Gesundheitswesen
Beschäftigte in der Altenpflege sind zunehmenden körperlichen und vor allem psychischen Belastungen ausgesetzt. Die Hauptursache liegt in der Pflegeversicherung, die nur den rein körperlichen Pflegeaufwand bei älteren PatientInnen berücksichtigt Zeit- und Personalknappheit und Arbeitsüberlastung beim Pflegepersonal verstärkt.
Die Pflegeversicherung in ihrer jetzigen Form hat zu einer spürbaren Verschlechterung der Arbeitsbedingungen in der Altenpflege geführt. Physische und psychische Belastungen und Beanspruchungen sind erheblich gewachsen. Diese Auffassung vertritt die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) (vgl. Arbeit & Ökologie-Briefe 9/1999, Seite 4). Die Ursache wird vor allem im Einstufungssystem gesehen. Die Bewertung der Pflegebedürftigkeit und die Berechnung der Pflegesätze richten sich in erster Linie nach den körperlichen Beeinträchtigungen der zu Pflegenden. Ursula Wetzel, Leiterin des Referats Altenhilfe beim Caritasverband, verweist darauf, die Pflegeversicherung klammere die besonderen Probleme von Demenzkranken aus. Sie berücksichtige nur den Hilfsbedarf bei der Körperhygiene, der Ernährung und der Fortbewegung. Der tatsächlich höhere Pflege- und Betreuungsaufwand werde von den Pflegekassen nicht angemessen vergütet. Für die Pflegebedürftigen führe das zu einem raschen Abbau ihrer Fähigkeiten und ihrer Selbständigkeit. Für die Beschäftigten entstünden dauernde Frustration, beständiger Stress und die Gefährdung ihrer körperlichen und seelischen Gesundheit.
Nach Angaben der BGW gibt es in der Altenpflege 840.000 Beschäftigte in über 1.000 ambulanten und stationären Einrichtungen. 1998 wurden der BGW 2137 Anzeigen auf Verdacht einer Berufskrankheit gemeldet, hauptsächlich Hauterkrankungen (943), Infektionskrankheiten (306), Wirbelsäulenerkrankungen (687) und Atemwegserkrankungen (99). Auch die Arbeitsunfallhäufigkeit ist hoch.
Schon vor einiger Zeit hatte die BGW in einer Resolution an die politisch Verantwortlichen auf die sich verschlechternden Arbeitsbedingungen und die daraus folgenden hohen Belastungen für das Pflegepersonal hingewiesen (siehe Kasten). Norbert Badziong, Vorstandsvorsitzender der BGW und Mitglied der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, konnte mitteilen, diese Intervention sei zwar auf viel Sympathie und Zustimmung gestoßen. Bis zu konkreten Veränderungen ist es aber noch ein weiter Weg.
Annett Zeh, Diplom-Psychologin bei der BGW, umreißt die zunehmenden psychischen Belastungen und ihre Folgen konkret. Sie führten kurz- oder mittelfristig zu somatischen Beschwerden, zu allgemeinen Störungen der Befindlichkeit wie Müdigkeit, Schlafstörungen, Gereiztheit sowie zu Motivationsmangel und Arbeitsunzufriedenheit. Dadurch seien langfristige gesundheitliche Folgen zu erwarten, wie etwa chronische Erkrankungen, Depressivität und emotionale Erschöpfung. Derzeit, berichtet Annett Zeh, entwickele die BGW ein praktikables Instrument zur Erhebung psychischer Belastungen in diesem Bereich.
Der Psychologe Dr. Andreas Zimber vom Zentralen Institut für seelische Gesundheit in Mannheim berichtet über ein im Auftrag der BGW entwickeltes Qualifizierungsprogramm, das vor allem die organisatorischen, sozialen und personalen Kompetenzen der Altenpflegekräfte stärken solle. Schwerpunkte sind hier der Umgang mit demenzkranken PatientInnen, der Umgang der Beschäftigten mit ihren eigenen Belastungen und die Kommunikation bzw. auch die Führung von MitarbeiteiterInnendurch Vorgesetzte. Bei dem Programm geht es darum, mehr Qualifikation, größere Tätigkeitsspielräume und mehr soziale Unterstützung am Arbeitsplatz zu sichern.
Wie Zimber berichtet, wurde das Programm im Rahmen einer Pilotstudie in elf Mannheimer Alten- und Pflegeheimen erprobt. 88 Pflegepersonen nahmen insgesamt daran teil (34 Leitungskräfte, 54 MitarbeiterInnen). Die Beschäftigten wurden von Fachleuten trainiert und nahmen danach an 12 wöchentlichen Sitzungen zu je 90 Minuten innerhalb ihrer Einrichtungen teil. Hier wurde durch Befragungen und Vergleiche mit nicht beteiligten Kontrollpersonen getestet, ob die pflegerischen Kompetenzen und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten durch das Training verbessert werden konnten. Zimber konstatiert Verbesserungen im Klima zwischen Personal und PatientInnen. Auch die Arbeitsbelastungen seien z.T. erheblich reduziert worden.
Der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Stefan Görres vom Lehramt Pflegewissenschaften der Universität Bremen weist darauf hin, das Hauptproblem seien die Auswirkungen des Gesetzes über die 1. und 2. Stufe der Pflegeversicherung vom 1. Juli 1996. Den dadurch ausgelösten strukturellen Veränderungen und fachlichen Ansprüchen stünden "defizitäre Ausgangsbedingungen" gegenüber, die es gerade erschwerten, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Es sei zu erwarten, dass der Spielraum für eine bedarfsgerechte Betreuung demnächst sogar noch enger werde als bisher.
Weitere Informationen: BGW, Öffentlichkeitsarbeit, Torsten Beckel, Pappelallee 35/37, 22089 Hamburg, Tel.: 040/20 20-75 09, Fax: 20 20-79 06, http://www.bgw-online.de.
Resolution der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege
Vertreterversammlung und Vorstand der Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) fordern die politisch Verantwortlichen auf, umgehend rechtliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, um für die Pflegebedürftigen eine qualitative Pflege zu ermöglichen und zugleich für das Pflegepersonal eine Tätigkeit ohne Gefährdung für die eigene Gesundheit sicherzustellen.
Die Selbstverwaltung der BG stellt mit zunehmender Besorgnis wachsende arbeitsbedingte Gesundheitsgefährdungen in den Pflegeberufen fest.
Die jetzige Situation in den Pflegeberufen - insbesondere in Pflegeheimen und ambulanten Pflegediensten -, die durch gesetzliche Vorgaben und von den Sozialleistungsträgern ausgehenden wirtschaftlichen Druck hervorgerufen ist, führt zu immer größeren physischen und psychischen Beanspruchungen am Arbeitsplatz, die zu dauerhaften Ekrankungen und vermehrten Berufsabwanderungen führen. Die krank machenden Rahmenbedingungen verursachen eine politisch nicht mehr zu vertretende Kostenkette: Entgeltfortzahlungen, Heil- und Behandlungskosten, medizinische und berufliche Rehabilitation, Berufs- und Erwerbsunfähigkeit belasten sowohl die Volkswirtschaft als auch die Betriebe; dies geht auch zu Lasten der Pflegebedürftigen.
Die Selbstverwaltungsorgane der BGW können durch die aufgezeigte Entwicklung das berufsgenossenschaftliche Grundprinzip "Prävention vor Rehabilitation und Entschädigung" nicht mehr erfüllen.
Dieser Artikel erschien zuerst in Heft 1/2000 der Arbeit & Ökologie-Briefe. Einzelhefte können bestellt werden beim Bund-Verlag, Postfach 90 01 68, 60441 Frankfurt/Main, Tel.: 069/79 50 10-51 bis 53, Fax: 79 50 10-10, e-mail: service@bund-verlag.de.
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