Neue Füsse für den Euromarsch

 

Die "Vorhut der sozialen Bewegung fuer ein anderes Europa" nannte Karel Gacoms, Streikfuehrer bei Renault Vilvoorde 1997, die Erwerbslosen, die am Freitag nachmittag in Koeln von ihren Maerschen aus Bruessel, Prag und Sueddeutschland eingetroffen waren, um am naechsten Tag mit Gewerkschaftern, Fluechtlingen und MigrantInnen, Vertretern der kurdischen Befreiungsbewegung, Antifas und politischen Organisationen zur zweiten grossen europaeischen Demonstration gegen Erwerbslosigkeit, Ausgrenzung, Rassismus und Krieg zusammenzukommen.

Vorhut der sozialen Bewegung, das sind die Erwerbslosen immer noch -- obwohl ihre Bewegung zurueckgegangen ist, einerseits weil die sozialdemokratischen Regierungen neue Passivitaet hervorbringen, andererseits weil das Antriebsmoment der Maersche: "Wir wollen eine neue Welt schaffen", bislang nur zoegerlich von anderen sozialen Bewegungen aufgegriffen wurde. Noch ist niemand da, der die Erwerbslosen beerbt in ihrer Funktion als Katalysator des sozialen Protests. Den politischen Parteien fehlt die Glaubwuerdigkeit, die Gewerkschaften wollen in ihrer Mehrzahl nicht, und die Gewerkschaftslinke, die anfaengt, ein Verstaendnis fuer die europaeische Dimension des Handelns zu entwickeln, stoesst an allen Ecken und Enden auf die Borniertheit und Hindernisse, die ihnen der gewerkschaftliche Apparat in den Weg stellt. Antirassistische Initiativen wie Feministinnen nutzen den Windschatten der europaeischen Mobilisierung, um sich selber zu vernetzen und eigene europaweite Aktionen zu planen; ein europaeisches Treffen der Antifa kam, obwohl gewollt, nicht zustande. Die kurdische Befreiungsbewegung hat sich zum erstenmal in den Kontext einer sozialen und europaeischen Demonstration gestellt -- man kann nur hoffen, dass der Eindruck bleibend war und Appetit auf mehr geschaffen hat.

Ein Volksfest zur Verteidigung der Menschenrechte nannte ein afrikanischer Asylbewerber aus Jena, Teilnehmer an der Fahrraddemo aus Prag, die Demonstration am 29.Mai. In ihrer Froehlichkeit, Buntheit und Lautstaerke war es eine Demonstration, wie es sie in Deutschland noch nicht gegeben hat. Der Mobilisierungserfolg von Amsterdam konnte wiederholt werden. Mit 30.000 Teilnehmenden wurde dieselbe Groessenordnung erreicht wie vor zwei Jahren (die Amsterdamer Demo zaehlte nach Angaben der Organisatoren 35.000 Teilnehmende, es war die Polizei, die damals von 50.000 sprach).

Die Zahlen verbergen jedoch Verschiebungen: Die Beteiligung der Erwerbslosen hat abgenommen, das schlug sich auch in der halbierten Zahl der Marschierenden nieder. In Amsterdam waren 600 zusammengekommen, in Koeln ueber 300. Die gewerkschaftliche Praesenz war geringer als die Unterstuetzung fuer den Gewerkschafteraufruf hatte vermuten lassen. Aus der BRD war nur die NGG zu sehen -- und eine einsame OeTV-Fahne; die Beteiligung aus Griechenland und Italien wurde durch den Krieg stark behindert. Die Griechen hatten urspruenglich vor, mit einem ganzen Zug bzw. mehreren Bussen zu kommen; wegen des Krieges schmolz die Delegation auf 120 zusammen. In Italien fand am selben Wochenende eine nationale Antikriegsdemonstration statt. Die "sozialen Zentren" (Autonome) kamen deshalb nicht und mobilisierten statt dessen nach Bari.

Aus England fehlten die Liverpooler Dockers; in Spanien ist die Mobilisierung ueber die anarchosyndikalistische CGT nicht hinausgekommen; Portugal und Norwegen fehlten ganz. Dafuer gab es in der schwedischen Delegation auch eine finnische Beteiligung, der zum Abschluss der Demonstration die Stafette uebergeben wurde -- der naechste EU-Gipfel findet in Finnland statt.

Doch es gab andere Gesichter, die in Amsterdam nicht dabeigewesen waren: die Fluechtlinge, darunter zahlreiche Afrikaner und Kurden; die Antifas; der kurdische Widerstand; eine kleine polnische Delegation; eine Gruppe Russen; die indischen Landarbeiter, die die Interkontinentale Karawane bildeten. Sie belegten eindruecklich, dass das "andere Europa", das die Euromaersche im Sinn haben, sich nicht auf die Grenzen der EU und auch nicht auf die geografischen Grenzen Europas beschraenkt. Hier bildet sich ein politischer Europabegriff heraus, der sich mit den Grenzen der EU und des Schengener Abkommens nicht deckt.

Die Groessenordnung der Mobilisierung konnte gehalten werden, weil die Euromaersche ihrer Grundidee treu geblieben sind: Sie verstehen sich nicht nur als Bewegung der Erwerbslosen, sondern als breite, europaweite soziale Bewegung gegen Erwerbslosigkeit mit all ihren Begleitumstaenden und Folgen. Deswegen haben sie auf der Koelner Konferenz im Januar den Begriff der Ausgrenzung praezisiert und um die rassistische Ausgrenzung erweitert; dies machte es moeglich, dass die Fahrradkarawane aus Prag von den Euromaerschen, der Karawane der Fluechtlinge und MigrantInnen und der Karawane Geld oder Leben gemeinsam durchgefuehrt wurde.

Die Maersche haben im April auf den Krieg mit einer Erklaerung reagiert, in der sie den Zusammenhang zwischen Armut, Ausgrenzung und Krieg herstellen und den Willen der Maersche betonen, konkrete Schritte fuer eine Vernetzung und Kommunikation der Voelker untereinander auch auf dem Balkan zu unternehmen. Frei von Reibungsmomenten war diese Ausweitung nicht; vor allem die Losung "Nein zum Krieg" stiess bei einigen TeilnehmerInnen aus Frankreich auf Ablehnung. Hier steht einer der Erwerbslosenverbaende (MNCP) den Gruenen nah, und die Gruenen in der franzoesischen Regierung gehoeren zu den aergsten Kriegstreibern.

Die gewonnene soziale Breite hat auch dazu gefuehrt, dass Maersche, Demonstration und Gegengipfel, die in Amsterdam noch getrennt liefen, diesmal unter dem gemeinsamen Dach der Maersche, der Studierenden und der politischen Jugendorganisationen durchgefuehrt wurden. Auf dem Abschlussplenum des Alternativgipfels trugen verschiedene Netzwerke die Ergebnisse ihrer Arbeit und ihre weiteren Projekte vor: die Euromaersche, "Kein Mensch ist illegal", die Studierenden, die Frauen. Leider fehlte der Chemiekreis, der ein sehr erfolgreiches eintaegiges Forum mit internationaler Beteiligung bestritten hat, leider auch die Antifas, deren europaeisches Treffen wie gesagt nicht zustandegekommen war.

Auch der Alternativgipfel hatte eine neue Qualitaet , und es tat keinen Abbruch, dass die Beteiligung daran mit 400 Leuten nur halb so stark war wie in Amsterdam. Er wurde von den sozialen Bewegungen, die nach Koeln mobilisiert haben, als Forum fuer ihren Dialog und die weitere Planung ihrer Arbeit genutzt. Damit legte er die Grundlage fuer eine weitere Zusammenarbeit, die weit ueber die Euromaersche hinausgeht.

Schliesslich haben zum Gelingen des ganzen wesentlich auch solche Initiativen beigetragen, die fuer Essen, Schlafen und Diskutieren die Infrastruktur stellten: die Naturfreunde mit dem Zeltlager, das nach anfaenglichen Schwierigkeiten ein voller Erfolg wurde; das Buergerzentrum Alte Feuerwache mit einem hoechst angenehmen Rahmen fuer alternatives Zusammenleben; das Kollektiv Rampenplan mit einer wohlschmeckenden Essensversorgung.

Zusammengenommen kann man sagen: Die europaeische soziale Bewegung ist keine Eintagsfliege geblieben; sie hat ihre Mobilisierungsfaehigkeit unter Beweis gestellt, sie hat sich ausgeweitet, sie hat die Zusammenarbeit verschiedener Netze befoerdert.

Dennoch sind die Euromaersche mit dieser Mobilisierung an Grenzen gestossen. Das spontane Engagement freiwilliger Kraefte reicht nicht mehr, um die vielfaeltigen Aufgaben zu bewaeltigen. Die personellen und finanziellen Mittel sind zu gering; und weil die Bewegung sich derzeit nicht spontan ausweitet, kommen auch nicht von selbst neue Kraefte hinzu. Jeder Schritt des Zusammenwachsens auf europaeischer Ebene bedarf eines erheblichen Einsatzes; wo dieser wegen Ueberforderung fehlte, wurden gravierende Maengel sichtbar:

Die inhaltliche Debatte des Erwerbslosenparlaments ist ueber die Bruesseler Erklaerung nicht hinausgekommen. Ein Teil hat versucht, europaweit einheitliche Betraege fuer Arbeitszeit und Mindesteinkommen aufzustellen -- stiess dabei aber auf heftigen Widerstand von anderen. So bleibt die Frage offen, ob dies der beste Weg ist, die Lebensstandards in Europa zu vereinheitlichen.

Die Debatte ueber die Niedriglohnpolitik und die Herausforderung, die sie fuer Erwerbslose und Gewerkschaften bedeutet, steckt hingegen noch in den Anfaengen. Sie mag sich konkretisieren, wenn im Dezember anlaesslich des EU-Gipfels in Finnland der beschlossene europaweite Aktionstag gegen Billiglohn und Zwangsarbeit durchgefuehrt wird.

Zusammen mit allen Kraeften, die an dieser Mobilisierung mitgewirkt haben, werden die Maersche diskutieren muessen, wie sie die genannten Maengel ueberwinden koennen, vor allem im Hinblick auf die naechste europaeische Grossaktion, die im Winterhalbjahr 2000 in Frankreich stattfinden soll:

Angela Klein