letzte Änderung am 8. August 2003

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Warum wir eine bundesweite Demonstration brauchen

Diskussionspapier für den die attac Sommerakademie und die Aktiv-Konferenz in Münster (August 2003)

Es gibt gegenwärtig keine größere gesellschaftliche Organisation, die zu aktivem Widerstand gegen die Politik der Bundesregierung aufruft. Wir plädieren dafür, dass Attac als erste größere Organisation die Passivität aufbricht. Ein erster Schritt ist unser Ansicht nach, ein bundesweites Bündnis auf die Beine zu stellen, das sich vornimmt, für eine bundesweite Demonstration am 1.November in Berlin zu mobilisieren. Attac sollte deshalb die Aktionskonferenz am 16.8. in Frankfurt unterstützen, zu dem von den Anti-Hartz-Initiativen, den Erwerbslosen und Gewerkschaftslinken aufgerufen wird.



Ausgangslage

Die Unzufriedenheit mit der Politik der Bundesregierung ist unserer Ansicht konstant auf hohem Niveau. Kaum jemand glaubt, dass die Maßnahmen der Bundesregierung für den Arbeitsmarkt oder im Gesundheitswesen die Probleme lösen werden, welche die Regierung vorgibt zu lösen.
Die soziale Situation breiter Bevölkerungskreise würde sich durch die Maßnahmen der Regierung massiv verschlechtern. 84% sind gegen die Maßnahmen der Gesundheitsreform, viele wissen zwar nicht, was Agenda 2010 und Hartz bedeuten, aber gefragt nach den einzelnen Maßnahmen, sind sie überwiegend dagegen. 60% der Bevölkerung finden die Politik von Schröder sozial ungerecht.
Das Trommelfeuer der Propaganda hat in erster Linie den Effekt, dass die Bevölkerung in Passivität verharrt, und sich auf das scheinbar unvermeidliche einrichtet. Die halbherzig vorgetragenen Alternativen (Reformen ja, Sozialabbau nein danke) wie sie von den Gewerkschaftsvorständen formuliert werden, entfalten aufgrund der Glaubwürdigkeits-krise der Gewerkschaften keine Anziehungskraft. Weit und breit ist für unzufriedene abhängig Beschäftigte und Erwerbslose keine soziale oder politische Kraft in Sicht, die den neoliberalen Brachialkurs aufhalten könnte.
Es ist unsere Ansicht nach deshalb falsch, von allgemeiner Resignation oder von neoliberaler Hegemonie in den Köpfen zu sprechen, sondern eher von einer Krise der Repräsentanz der Unzufriedenen und mangelnder Vernetzung und Organisierung des Widerstands von unten.
Die Bindungen an SPD, Grüne und auch die PDS haben sich weiter gelockert. Insbesondere der SPD und PDS liefen in den letzten anderthalb Jahren in Scharen die Unterstützer davon.


Was will die Regierung?

Die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorhaben der Regierung verfolgen das Ziel, die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie im Besonderen und der EU im Allgemeinen gegenüber dem Hauptkonkurrenten USA zu erhöhen. Ziel ist es, die Profite der Unternehmer massiv zu erhöhen und damit die Funktionskrise des Kapitalismus zu bewältigen. Die durchschnittliche Kapazitätsauslastung der Industrie beträgt ca. 75%, was für die Unternehmer Erweiterungsinvestitionen im großen Stil nicht erforderlich macht. Die verschärfte wirtschaftliche und militärische Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten ist unmittelbare Folge der ökonomischen Krise. Ob es zu einem neuen wirtschaftlichen Aufschwung kommt, ist unsicher. Die Früchte dieses Aufschwungs werden jedoch nicht die Masse der Lohnabhängigen ernten, sondern die Unternehmer. Und, die nächste Wirtschafts-krise ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

Ob die Ziele der Regierung und Unternehmer realisiert werden können ist offen. Dies wird entscheidend von dem Ausgang der sozialen Konfrontationen abhängen, den die koordinierte Offensive auf EU-Ebene hervorrufen wird (und ja bereits hervorgerufen hat).
Bereits im März 2000 beschlossen die Staats- und Regierungschefs der 15 EU-Mitgliedsstaaten auf dem Lissabonner EU-Gipfel die strategischen Ziele der EU für die nächsten Jahre. Während ihrer zweitägigen Beratungen einigten sie sich schließlich auf das Ziel, die Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Als Termin setzten sie sich das Jahr 2010. Mit ihrem Beschluss verabschieden sie, um es mit den Worten der EU-Kommission auszudrücken, eine Agenda für die wirtschaftliche und soziale Erneuerung Europas, die seither fester Bezugspunkt aller EU-Politiken ist. In den Folgejahren wurden in vielen Mitgliedsstaaten "Reformen" auf den Weg gebracht, die den größten Sozialabbau seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Ergebnis haben.

Die deutsche Bundesregierung steht fest hinter der Strategie von Lissabon, die sie selbst mit beschlossen und auf allen nachfolgenden EU-Gipfeln unermüdlich bekräftigt hat. Ungeachtet des 1998 erfolgten Regierungswechsels ist sie in Europa traditionell einer der Hauptfürsprecher jener neoliberalen Wirtschaftspolitik, deren konkrete Umsetzung in Deutschland mittlerweile mit Namen wie Riester, Hartz und Rürup verbunden ist. Ein wichtiger Grundpfeiler, auf dem die Strategie von Lissabon und die damit in Deutschland verbundenen Reformvorhaben aufbauen, ist der Stabilitäts- und Wachstumspakt, der ohne massiven Druck aus Deutschland wahrscheinlich so nie verabschiedet worden wäre.
Beschäftigt man sich mit den neoliberalen Politikkonzepten, wie sie derzeit von der EU vertreten werden, so lesen sie sich wie eine Blaupause für das, was von der Regierung Schröder zurzeit als "Reformvorhaben" in Deutschland durchgeboxt wird.

Um nur einige Beispiele zu nennen:

  1. in Deutschland soll wieder länger gearbeitet werden. Die Arbeiter und Angestellten arbeiten ca. 400 Stunden im Jahr weniger als in den USA, und der durchschnittliche Lebensstandard ist um einiges höher. Damit soll nun Schluss sein.
  2. Durch die Aushöhlung des Kündigungsschutzes und den verschärften Zwang der Arbeitsämter, fast jeden (Teilzeit)-Job anzunehmen, werden mittelfristig die Flächen-tarifverträge ausgehöhlt und somit eine allgemeine Lohnsenkung vor allem in Kleinbetrieben eingeleitet. Ostdeutschland spielt dabei für die Unternehmerverbände eine Vorreiterrolle.
  3. Der Anteil der Arbeitgeber an den Renten- und Sozialversicherungssystemen, sogenannte Lohnnebenkosten, sollen noch drastischer gesenkt werden, als dies in den letzten Jahren bereits geschehen ist. Praktisch ist dies nichts anderes als eine Lohnsenkung, denn wenn man nicht in Altersarmut oder in abgespeckter Krankenversorgung landen will, muss man in Zukunft diesen Anteil aus dem Nettolohn aufbringen (Privatisierung). So sollen die Gewinne aller Unternehmer erhöht werden.
  4. Der Staat zieht sich aus immer mehr sozialen Verpflichtungen zurück, während er die Steuerzahlungen der Konzerne reduziert. Das führt zu Abbau und Privatisierung von Bildung, Schließung und Privatisierung von sozialen Einrichtungen usw., also einer weiteren Einschränkung des Lebensstandards der Masse der Bevölkerung.

Zwei Optionen

Unserer Ansicht nach stehen wir vor grundlegenden politischen Klärungsprozessen. Grundlegend sehen wir zwei Wege
1. den der schrittweisen Anpassung an die neoliberale Sachzwangslogik oder
2. die prinzipielle Ablehnung dieser neoliberalen Sachzwangslogik und die Entwicklung von Widerstand dagegen.

Die Gewerkschaften

Ob Gewerkschaften als Bündnispartner für soziale Mobilisierungen und außerparla-mentarischen Widerstand kurz- und mittelfristig ausfallen, können wir nicht mit absoluter Gewissheit sagen. Was wir wissen ist, dass die Gewerkschaftsspitzen gegenwärtig keinen Widerstand gegen die sozialen Angriffe aufbauen. Wichtige Teile der Gewerkschaftsapparate sind offenbar bereit, sich schrittweise an die neoliberale Sachzwangslogik anzupassen.
Eine der Rechtfertigungen von Sommer & Co. für ihre Passivität ist, dass ihre Bemühungen mit den Demonstrationen gegen Agenda 2010 gescheitert sind. Tatsache aber ist, dass diese Demonstrationen nicht ernsthaft vorbereitet, mobilisiert und zwischen den Gewerkschaften koordiniert wurden, einmal abgesehen davon, dass man von den Großstädten wie Berlin zu Demonstrationen in kleinere Städte wie Leipzig aufrief, was ein durchgängiges Muster war.

Der Metallerstreik im Osten hätte gewonnen werden können, wenn gewichtige Teile des IG- Metall-Gewerkschaftsapparates nicht davor zurückgeschreckt hätten, einen größeren Konflikt mit den Unternehmern und letztlich der Regierung einzugehen. Ein Sieg der Kolleginnen und Kollegen im Osten würde es Schröder natürlich viel schwerer machen, die Gewerkschaften auf neoliberalen Kurs zu bringen. Doch stattdessen zog es Zwickel vor, den Streik nach einem Gespräch mit Schröder eigenmächtig für beendet zu erklären. Der Zwickel/Huber - Sommer-Schmoldt-Flügel der Gewerkschaften jedoch will das Tischtuch mit der SPD nicht zerschneiden.
Wir denken, dass der Kampf innerhalb der Gewerkschaften weitergehen wird. Dass sich Peters als Vorsitzender durchgesetzt hat, ist unserer Ansicht darauf zurückzuführen, dass der Widerstand unter der Belegschaft in den Metall-Großbetrieben gegen den Zwickel-Huber-Kurs stark ist. Doch es bleibt abzuwarten, welchen Kurs die IG Metall einschlagen wird. Wir gehen nicht davon aus, dass Peters sich einem Anpassungskurs der Gewerkschaftsapparate an die SPD entgegenstemmen wird bzw. daran etwas ändern kann. Entscheidender Faktor wird sein, was sich unter den Belegschaften entwickelt und ob sich innerhalb der IG Metall im Rahmen der Gewerkschaftslinken ein oppositioneller Kurs unter den aktiven Gewerkschaftern entwickelt.

Um der Krise der Gewerkschaften entgegenzuwirken, wäre unserer Ansicht nach eine grundlegende Transformation der Gewerkschaften notwendig. Wie das aussehen könnte, können wir hier nicht ausführen. Ein wichtiges Ziel solch einer Transformation ist, dass Gewerkschaften und aktive Gewerkschafter in verstärktem Maße die Kooperation mit den sozialen Bewegungen suchen, denn trotz aller Rhetorik und vereinzelter Zusammenarbeit gibt es hier noch eine große Kluft. Wir betonen, dass es unserer Ansicht nach vor allem an der verstärkten Akzeptanz der neoliberalen Agenda und der institutionell-realpolitischen Logik der Gewerkschaftsapparate liegt, dass solch eine Kooperation auf breiter Ebene bisher nicht zustande gekommen ist.

Attac

Wir glauben nicht, dass Attac gut damit beraten wäre, Ratschläge an die Regierung zu machen, mit der Idee, dass die Regierung dann ihre neoliberale Agenda aufgibt und eine Politik der sozialen Gerechtigkeit gegen die Unternehmer durchsetzen wird. Wir gehen davon aus, dass SPD und Grüne sich hundertprozentig der neoliberalen Agenda verschrieben haben. Einen Bruch dieser Parteien mit ihrer Politik halten wir zu 100% für ausgeschlossen. Sie werden niemals ein wie auch immer geartetes neo-keynsianistisches Wirtschafts- und Sozialprogramm übernehmen. Auch die PDS wird das da, wo sie in der Regierungsverantwortung steht, nicht tun. Bereits jetzt weicht die PDS im Bund ihre Positionen auf und verliert ihre Trennschärfe gegenüber der neoliberalen Agenda.

Wir betonen, dass wir unsere Zweifel daran haben, dass sich Attac wirtschaftspolitisch keynsianistischen Forderungen und Gesellschaftsvorstellungen verschreibt. Vielerlei Argumente, für die wir hier nicht genügend Raum zur Entwicklung haben, sprechen unserer Ansicht nach dagegen, dass keynsianistische Politikvorschläge noch die Relevanz entfalten können, die sie vor über 30 Jahren einmal gehabt haben. Und selbst wenn das der Fall wäre, halten wir die damit verbundenen gesellschaftspolitischen Vorstellungen für nicht wegweisend und anti-emanzipatorisch.
Wofür wir uns zurzeit stark machen können, sind unserer Ansicht nach konkrete Forderungen, die von vielen sozialen Akteuren formuliert werden. Nur wenn diese Forderungen mit sozialen Mobilisierungen verbunden sind, werden diese Forderungen jemals eine Relevanz erreichen und die Gegenseite herausfordern können.

Die Passivität durchbrechen

Um nicht in der Hilflosigkeit gegenüber dem "Klassenkampf von oben" stecken zu bleiben, müssen wir erste Zeichen setzen, die aufzeigen, dass es auch anders geht, als sich anzupassen oder passiv zu bleiben. Jetzt wo die zentralen Gesetzesvorhaben der Agenda 2010 und der Gesundheitsreform noch nicht im Parlament beschlossen sind, bietet sich mit einer bundesweiten Demonstration am 1.11. eine erste Möglichkeit, den Stein ins Rollen zu bringen und damit bundesweit ein Signal zu setzen. Dies würde dann auch die Ausgangsbedingungen für unsere Aktivitäten auf dem sozialen Feld für nächstes Jahr verbessern.

Wir gehen davon aus, dass durch eine gemeinsame Kraftanstrengung und Mobilisierung im Rahmen einer gemeinsamen Kampagne, die am 16.8. auf der Aktionskonferenz in groben Zügen beschlossen werden müsste, die Chance besteht, dass Zehntausende in Berlin demonstrieren. Aufgrund der im selben Zeitraum im Berliner Abgeordnetenhaus stattfindenden Beratungen über den Doppelhaushalt 2004/5, der Kürzungen in allen Bereichen von über 1,5 Mrd. Euro beinhaltet, könnte eine Demonstration noch mehr Menschen ansprechen.

Wie weit wir, gemeinsam mit anderen, bei der Mobilisierung des Widerstands kommen werden, hängt auch von uns selbst ab. Zum einen von der Qualität unserer Aufklärungskampagne gegen den Sozialabbau, die wir nach der Sommerakademie starten müssten. Zum anderen von der Frage, inwieweit es uns gelingt, lokale Abwehrkämpfe zu verallgemeinern und lokale Mobilsierungsbündnisse zu initiieren, die es schaffen, in die Betriebe und Büros - sowie in die Reihen der unzufriedenen Anhänger von SPD, PDS und Grünen - hineinzuwirken.

Alle am 1.November nach Berlin!

Sascha Kimpel, Mitglied von attac Berlin und engagiert in der Initiative für ein Berliner Sozialforum
Werner Halbauer, attac-Projektgruppe Agenda 2010, Berlin (kleine Korrekturen W.Hüfler, RT)


Liebe attacies, liebe Freundinnen und Freunde,

ich habe am Wochende im Rahmen der Attac Sommerakadamie an der Aktiv-Konferenz von Attac teilgenommen. An der Aktiv-Konferenz haben etwa
100 attacies teilgenommen.

Als erstes wurde aus den Städten, in denen Attac sich gegen Hartz, Agenda 2010 etc. engagiert, berichtet. Die Erfahrungen sind sehr unterschiedlich. Die Bedeutung der politischen Arbeit von Attac in dem Bereich "soziale Sicherung bzw. Arbeit" nimmt jedoch offensichtlich zu.

Nach einer kontroversen Diskussion wurde sich auf folgendes im Konses geeinigt.

1. Die Aktiv-Konferenz ruft dazu auf, sich an der Aktionskonferenz gegen Hartz, Agenda 2010, Rürup & Co. zu beteiligen. Für die interessierte Attac
Öffentlichkeit wird der Aufruf zur Aktionskonferenz auf der Webseite von Attac bekannt gemacht.

2. Die Aktiv-Konferenz unterstützt die dezentralen Aktivitäten die von verschiedenster Seite für den Oktober vorgeschlagen werden.

3. Die Aktiv-Konferenz unterstützt die Idee, dass am 1.November eine gemeinsame Aktion gegen Agenda 2010, Gesundheitsreform & Co stattfindet. Ein Gradmesser für den Charakter der Aktion ist die Beteiligung und die Diskussion an der Aktionskonferenz am 16.August. Ein weitere die Stimmung in der Bevölkerung sowie Gespräche, die mit weiteren Bündnispartnern aufgenommen werden soll. Nach diesen Diskussionen in den nächsten Wochen
wird dann klar sein, ob am 1.November

a) eine "Parade des Protests" oder
b) eine bundesweite Demonstration

stattfindet.

4. Die Aktiv-Konferenz fordert die Gremien von Attac dazu auf, geeignete Maßnahmen einzuleiten, damit die Aktion sowie die dezentralen Aktivitäten im Oktober am 1.November ein Erfolg werden.

Es wäre gut, wenn ihr in euerem Bereich diesen Konsens weiterverbreiten würdet. Möglicherweise wird in den nächsten Tagen auch noch was von den Gremien bzw. AG´s von Attac kommen.

Herzlicher Gruss,
Sascha Kimpel

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