederum nur 841 in Dauer- bzw. längerfristige Beschäftigungsverhältnisse (siehe Kasten "Offene Stellen"), 48 in Beschäftigungsverhältnisse unter sieben Tagen. 237 Arbeitslose suchen sich selbst einen Job über SIS (Stelleninformationssystem des Arbeitsamtes) oder AIS (Arbeitgeberinformationssystem) und vier über Dritte.

Rund 1.000 Arbeitslose (300 mehr als im Vorjahr) werden aus der Statistik gedrängt "wegen fehlender Mitwirkung, beispielsweise wenn Einladungen ignoriert wurden oder wenn im Zuge der Vermittlungsoffensive die Beteiligung an einem Profiling-Gespräch verweigert wurde. Folglich nahmen auch die Abmeldungen auf Grund von Meldeversäumnissen oder aus sonstigen Gründen deutlich zu." (S. 3)

Welch stolze Bilanz!

Von 4.734 Arbeitslosen, die sich im April 2002 aus der Arbeitslosigkeit abmelden,

Von den 2.440, die in ein neues Arbeitsverhältnis eingetreten sind,

Klartext

1. Die überwiegende Zahl der Erwerbslosen sucht sich selbst einen neuen Job.

2. Von den neu zustande gekommenen Arbeitsverhältnissen vermittelt das Arbeitsamt gerade ein Drittel,

und:

3. Das Arbeitsamt drängt mehr Arbeitslose aus der Statistik und damit aus dem Leistungsbezug (1.000), als es in Arbeitsverhältnisse vermittelt (841).

Druck statt Unterstützung

Wir behaupten: Das Arbeitsamt bekommt die Aufgabe, den Rest der Arbeitslosen, die durch die Aussortierungs-Mühlen der privaten Arbeitsvermittlung fallen und die selbst nichts mehr finden auf dem Arbeitsmarkt, weniger zu qualifizieren, umzuschulen oder zu vermitteln, als vielmehr mit Druck und Schikanen aus der Statistik zu drängen.

Damit wandelt sich der Auftrag der Arbeitsämter radikal. Unabhängig von der wirtschaftlichen Entwicklung, unabhängig von der Entwicklung der Beschäftigung und des Arbeitsmarktes, also unabhängig von der Zahl der offenen Stellen sollen alle Arbeitslosen, die auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr gebraucht werden, auch nicht mehr als Arbeitslose gezählt werden. Sie sollen gesellschaftlich nicht mehr als Arbeitslose in Erscheinung treten. Sie sollen gesellschaftlich keine Kosten verursachen. Sie sollen im Schatten der Wohlstandsgesellschaft verschwinden.

(Alle Zahlen und Zitate aus: Presseinformation Nr. 27/02, Arbeitsamt Oldenburg, 06.05.2002)

 

Teil II: Was der Arbeitsmarkt zu bieten hat ... am Beispiel SIS Oldenburg

Viele Erwerbslose haben noch nie ein (adäquates) Stellenangebot vorgelegt bekommen. Gerne wird deshalb auf den Stellen-Informations-Service (SIS) der Bundesanstalt für Arbeit verwiesen.

Also haben wir im März 2002 den SIS-Computer befragt, als Suchkriterien "Stellen der letzten vier Wochen" und die Postleitzahl der Oldenburger Innenstadt (26122) eingegeben. Uns wurden sage und schreibe 257 Datensätze mit insgesamt 285 Stellenangeboten quer durch alle Berufssparten im Verfügbarkeitsbereich der Stadt Oldenburg (also bis nach Delmenhorst) angezeigt! Diese haben wir komplett nach "reiner Papierlage", also ohne deren "Wahrheitsgehalt" zu überprüfen, ausgewertet.

Die Ergebnisse:

Dies ist in zweierlei Hinsicht problematisch: in Bezug auf die Zumutbarkeitskriterien, die ja u.a. durch den Vergleich der eigenen Arbeitslosenhilfe mit dem zu erwartenden Lohn festgestellt wird; problematischer jedoch sind solche Angaben auch deshalb, weil das Arbeitsamt sich damit vor der Verpflichtung "drückt", nicht in untertarifliche Bezahlung zu vermitteln. Als Scherz am Rande seien die seltenen Arbeitsangebote bei der öffentlichen Hand erwähnt; dort wurde teils nicht etwa BAT, sondern ein "Lohn nach Vereinbarung" in Aussicht gestellt. Eigentlich müßten die Personalräte des öffentlichen Dienstes im eigenen Interesse auf die Art solcher Ausschreibungen achten, wollen sie nicht ihren eigenen Tarif diskreditieren.

Dies waren einige Ergebnisse nach Auswertung der "Papierlage". Nun zu einer Stichprobe, bei der wir 10 % = 29 dieser Stellenangebote zufällig ausgewählt und uns als potentielle InteressentInnen telefonisch mit den Arbeitgebern in Verbindung gesetzt haben.

Auch damit erlebten wir einige Überraschungen: ein großer Teil der Stellen war bereits besetzt, in einem Fall wurde uns vom Arbeitgeber sogar versichert, es handele sich um eine Stelle, die er dem Arbeitsamt vor einem Jahr gemeldet habe und die entsprechend schon längst vergeben sei.

Bei den Leiharbeitsfirmen konnten wir uns des Eindrucks nicht erwehren - teilweise wurde es uns auf genaue Nachfrage auch genau so bestätigt - dass es sich häufig nicht um tatsächliche Stellenangebote handelt, sondern darum, die eigenen Karteien mit potentiellen Arbeitnehmern zu füllen - für den Fall, dass die Zeitarbeitsfirma einmal einen Auftrag bekommen sollte, in der die entsprechende Qualifikation gefragt ist.

Auch einige Zumutungen kamen ans Licht: beispielsweise wurde ein Fleischereihelfer gesucht, der aber erst ein oder zwei Monate Praktikum im Betrieb machen sollte - am besten unbezahlt.

Höchst unangenehm wurden fast alle Arbeitgeber bei unseren höflichen Versuchen, etwas über die Lohnhöhe herauszufinden. Die selben Leute, die ausgiebig Zeit hatten, uns ihre Anforderungen an unsere Qualifikationen zu erklären, verweigerten unter Hinweis auf ihr knappes Zeitbudget die Auskunft über die Löhne. Es bleibt demnach die Aufgabe, nochmals gezielt die Löhne von im SIS-Computer angebotenen Stellen zu untersuchen.

 

Teil III: Die Rolle der Ideologie, und was noch zu beweisen wäre …

Daß Erwerbslose durch Maßnahmen des Arbeitsamtes aus der Statistik gedrängt werden, wird in der Pressemitteilung des Oldenburger Arbeitsamtes zum ersten Mal erwähnt. Das zeugt von ungetrübter Sicherheit, daß solche Maßnahmen von der Öffentlichkeit gebilligt werden, daß sie keinen Skandal auslösen. Die Sozialschmarotzer und Drückeberger-Kampagne zeigt hier Wirkung. Wer aus der Arbeitslosen-Statistik rausgeschmissen wird, weil er die Teilnahme an einer Trainingsmaßnahme oder einem Profiling ablehnt - oder beides nicht zur Zufriedenheit des Amtes mitmacht, der war eben nicht richtig arbeitslos. Durch konsequentes "Fordern statt Fördern" werden diejenigen Arbeitslosen ausgesteuert, die dem Arbeitsmarkt "nicht wirklich" zur Verfügung stehen.

Doch was heißt das: dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen? Und: welchem Arbeitsmarkt überhaupt?

Folgende Veränderungen der Arbeitsamts-Praxis haben wir in der Sozialberatung gesammelt - wohlgemerkt, es handelt sich keineswegs um Einzelfälle - und zugespitzt formuliert. Es wäre die nächste Aufgabe, entsprechende Untersuchungen auch andernorts anzustellen, um zu sehen, ob sich Beweise für gezieltes Vorgehen finden lassen:

Wenn die Arbeitslosenhilfe zugunsten der Sozialhilfe abgeschafft, die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld auf maximal zwölf Monate gekürzt ist und die Erwerbslosen auf den Arbeitsämtern das erwartet, was oben beschrieben wurde, dann wird es für ArbeitnehmerInnen immer unattraktiver, in ein solches Versicherungssystem einzuzahlen. Es wird sturmreif geschossen wie Renten- und Krankenversicherung. An ihre Stelle treten private Versicherungen und private Vorsorge. Wer nicht auf die mangelhaften Leistungen der immer bruchreiferen solidarischen Versicherungssysteme angewiesen sein will, der muß die privatwirtschaftliche Alternative wählen. Und wer ein gutes Einkommen hat, für den sind die privaten Angebote attraktiv. Entsolidarisierung vorprogrammiert.

bb, mb

Erschienen in: quer vom Juni 2002

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