Kommentar

Ausnahme oder Salamitaktik?

Dass auch Lohnsenkungen in Teilbereichen auf die Tarife ausstrahlen, wird niemand ernsthaft bestreiten

Von Ursula Knapp

Es ist in unserem Land Sache der Arbeitgeber und der Gewerkschaften, den Preis auszuhandeln, der für die Arbeitskraft bezahlt wird. Staatliche Lohnleitlinien oder gar Lohndiktate gibt es nicht. Was gilt aber für staatlich subventionierte Löhne, den so genannten zweiten Arbeitsmarkt? Dasselbe, sagten bislang die Gewerkschaften; auch hier habe die Tarifautonomie zu gelten. Im Prinzip ja, aber in Ausnahmen kann dieser Grundsatz für eine gewisse Zeit eingeschränkt werden, sagen jetzt die Verfassungsrichter.

Die Gründe lassen sich hören. Wer wird nicht einsehen, dass die Nürnberger Arbeitslosenkasse nicht unbeschränkt Geld hat, um für schwer vermittelbare Arbeitslose Zuschüsse an die Arbeitgeber zu bezahlen. Besser viele Langzeitarbeitslose erhalten weniger Geld, als dass noch weniger Menschen ins Arbeitsleben zurückfinden. Schließlich ist auch das Argument nicht von der Hand zu weisen, dass es keinen Anreiz mehr gibt, aus den ABM-Stellen heraus und in reguläre Arbeitsverhältnisse hineinzukommen, wenn in beiden Bereichen gleich viel verdient wird.

So weit, so gut. Man wird jedoch den Verdacht nicht los, dass sich in Zukunft noch viele Gründe für das Gemeinwohl finden ließen, warum eine Einmischung des Staats in die Lohnhöhe jeweils gerechtfertigt ist. Dass auch Lohnsenkungen in Teilbereichen auf die Tarife ausstrahlen, wird niemand ernsthaft bestreiten. Der Karlsruher Beschluss stellt dafür keinen Freibrief aus; aber ob der jetzt gebilligte Eingriff eine Ausnahme bleibt oder sich daraus eine Salamitaktik entwickelt, ist noch nicht entschieden.

Frankfurter Rundschau vom 05.08.1999