01.Juli 1998 Jungle World

Der große Eisenbahnraub

Deutsche Bahn: Entlassungen, Lohnsenkungen und Arbeitshetze für die einen, für die anderen Immobilien-Schnäppchen und gut dotierte Posten

 

Jeder ICE verließ zur Neueröffnung der Berliner Stadtbahn im vergangenen Monat die völlig überfüllten Bahnhöfe mit mindestens einer Stunde Verspätung. Und irgendwann und irgendwo, auf jeden Fall nicht am Bahnhof Zoo, liefen die blauen Interregio-Züge in die Stadt ein.

Handelte es sich wirklich nur um "eine unglückliche Kulmination von an sich unbedeutenden technischen Pannen, die sich im Dominoeffekt aufschaukelten", wie die Bahn AG behauptet, oder hatte "die Klasse" zugeschlagen? Fast sah es danach aus: Für 1,5 Prozent mehr Lohn, wie kürzlich zwischen der Bahn AG und der Gewerkschaft der Eisenbahner ausgehandelt, ist eben nicht 150 Prozent mehr Leistung zu haben. "Von bewußter Sabotage würde ich nicht sprechen, aber die Stimmung unter den EisenbahnerInnen ist schon ausgesprochen schlecht. Zerrieben zwischen einem Aktionismus und Arbeitshetze von oben, Betriebschaos durch die Zerlegung der DB in fünf eigenständige Aktiengesellschaften und einer realen Überforderung, mit den neuen Techniken klarzukommen, haben viele einfach keine Lust mehr, sich mehr als notwendig ein Bein rauszureißen", so ein Berliner Bahner.

"Der Glaube, Technik und Natur seien absolut beherrschbar, ist ein typisch männlicher Allmachtswahn", schreibt der Verkehrsexperte und PDS-Bundestagsabgeordnete Winfried Wolf in einer Presseerklärung zum ICE-Unglück von Eschede. Die gängigste Entschuldigung für Unglücke sei "menschliches Versagen". "Tatsächlich ist der Mensch nicht unbegrenzt belastbar und Personalabbau, Arbeitsintensivierung und reduzierte Ausbildungsstandards haben gerade in jüngster Zeit diese 'Schwachstelle' bei der Bahn vergrößert. Zumal die Orientierung am Profit, auf die eine entstaatlichte DB AG ausgerichtet sein muß, optimaler Technik im Wege steht."

Obwohl das mögliche Problem mit den Radreifen mindestens seit drei Jahren bekannt und entsprechende Sicherheitstechnik vorhanden ist, wurde es wie das Risiko behandelt, ob bei einem normalen Pkw irgendwann der Reifen platzt: wird schon gutgehen. Klappt ja auch in 99,99 Prozent aller Fälle. Inzwischen hat ein Hamburger Rechtsanwalt Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung gegen Bahnchef Johannes Ludewig und seinen Vorgänger Heinz Dürr erstattet. Aus Wirtschaftslichkeitsgründen sei die Sorgfaltspflicht mißachtet worden.

Der "subjektive Faktor" läßt sich auch auf der anderen Seite, im Bahn-Management finden. Kurz vor der Bundestagswahl organisiert die CDU für einige ihrer Mitglieder noch ein paar gut dotierte Posten. So ist der Kohl-Duz-Freund Johannes Ludewig seit wenigen Monaten neuer Vorstandschef der DB AG - Jahresgehalt zirka eine Million Mark. Und auch Axel Nawrocki, der schon die Berliner Olympiabewerbung in den Sand setzte, ist seit neustem als Chef des Bereichs Fernverkehr im Vorstand zu finden.

Für den ehemaligen Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, Werner Münch, wurde sogar extra eine neue Stelle geschaffen: Beauftragter der Konzernleitung bei der EU in Brüssel. Nur ein gelernter Eisenbahner läßt sich im Vorstand nicht finden, dafür aber jede Menge Ex-Manager aus der Automobilindustrie. Um einen möglichen Konkurrenten niederzuhalten, wie Winfried Wolf mutmaßt?

Prinzipiell ist die Bahn das geeignete Mittel, eine allgemeine Mobilität zu sichern. Und bei weitem das sicherste und ökologischste. Nur für die Hochgeschwindigkeitstrassen und den ICE ab etwa 250 km/h trifft dies nicht zu. Durchschnittlich 10,6 Toten je Milliarde Personenkilometer im Straßenverkehr stehen 0,6 Tote im Schienenverkehr gegenüber.

In einem Manifest der 1 435 Worte (Spurweite der meisten europäischen Bahnen) fordern im März dieses Jahres eine illustre Schar von Verkehrs- und Umweltschutzverbänden sowie VerkehrspolitikerInnen von PDS und Bündnis 90/Grüne eine Umkehr in der Bahnpolitik: "Für eine Flächenbahn - gegen einen Kurs aufs Abstellgleis". Besonders die geplanten Steckenstillegungen, die das Bahnnetz quasi halbieren würden, werden angeprangert. Gegenüber Straßenverkehr sowie der Luftfahrt wird die Bahn fundamental benachteiligt. Flugbenzin ist steuerfrei, aber die Bahn muß Mineralölsteuer bezahlen.

Man kann den Teufel auch mit dem Beelzebub austreiben. So unerträglich und uneffektiv staatliche Behörden auch sind (erinnert sei hier nur an die Telekom), ihre privatwirtschaftliche Organisation ist in keiner Hinsicht besser. In zwei Schritten wird die Deutsche Bahn auf den Gang an die Börse vorbereitet. 1994 wurde sie in eine Aktiengesellschaft, die DB AG, umgewandelt.

1997 wurde die DB AG in einem weiteren Schritt faktisch in fünf eigenständige Aktiengesellschaften zerlegt. Jeweils eine für den Fern-, Nah- und den Güterverkehr, eine für die Gleisanlagen sowie für die Bahnhöfe und Verwertung der Immobilien. Am 1. Januar 1999 wird diese Trennung auch formal vollzogen, dann soll es bald an die Börse gehen. Da jede dieser AGs nur auf ihr isoliertes betriebswirtschaftliches Ergebnis zu achten hat, gerät die Eisenbahn als organisches Gesamtsystem schnell aus dem Blick, und die AGs beginnen, gegeneinander zu arbeiten.

Für die MitarbeiterInnen bedeutet die Privatisierung vor allem den Abbau von fast zweihunderttausend Arbeitsplätzen innerhalb weniger Jahre (von 456 433 bei der Vereinigung 1990 auf 265 000 Ende 1997). Immer mehr Tätigkeiten werden an Sub-Unternehmer und Tochtergesellschaften mit deutlich schlechteren Arbeitsbedingungen vergeben. Gleichzeitig herrscht für die im Unternehmen Verbliebenen eine zunehmende Arbeitshetze und Rationalisierungsdruck, gekoppelt mit einem Aktionismus von oben, der an beste DDR-Zeiten erinnert. Das schönste Beispiel hierfür ist die Pünktlichkeitstafel am Bahnhof Zoo.

Bahnfahren ist einfach zu teuer. Selbst mit Bahncard ist kein Ticket für 169 Mark von Berlin nach Stuttgart hin und zurück zu bekommen. Aber für das Flugzeug. Zwar gibt es seit Anfang Juni Versuche, mit neuen Sonderangeboten und Supersparpreisen gegenzusteuern. Doch all diese Sonderpreise sind nur das Eingeständnis, daß der normale Fahrpreis viel zu hoch ist.

Allein mit dem Schönes-Wochenende-Ticket hat die Bahn mal den richtigen Weg eingeschlagen. Das Ticket ist ein voller Erfolg: ausgelastete Züge am Wochenende und darin eine bunte Mischung der ärmeren Bevölkerungsteile der BRD. Doch dieses bunte Treiben ist nicht die "qualifizierte Öffentlichkeit", von der die DB-Chefetage träumt.

Man braucht nicht unbedingt einen Zug zu überfallen, um sich am öffentlichen Vermögen der Bahn zu bereichern. Man kann sich auch die großen Flächen der Bahn in den Innenstädten als Immobilienschnäppchen unter den Nagel reißen. So schrieb Focus bereits 1993: "Das Mega-Milliarden-Ding: Das 41 000 Kilometer lange Schienennetz ist als Immobilie pures Gold".

Doch auch mit Beton läßt sich gut verdienen: statt für eine Milliarde die bestehende Strecke von Berlin nach München durch den Thüringer Wald auf 200 km/h auszubauen und Züge mit Neigetechnik zu beschaffen, wird für knappe zehn Milliarden eine Neubautrasse inklusive eines 45 Kilometer langen Tunnels durch den Thüringer Wald geschlagen. Dasselbe gilt für die neue ICE-Trasse von Frankfurt/Main nach Köln. Das entsprechende "rollende Material" wird beim nationalen Monopolisten Siemens bestellt.

Anfang der neunziger Jahre wurde mit allen Mittel verhindert, daß der französische TGV-Hersteller GEC-Alsthom den VEB Waggonbau Ammersdorf bei Halle/Saale kaufte. Denn in diesem Falle hätte auch der TGV als "deutsches Produkt" gegolten und die Propagandisten der Marktwirtschaft hätten ihren ICE einmal wirklich den Marktgesetzen ausliefern müssen. Beim Export nach Übersee hatte bisher der TGV die Nase vorn.

Auch der Daimler-Benz-Konzern kaufte sich in den letzten Monaten unter dem Namen ADtranz einen internationalen Eisenbahnkonzern zusammen. Vielleicht für den Fall, daß mit dem Pkw-Individualverkehr mal was schiefgeht.

Christoph Villinger