Wer ist denn nun erwerbslos?

Technokratische "Lösungen" der Beschäftigungskrise in Asien

 

In den ILO-Berichten zur Lage auf dem internationalen Arbeitsmarkt für die Jahre 1998 und 1999 wird festgestellt, dass von den insgesamt 3 Milliarden Erwerbstätigen 25 bis 30 Prozent unterbeschäftigt sowie knapp 5 Prozent beschäftigungslos seien. Die ILO rechnet angesichts der immer tiefer greifenden Wirtschaftskrise in Ost- und Südostasien mit einer Zunahme der Zahl der Erwerbslosen um weitere 10 Millionen. Doch was sagen diese Zahlen aus?

Für die Mehrzahl der Beobachter machte sich das Phänomen steigender Erwerbslosigkeit dabei offensichtlich weniger an den Massenentlassungen in Indonesien, Thailand oder Südkorea fest, sondern am raschen Anstieg der Erwerbslosenrate im kapitalistischen Musterland Japan. Zahlreiche Bankrotte, Betriebsschließungen oder Umstrukturierungen mit der Folge des Beschäftigungsabbaus ließen diese im Sommer 1999 auf fast 5 Prozent schießen – der höchste Wert seit 45 Jahren.

Monatliche Erhebungen im Auftrag der japanischen Regierung dokumentieren, dass die Erwerbslosenrate im März 1999 bei 4,8 Prozent lag, im Juni und Juli auf 4,9 Prozent stieg und im Oktober wieder auf 4,6 Prozent fiel. Die absolute Zahl der Erwerbslosen ging somit von rund 3,34 Millionen auf 3,11 Millionen zurück. Abgesehen von diesem leichten Rückgang wird jedoch erwartet, dass die Zahl im nächsten Jahr die 5 Prozent wieder übersteigt.

Die japanische Regierung hatte keine Schwierigkeiten damit, den 0,2-prozentigen Rückgang der Erwerbslosigkeit als einen wirtschaftlichen Aufschwung zu interpretieren, doch für die 3 Millionen Erwerbslosen dürfte sich dies anders darstellen. Und noch weniger Bedeutung hat dieser Aufschwung für diejenigen Erwerbslosen, die in der Statistik ausgeblendet werden: Wie in vielen anderen Ländern beruht auch in Japan die Definition von Erwerbslosigkeit auf geschlechtsspezifischer Diskriminierung. Zahlreiche weibliche Erwerbslose werden allein deshalb statistisch nicht erfasst, weil sie zur Familie eines männlichen Haushaltsvorstandes zählen, der per definitionem als "wirtschaftlich aktiv" gilt. Fast automatisch gelten umgekehrt Frauen als "wirtschaftlich passiv", da davon ausgegangen wird, dass sie bei einem Verlust ihres Arbeitsplatzes wieder zur ‘versorgten Hausfrau’ werden. So weigert sich die japanische Regierung, Frauen über 30 ohne Arbeitsplatz als erwerbslos einzustufen – und kann damit eine wesentlich niedrigere Erwerbslosenrate präsentieren.

Je nach Definition der Erwerbslosigkeit werden damit Grundlagen für eine Diskriminierung bzw. Ausblendung bestimmter Gruppen und eine entsprechende "Bereinigung" der Statistik verbunden: Das japanische Labour Force Survey definiert Erwerbslose wie folgt: "Personen, die in der Woche der Befragung keine Arbeit hatten, jedoch dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und aktiv auf Arbeitsuche sind, oder auf die Resultate eines Bewerbungsgespräches warten". Das Arbeitsministerium schränkt diese Definition noch weiter ein: "Diejenigen, die ihre aktive Arbeitssuche in der Woche vor der Befragung nicht nachweisen können, gelten nicht als erwerbslos."

Für diejenigen, die noch nie erwerbslos waren, ist es schwer vorstellbar, wie schwierig der Nachweis der "aktiven Arbeitssuche" sein kann. In den meisten Regionen des Landes reicht es dabei nämlich nicht aus, sich beim Arbeitsamt registrieren zu lassen oder Zeitungsannoncen auszuwerten. Vielmehr müssen handfeste Beweise dafür erbracht werden, dass man schon bei Bewerbungsgesprächen war und versucht hat, auch Arbeit unabhängig von der eigenen Qualifikation anzunehmen. Da es letztlich um die Entscheidung über den Bezug von Arbeitslosengeld geht, muss man sich zudem oft hartnäckigen Befragungen der zuständigen Beamten unterziehen, in denen bewiesen werden soll, dass einem das Arbeitslosengeld nicht zusteht.

In einigen Ländern, wie z.B. in Australien, ist es dabei erforderlich, dass der Arbeitsuchende eine Unterschrift potentieller Arbeitgeber vorweist, die das aktive, aber vergebliche Engagement des Betreffenden um eine Arbeitsstelle belegt – was schnell und oft zu einer erniedrigenden Erfahrung wird. Wird eine Arbeit abgelehnt, weil die Löhne zu gering, die Arbeitsbedingungen schlecht oder der Arbeitsplatz zu weit vom Wohnort entfernt ist, ist damit zu rechnen, dass man als "wirtschaftlich nicht aktiv" gilt. Dies ist dann gleichbedeutend mit dem Verschwinden aus der Erwerbslosenstatistik und dem Verlust des Anspruchs auf Arbeitslosengeld.

Dieser individualisierende Zwang, Beweise für die aktive Arbeitsplatzsuche erbringen zu müssen, liegt auch den neuen Vorstellungen der ILO zur Definition von Erwerbslosigkeit zu Grunde.

In anderen Ländern, wie beispielsweise in Vietnam, muss jeder Arbeitsuchende zunächst eine Gebühr für die Registrierung der eigenen Erwerbslosigkeit zahlen, um sich dann für Jobs über staatliche, private und gewerkschaftliche Arbeitsvermittlungszentren bewerben zu können. Wer dies verweigert oder die Gebühr nicht zahlen kann, gilt als "nicht arbeitswillig". Diese Praxis verbreitet sich zunehmend in der gesamten asiatischen Pazifikregion. Unterstützt von Regierung und Gewerkschaft gibt es in den meisten Ländern zusätzliche "Re-Training"-Programme, die für die Arbeitsuchenden obligatorisch sind. Begründet wird dies mit der Dynamik und Flexibilität der Marktnachfrage, an die sich anzupassen als "Muss" gilt. Damit wird einerseits die Verantwortlichkeit für die Arbeitslosigkeit auf die Betroffenen selbst verlagert und andererseits über die Berufung auf die Markterfordernisse zugleich der "Zwangscharakter" der Trainingsmaßnahmen legitimiert.

Ein solches, technokratisches Verständnis wird nicht nur von ILO, UNO, Weltbank und IWF geteilt, sondern mehr oder weniger bereitwillig auch von sozialdemokratischen und sozialistischen und kommunistischen Parteien in der Region akzeptiert.

Eine Definition von Erwerbslosigkeit ähnlich der in Japan wurde 1994 auch von der Vietnamesischen Regierung auf Basis der Ratschläge von ILO- und UN-Bürokraten angewandt und scheint immer schneller zur allgemeinen Doktrin zu werden.

So ging eine von den UN finanzierte Studie zum Lebensstandard in Vietnam von der Definition aus, dass nur diejenigen als erwerbslos gelten, die älter als 13 Jahre sind, während der letzten Woche keiner Beschäftigung nachgingen und sich in den letzten sieben Tagen aktiv um Arbeit gekümmert hatten. Alle anderen galten als "ökonomisch passiv" und damit nicht als erwerbslos.

Solche Kriterien sind insbesondere für Frauen ein großes Problem: Gehen nämlich arbeitslose Frauen regelmäßig – wenn auch unbezahlter – Arbeit im Haushalt oder auf dem Land, das zum Haushalt gehört, nach, so wird davon ausgegangen, dass sie dem Arbeitsmarkt nicht frei zur Verfügung stehen, selbst wenn zusätzliche Aktivitäten auf dem Arbeitsmarkt nachgewiesen werden können. Damit gelten sie – ungeachtet der Tatsache, dass sie ohne Lohn arbeiten – als nicht erwerbslos. Wovon sich solche Personen ernähren sollen, wurde in der Studie nicht erwähnt.

In Indonesien wurden auf diese "definitorische" Weise die realen Erwerbslosenzahlen von 12 bis 14 Millionen auf knapp über 5 Millionen Personen herunter gerechnet.

Auf ähnlicher Grundlage war es auch der Regierung in Sri Lanka erstmals nach Jahrzehnten möglich, eine Erwerbslosenrate von unter 9 Prozent bekannt zu geben. Diese sank von 13,8 Prozent in 1993 auf 8,8 Prozent bis zum Jahresende von 1998. Diese erhebliche Reduktion basiert auf der neuen und verbindlichen Definition von Erwerbslosigkeit, die zu Beginn des Jahres 1998 verkündet wurde: "Arbeitet eine Person eine Stunde oder mehr pro Woche für Lohn, Profit oder auch unbezahlt für das Familieneinkommen, so fällt sie aus der Statistik heraus."

Durch die Einbeziehung aller unbezahlten Tätigkeiten für das Familieneinkommen fielen schlagartig mehr als 200.000 unbezahlt auf dem Land arbeitende Frauen, aber auch Hausfrauen unter die Kategorie "erwerbstätig". Das Resultat: Die Anzahl der Erwerbstätigen wurde erhöht und die Erwerbslosenrate reduziert, ohne dass die Zahl der Erwerbslosen oder Arbeitsuchenden tatsächlich gesenkt wurde.

Neben diesen statistischen Effekten hat die Manipulation mit Definitionen aber auch den Ausschluß aus den sozialen Sicherungssystemen zur Folge. Dies zeigt ein Blick auf die "Beschäftigungsversicherung" in Japan. Als die Arbeitslosenversicherung 1991 in "Beschäftigungsversicherung" umbenannt wurde, war damit zugleich eine Akzentverschiebung bei der sozialpolitischen Ausrichtung dieser Sozialleistungen verbunden. So sollte diese nicht länger den Charakter einer wohlfahrtsstaatlichen Absicherung haben, sondern wurde stärker auf die Absicherung einer kurzfristigen Übergangsphase zwischen zwei Beschäftigungsverhältnissen bezogen. Als solche wird sie nunmehr auch nur noch längstens 300 Tage gewährt.

Bedeutsamer ist jedoch die Tatsache, dass von der Annahme ausgegangen wird, dass bis kurz vor Antragstellung ein reguläres Beschäftigungsverhältnis vorgelegen hat und sowohl Arbeigeber als auch Arbeitnehmer anteilig ihre Erwerbslosenversicherungs-Beiträge gezahlt haben. Dies schließt automatisch eine Vielzahl von SaisonarbeiterInnen, Erwerbstätigen in Kleinstunternehmen oder irregulären Beschäftigungsverhältnissen aus. Doch selbst wenn ein Arbeitsloser eine reguläre Beschäftigung hatte und die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung ordnungsgemäßt gezahlt wurden, greift die strikte Ausschluss-Bestimmung: "Wenn eine Person eine Stunde oder mehr pro Woche innerhalb der letzten Woche des betreffenden Bezugsmonats gearbeitet hat, gilt sie oder er als beschäftigt." Da diese Definitionen auch für andere Sozialleistungen gelten, muss man sich fragen, wie ein Überleben für Hunderttausende von Teilzeit- und Gelegenheitsarbeitern und Zehntausende von Tagelöhnern unter diesen Umständen überhaupt möglich ist. Sie sind gefangen zwischen Löhnen, die nicht ausreichen, und Sozialleistungen, auf die sie niemals einen Anspruch erwerben können.

Keiner der hier aufgezeigten Trends ließe sich nur für Japan konstatieren. Die von ILO-Beamten entwickelte Modell-Logik, nach der jeder, der mehr als eine Stunde pro Woche arbeitet, als nicht-erwerbslos gilt, wurde und wird erfolgreich von ihnen selbst verbreitet – und ihre definitorische Vorarbeit wird gerne aufgegriffen.

In der Tat könnten die meisten ArbeiternehmerInnen vom Lohn einer Stunde Arbeit pro Woche leben – wenn es der der ILO-Beamten wäre. Doch damit hängt das Problem zusammen, dass all die offiziellen Definitionen von Erwerbslosigkeit bzw. Beschäftigung eines vermissen lassen: die Definition eines Lohns, der für Lebensunterhalt hinreichend wäre. Doch eine Wahrnehmung "des Lebens" scheint grundsätzlich zu fehlen.

 

Gerard Greenfield
Übersetzung: Ulla Silundika, Kirsten Huckenbeck

Erschienen in: "express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit" Heft 2/2000

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