letzte Änderung am 10. November 2003

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Überlegungen zum " wie weiter" oder der 1. November als Keimform einer anderen sozialen und gewerkschaftlichen Bewegung?

Was für eine Protestbewegung wollen wir, formulierten wir Anfang September nach der Sitzung des Vorbereitungskreises in Berlin. Und wir haben auch zu unserem Erstaunen genau das erreicht, was wir uns in diesem Schreiben Anfang September gewünscht haben.

Wir haben unserer meiner Meinung nach folgendes erlebt:

Angestossen wurde dieser 1. November durch die willentliche Terminfestsetzung eines kritischen bunten Haufens von Menschen, die sich im August in Frankfurt getroffen haben. Sie wollten der organisierten Demobilisierung der Gewerkschaftsführungen etwas entgegensetzen. Wir schaffen es auch ohne die Bürokratien oder anders herum gerade deswegen haben wir eine Chance, dem Protest eine Stimme zu geben.

Es gab viel Pessimismus in unseren Reihen und manche Gelegenheiten und Streitereien in der Vorbereitungsgruppe für den 1. November wurden genutzt, um abzuwinken und auszusteigen. Die Niederlage wurde sicherlich herbeigesehnt auch in den Kreisen der Regierungsgewerkschafter a la Zwickel und Sommer. Ohne jede Befragung der Mitglieder brach die IG-Metall im Frühsommer den couragierten Streik im Osten ab und beförderte so den Fatalismus in der Bevölkerung " "die da oben machen sowieso was sie wollen, da kannste nichts machen

Dennoch kam dieser bunte Haufen in Frankfurt natürlich nicht aus dem Nichts, sondern war sehr wohl Produkt auch der unterschiedlichsten Bündnisse, Initiativen und Gruppen, die auch schon gegen die Hartzreformen und andere soziale und politische Angriffe aktiv waren.

Gleichzeitig haben wir aber auch den totalen Zugriff von Kapital und Politik auf das Alltagsleben der Menschen. Jede/ r merkt und spürt die Beleidigungen, die Medien, Politiker und Manager im öffentlichen Raum ständig verbreiten gegen die " Unrentablen" in dieser Gesellschaft, die "Nicht-Willigen" in der neuen Kriegssprache. Das alltägliche gesellschaftliche Mobbing als Grundlage für den sozialen Krieg.

Gleichzeitig erleben wir die alltägliche Jagd des Kapitals in den Betrieben und anderen Unternehmen nach maximaler Verwertung, wo keine Minute Zeit mehr bleiben soll für ein anderes Leben. Genau dieser Zwang, sich den Wünschen der "Käufer von Arbeitskraft" total unterzuordnen, also jede Arbeit zu jedem noch so niedrigen Lohn annehmen zu müssen, drückt sich aus in der Agenda 2010. Sie ist Ausdruck der sozialen Entrechtung und der Enteignung von sozialen Ansprüchen und folglich auch der sozialen Verarmung. Genau das empfinden immer mehr Menschen hier im Lande und das ist auch die Grundlage für die Bereitschaft, sich zu beteiligen an der Protestbewegung.

Die Gleichschaltung der Herrschenden drückt sich sehr gut aus in dem von Attac geprägten Begriff der neoliberalen Einheitspartei. Dazu gehören aber meiner Meinung auch Teile von sozialen Interessenverbänden, Kirchen und Gewerkschaften.

Die Vorbereitung auf den 1. November war nicht leicht, aber dennoch gelang es, einerseits eine Dynamik von unten freizusetzen und auch in den Entscheidungen des Vorbereitungskreises trotz vieler sektiererischer Reibereien und Parteiengezänk dennoch zur Handlungsfähigkeit zu kommen. Die Vorbereitung und Durchführung der Demo, der Ablauf und die Kundgebung haben allen Beteiligten, aber auch vielen Nicht -Beteiligten, die über die Medien davon erfahren haben, Schwung gegeben, sich vielleicht das nächste Mal auch praktisch einzumischen.

Keimformen einer anderen gesellschaftlichen Bewegung - parteienunabhängig und von unten -wurden sichtbar.

Aber, trotz diesem Ruck von unten und unserem Erfolg, der soziale Krieg geht weiter und die Gesetze werden weiter durchgezogen, die Hetze verschärft sich eher durch die neoliberale Einheitspartei mit ihren Anhängern in Gewerkschaften und Kirchen.

Diesselben Sozialabbau-Maßnahmen laufen in anderen Ländern Europas, in Italien, Frankreich, Österreich, u.a, egal welche Parteien die Regierungen stellen.

Die Lebensverhältnisse in Europa gleichen sich an. Auch innerhalb und zwischen den Gewerkschaften entstehen diesselben Widersprüche wie hier in der BRD. In Frankreich verlassen viele Tausend Lohnabhängige die CFDT-Gewerkschaften, die Brudergewerkschaft des DGB, weil die Führung dieser CFDT-Gewerkschaft die Sozialabbau-Reformen auch nicht bekämpft, sondern eher unterstützt hat im Gegensatz zu anderen Gewerkschaften wie der CGT und der SUD und grossen Teilen der arbeitenden Bevölkerung. Die Zwickel und Sommer gibt es also auch anderswo.

Keine Maßnahme wurde nach der 1. November Demonstration zurückgenommen, die Agenda wird weiter durchgezogen. Das heisst, die Menschen erwarten jetzt Vorschläge von uns, wie wir den Druck erhöhen können, wie wir gemeinsam diese Reformen zu Fall bringen und unsere Vorstellungen für einen Ausweg aus der Krise öffentlich weiterentwickeln.

Klar ist, der nächste Schritt muss in Verbindung geschehen mit dem Anhalten der kapitalistischen Produktionsmaschine, es geht darum Sand ins Getriebe zu streuen, um Zeit zu haben, uns zu versammeln und gemeinsam zu beraten. Denken wir an 1996 und den Beginn des Kampfes für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Damals waren es die Daimler-Arbeiter in Stuttgart, die den Anfang machten und eine soziale Dynamik in Gang brachten. Genau das muss einfach unser Ziel sein, einen europaweit festgelegten Aktionstag auf nationaler und europäischer Ebene, ausgehend von Arbeitsniederlegungen in allen gesellschaftlichen Bereichen und gemeinsamen Demonstrationen und Kundgebungen.

Im Klartext, Grundlagen zu schaffen für gemeinsame Aktionen und Streiks in der Bundesrepublik und in Europa.

Von dieser und den kommenden Regierungen aus dem Lager der neoliberalen Einheitspartei haben wir nichts zu erwarten ausser die Fortführung des sozialen Kriegs und der eigenen Bereicherung.

Auf der Grundlage eines solchen Vorschlags sollten wir sowohl lokal wie auch bundesweit Strukturen schaffen, die sich regelmässig treffen und sich auch als Aktions- und Vorbereitungsplenum für die gemeinsam verabredeten Aktionen verstehen.

Wichtig dabei ist, dass es natürlich keine Ausgrenzungen gibt, aber die Autonomie der sozialen Bewegung garantiert wird, keine Unterordnung unter irgendeine Partei und Gewerkschaftsführung akzeptiert wird, immer und vor allem aber die Betonung der sozialen Selbstorganisierung, des Appells nicht an die Gewerkschaftsapparate, sondern an die soziale Fantasie der betroffenen Bürger, ArbeiterInnen und Menschen in diesem Lande zur Leitlinie unseres Handelns wird. Natürlich können sich Vorstände von Ver.di und anderen Gewerkschaften an der Vorbereitung beteiligen, genauso wie einfache Kollegen von Opel oder Mercedes, Krankenschwestern aus Neukölln und der Charité oder gewerkschaftliche Vertrauensleute und KollegInnen, die aus den Gewerkschaften ausgetreten sind und plötzlich wieder begreifen, was gewerkschaftliches Handeln bedeutet.

Egalitäre Beziehungen zwischen allen Beteiligten und inhaltliche Debatten und strategische Orientierungen, die dann auch über die jeweiligen SprecherInnen und zeitweiligen Vertreterinnen der Bewegung entscheiden werden.

Ich denke, genau das war auch der Sinn der Diskussion über die Zusammenstellung der KundgebungsrednerInnen. Sie verkörperten in ihren Beiträgen sehr wohl das breite Spektrum der gesellschaftlichen Bewegungen gegen diesen Sozialabbau. Das bedeutet überhaupt nicht, dass es teilweise sehr viel weitergehende politische und soziale Vorstellungen in der Bewegung gibt, aber die Kunst einer solidarischen Bewegung besteht gerade darin, eine breite Zusammenfassung oppositioneller Strömungen zu garantieren, ohne radikalere oder eher gemäßigte Strömungen auszugrenzen. Genau das ist uns mit dem 1. November gelungen.

Das Sozialforum in Paris kommt genau zum richtigen Zeitpunkt.

Willi Hajek/ Gerald Wolf/ 8.November 2003

Als Anregung für die gemeinsame Diskussion am Sonntag nachmittag.

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