VW-WERK IN RESENDE: NEUE INDUSTRIELLE REVOLUTION

Gesendet vom Norddeutschen Rundfunk am 16. Dezember 1996 - ca. 8 Wochen nach der Eröffnung des Werkes
Recherche und Manuskript: Gaby Weber

 

E r z ä h l e r i n : Am 1. November wurde in Brasilien das neue Volkswagen-Werk feierlich eröffnet. Der Staatspräsident hielt die Festrede und kündigte eine "neue Revolution" an, eine "industrielle Revolution": Vorreiter sind diesmal nicht die Japaner mit ihrer zeitsparenden just-in-time-Produktion sondern die Deutschen.

1. Skip: "A revolucao consiste nos fornecedores ... "
Z i t a t o r : Die industrielle Revolution besteht aus der Kooperation mit den Teile-Lieferanten, die für Volkswagen das gesamte Auto zusammenbauen. In der Montage der VW-Fabrik arbeitet kein einziger VW-Angestellter mehr.

E r z ä h l e r i n : Luiz de Luca (sprich: Luís di Lúcka) ist Produktionsleiter im neuen Werk der Volkswagen AG - der "Volks" - wie das Unternehmen in Brasilien kurz genannt wird. Die Fabrik in Resende (sprich: Riséndi), 160 Kilometer östlich von Rio de Janeiro gelegen, war für eine halbe Milliarde Mark errichtet worden. Und das soll erst der Anfang sein. Bis zum Jahr zweitausend will die "Volks" in Brasilien vier Milliarden Mark investieren.

Die "industrielle Revolution" in Resende heißt: Consorcio modular (sprich: Konssórssio modulár). wörtlich übersetzt: Modul-Konsortium. Ein "Konsortium" ist - so steht es im Duden - ein "vorübergehender Zusammenschluß von Unternehmen zur Durchführung eines größeren Geschäfts"; ein "Modul" ist ein "komplexes Teil einer Maschine, die eine geschlossene Funktionseinheit bildet", zum Beispiel ein Motor.

Das Modul-Konsortium wurde in jahrelanger Arbeit vom Vize-Präsidenten der Volkswagen AG, José Ignacio López, entwickelt - zunächst für General Motors. Dort wollte man jedoch - das ist zumindest die Version von Volkswagen - seinen Vorschlag nicht akzeptieren. Mit der neuen Produktionsweise will López zwanzig Prozent der Kosten senken und flexibler auf die Anforderungen des Marktes reagieren. Man benötigt keine teure Lagerhaltung mehr sondern produziert genau das, was am nächsten Tag gebraucht wird. Die Module müssen nicht von weit weg angefahren werden, sondern werden vor Ort, an der nächsten Werkbank, hergestellt.

2. Skip: "Existen todos os dias .... "
Z i t a t o r : Jeden Morgen setzen wir uns mit allen Zulieferern an einen runden Tisch und besprechen die Lage. Wir planen die jeweilige Produktion des Tages, was wir für sie benötigen und diskutieren die aufgetauchten Probleme. Die Entscheidung werden einstimmig getroffen, und niemand besitzt Weisungsrecht. Volkswagen kann keinem Lieferanten einen Befehl erteilen. Dies ist in einem Vertrag festgelegt, den wir mit jedem Lieferanten abgeschlossen haben. Alle Beteiligten haben die gleichen Rechte. Die einzigen Unterschiede im Vertrag beziehen sich auf die geleisteten Investitionen, die Amortisierung, die Fristen und die jeweilige Aufgabenstellung.

E r z ä h l e r i n : Im neuen Werk sind zwölfhundert Arbeiter beschäftigt, in zwei Schichten à neun Stunden. Nur zweihundert von ihnen sind bei VW angestellt, der Rest arbeitet bei den Modul-Herstellern, die zum Teil multinationale Unternehmen sind und über eigene Zulieferer verfügen. Das Fahrgestell kommt von der brasilianischen Firma Iochpe (sprich: Jósch-pi), die Achsen vom US-Multi Rockwell, die Reifen von Remon, einem brasilianisch-japanischen Joint-Venture-Unternehmen. Der Motor wird von den Maschinenwerken Mannheim - MWM - und von der US-Firma Cummins fertiggestellt, die Kabine von der brasilianischen Delga und die Armaturen von VDO-Kienzle. Die Lackiererei wird von der Firma Eisenmann betrieben. De Luca:

3. Skip: "Nao estomos vindo praticamente ... "
Z i t a t o r : Volkswagen hat mit der Produktion praktisch nichts mehr zu tun. Unsere Aufgabe besteht in der Vermittlung des Know Hows, in der Entwicklung und in der Qualitätskontrolle. Volkswagen garantiert für die Endabnahme.

E r z ä h l e r i n : Resende - soviel steht heute bereits fest - ist ein Meilenstein in der Geschichte der Automobilindustrie. Begonnen hatte alles vor etwa hundert Jahren, als jeder fahrbare Untersatz ein Meisterstück im wahrsten Sinne des Wortes war. Erstklassig ausgebildete Handwerker stellten genau das Modell her, das der Kunde wünschte. Und das war natürlich sehr teuer, gebaut für Reiche mit Chauffeur. Als zum Beispiel im Jahr 1894 ein gewisser Evelyn Henry Ellis, ein wohlhabendes Mitglied des britischen Parlaments, ein Automobil käuflich erwerben wollte, ging er nicht zu einem Autohändler, denn die gab es damals ebenso wenig wie Autofabriken. Er erteilte stattdessen einer angesehenen Werkzeugfabrik in Paris den Auftrag. Jene Fabrik war im Besitz einer Lizenz eines gewissen Gottlieb Daimler für den Bau von Kraftfahrzeugen, und ihre Angestellten, die meisten von ihnen arbeiteten auf eigene Rechnung, waren für ihre Fingerfertigkeit in ganz Europa berühmt. Jeder von ihnen wußte über alle Schritte der Produktion Bescheid. Ihre Werkzeuge waren noch nicht in der Lage, harten Stahl zu bearbeiten, deshalb mußte jedes Stück einzeln angefertigt und in die anderen Teile manuell eingefügt werden. Jedes Auto war verschieden. Nach vielen Monaten handwerklicher Kunst konnte Mister Ellis seinen Kraftwagen in Paris abholen.

Ein größerer Markt erforderte die Massenproduktion, erkannten Anfang des Jahrhunderts Henry Ford und Alfred Sloan von General Motors, die Väter des Fließbandes. Die Technologie war inzwischen vorangeschritten und hatte Maschinen entworfen, die Standardprodukte aus hartem Stahl herstellen konnten. Diese Maschinen waren aber sehr teuer und amortisierten sich erst mit hoher Stückzahl. 1913 rollten in Detroit die ersten Personenkraftwagen vom Fließband, hergestellt in Fabriken, in denen schlecht ausgebildete Arbeiter stets gleichbleibende Handgriffe verrichteten. Schon 1920 produzierte Ford auf diese Weise jährlich zwei Millionen Autos. Sie waren wahrlich keine Meisterstücke sondern voller Fehler, entwickelt für Farmer, die selbst mit dem Schraubenschlüssel kleine Probleme beheben konnten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahmen die Japaner das Heft in die Hand und entwickelten die sogenannte "just-in-time"-Produktion. Dieses auf den aktuellen Bedarf ausgerichtete Herstellungsverfahren verband die Vorteile der beiden vorigen Produktionsweisen: es vermied hohe Kosten und bot gleichzeitig mehr Flexibilität, um auf den sich ständig ändernden Kundengeschmack schnellere Antworten zu finden. Bei Toyota konnten Arbeiter-Teams, die zunehmend mit computergesteuerten Maschinen vertraut waren, eine hohe Stückzahl verschiedener Modelle herstellen. In den Fabriken waren immer weniger Arbeiter tätig, und die Lager wurden kleiner, denn auswärtige Zulieferer brachten pünktlich - just-in-time - genau die Bauelemente ins Werk, die an diesem Tag benötigt wurden.

Das vorerst letzte Kapitel wurde mit dem Modul-Konsortium eingeläutet, sagt Dieter Kowalik. Der Diplom-Ingenieur ist normalerweise Projektmanager bei VW in Hannover, zur Zeit hilft er beim Aufbau der neuen Fabrik - der einzige VW-Mann in Resende, der deutsch spricht.

4. Skip "Das Neue an diesem consorcio modular ist, daß die Modullieferanten mit eigenen Mitarbeitern, nicht VW-Mitarbeitern, zum Beispiel die Achsen an das Chassis anbauen, und sämtliche Qualitätskontrollen wie Drehmomente-Messungen selbst durchführen und auch selbst in Dokumenten festhalten. VW beschränkt sich auf Kontrollen und Stichproben, um festzustellen, ob das auch wirklich so gemacht wird.

Frage: Das heißt, es hat noch die Qualität aber es ist keine "deutsche Wertarbeit" mehr?

"Doch, es ist nach wie vor deutsche Wertarbeit, denn Wertarbeit ist nicht unbedingt nur mit dem Namen "deutsch" verbunden. Wir wissen, daß die Japaner auch Wertarbeit produzieren, und daß die Japaner auch japanische Wertarbeit zum Beispiel in den USA mit amerikanischen Mitarbeitern produzieren. Und wir sind sicher, daß wir hier in Brasilien mit brasilianischen Mitarbeitern auch Wertarbeit produzieren."

E r z ä h l e r i n : Im Moment befindet sich die Fabrikationsstätte noch in der Anlaufphase.

5. Skip: Atmo Fabrik

E r z ä h l e r i n : Die Lackiererei ist noch nicht fertiggestellt. Sie sei der einzige Bereich, so Kowalik, der Umweltprobleme verursachen kann. Man habe aber sämtliche internationale Schutznormen, die deutlich über den brasilianischen liegen, beachtet. Und im Übrigen trage die Verantwortung für die in der Lackiererei anfallenden Abwässer und Abgase der Betreiber, in diesem Fall die deutsche Firma Eisenmann. Geht etwas schief, haftet nicht VW sondern der Lieferant. Und der ist in solchen Fällen austauschbar.

Bis zur Einweihung der Lackiererei werden noch einige Monate vergehen, bis dahin werden die übrigen Teams sämtliche Schritte der Produktion beherrschen. Derzeit wird jeden Tag ein LKW fertiggestellt, aber schon bald sollen hundert Laster vom Band rollen. Alle zehn Minuten einer. Im oberen Teil der Halle befinden sich die wenigen Büroräume, von wo aus das gesamte Geschehen in der Fabrik überschaut und kontrolliert werden kann. Kowalik lädt zur Ortsbesichtigung ein: Zuerst zeigt er der Besucherin das Modell des Werkes - unter Glas aus Pappmaché.

6. Skip: "Also das ist der Rio Paraiba, und wir befinden uns zur Zeit hier im hinteren Teil der Halle. Und diese Halle ist die Montagehalle, 35.000 Quadratmeter, die ist am 1.11. dieses Jahres in Betrieb gegangen. Im Westen ist die Lackiererei, die zur Zeit gebaut wird und der Rohbau, hier wird dann zukünftig die LKW-Kabine zusammengebaut aus den einzelnen Teilen, nur die Kabine. Und dann geht die Kabine durch die Lackiererei und in der Montage wird sie dann zum LKW gebaut. Und dieser ganze Teil im Süden das ist Kantine, Arztzentrum, Umkleideräume, dann die zentrale Energieversorgung und Instandhaltungsgebäude. Und dieser Teil des Werkes ist also cirka 700.00 qm, und das gesamtes Gelände, das VW bekommen hat, ist 2 Millionen qm. Das heißt 1,3 Mio. qm sind reserviert für das Testzentrum, Straßen zum Prüfen und Testen der LKW's. Einschließlich einer Schnellfahrstrecke zum Testen von LKW's, VW-LKW's."

E r z ä h l e r i n : Jeder Modul-Lieferant verfügt über einen eigenen Zugang zur Halle, an dem er seine an diesem Tag benötigten Bauelemente entgegennimmt und sie in den auf dem Band vorbeirollenden Laster einfügt. Die Fertigung beginnt mit der Anlieferung des Fahrgestells:

7. Skip: "Hier beginnt der Montageprozeß des LKW's. Das Chassis wird hier angeliefert und wird dann in diese Elektrohängebahn übernommen. Und wie Sie sehen wird dann in verschiedenen Arbeitsstationen dieses Chassis mit Teilen komplettiert, wenn Sie hier also ansehen, das Chassis hier hat schon die Achsen, die Federn und eine Menge kleinerer Teile. Das Chassis wird von der Firma Iochpe geliefert, und dann kommt die Achsmontage und die Achsen und Aufhängungen sind von der Firma Rockwell. Dann kommt die Reifenmontage, die wird parallel dazu noch aufgebaut, die ist noch nicht fertig, und dort wird das Chassis dann mit den Rädern auf dem Montageband abgesetzt, und wird dann mit dem Bodenförderer des Montagebandes bis zum Ende der Linie gefördert und auf diesem Montageband, das werden wir noch sehen, werden dann die weiteren Teile montiert.

Frage: Wer ist denn von den Leuten, die hier um uns herum arbeiten, noch von VW?

"Keiner, keiner."

E r z ä h l e r i n : Kreidestriche auf dem Fußboden kennzeichnen, welche Firma in dem Bereich tätig ist.

8. Skip: "Die orange-farbenen Streifen kennzeichnen Flucht- und Zufahrtswege für die Feuerwehr und Krankenwagen. Die weißen Streifen kennzeichnen Fahrwege allgemeiner Natur. Und die gelben Linien kennzeichnen die Grenze zwischen einem Modullieferanten und dem anderen."

E r z ä h l e r i n : Doch eigentlich haben die Grenzstreifen keine Funktion. Für die Benutzung der Halle, die im Besitz der Volkswagen AG ist, zahlen die Zuarbeiter keine Miete, auch der Strom ist umsonst. In der Kantine allerdings, versichert Kowalik, muß dem Pächter das Bier bezahlt werden.

Nachdem das Fahrgestell von unten mit Achsen und Reifen bestückt worden ist, wird es von der Hängebahn heruntergelassen und rollt auf dem Förderband in den nächsten Modul-Komplex: er untersteht der US-Firma Cummins und den Maschinenwerken Mannheim:

9. Skip: "Wir sind hier in dem Bereich der Halle, in dem der Motor kompletiert und dann im LKW installiert wird, und es gibt zwei Motorlieferanten, einmal die Firma MWM und die amerikanische Firma Cummins. Wobei beide nicht nur VW mit Motoren beliefern sondern den brasilianischen Markt insgesamt. Hier sieht man die Motoren-Montage, wie sie im Augenblick noch provisorisch gemacht wird, es wird also da, man siehts da, wo die hellen Flecken im Fußboden sind, dort wird Anfang nächsten Jahres in Betrieb gehen ein Montageband, das automatisch läuft, in dem dann der Motor kompletiert wird. Der Motor kommt dann in einer Grundausstattung hier an und bestimmte Teile werden noch angebaut. Und dann wird der Motor hier von dieser Elektrohängebahn übernommen und wird dann dort von der Elektrohängebahn über die Montagelinie geführt und der Motor wird auf den LKW abgesetzt und dann eingebaut."

E r z ä h l e r i n : Die Lieferanten produzieren ihre Teile mit moderner Technologie außerhalb der Fabrik, unter eigenem Dach. In Resende werden sie zu einem Modul zusammengebaut und in den Laster eingefügt.

10. Skip: "Die gesamte Innenausstattung der Kabine wird hier installiert, und das wird durch die Firma VDO gemacht. Es wird hier nur in der Lackiererei Roboter geben, Lackierroboter. Einmal aus gesundheitlichen Gründen aber dann auch weil ein Roboter, unabhängig von menschlichen Empfindungen, immer den gleichen Abstand hält zum Objekt beim Lackieren, immer die gleiche Geschwindigkeit fährt. Und das ist für einen Menschen immer sehr anstrengend und häufig auch nicht mit dieser Sicherheit realisierbar.

Frage: Also der Roboter arbeitet besser?

"Der Roboter lackiert gleichmäßiger."

E r z ä h l e r i n : Erst am Ende des Montagebandes taucht der erste VW-Arbeiter auf, der Meister:

11. Skip: "Eu oriento a pessoal ... "
Z i t a t o r : Ich überwache die Montage der einzelnen Bauelemente, bis zum Ende der Produktionslinie. Hier kontrolliere ich noch einmal die Qualität des Fahrzeugs. Wenn alles in Ordnung ist, schreibe ich meinen Namen und meine Telephonnummer auf das Fahrgestell. Wenn an dem Fahrzeug später irgendein Problem auftaucht, kann sich der Kunde schnell und unbürokratisch direkt mit mir in Verbindung setzen.

E r z ä h l e r i n : Neben dem Meister sitzt ein zweiter VW-Angestellter. Er überprüft am Computer alle Stufen der Montage.

12. Skip: "Pego uma peca ... "
Z i t a t o r : Über jedes Fahrzeug, das diese Fabrik verläßt, fertige ich mit der jeweiligen Fahrgestellnummer ein Protokoll an, in dem alle verwendeten Module und die Verantwortung für ihren Einbau aufgeführt werden. Das erleichtert die Behebung der Probleme. Noch gebe ich die Informationen über eine normale Tastatur ein - oder durch Berührung des entsprechenden Symbols auf dem Bildschirm. Aber schon in wenigen Tagen soll die Eingabe ausschließlich durch den zeitsparenden Fingerdruck erfolgen. Wenn alles in Ordnung ist, druckt der Rechner das Qualitäts-Zertifikat aus.

E r z ä h l e r i n : Der Mann am Computer hat sein Handwerk von der Pieke auf im VW-Werk in Sao Paulo gelernt. Er ist eine hochqualifizierte Arbeitskraft und verdient, so sagt er, im Monat 2.500 Reis, das sind umgerechnet 3.700 Mark. Er sei sein Geld wert, meint Kowalik, denn die computergesteuerte Qualitätskontrolle mit den Modullieferanten vor Ort ist für Volkswagen zeit- und kostensparend:

13. Skip: "Er gibt also hier die Informationen ein, was für Fehler am LKW sind, das geht online auf ein Terminal zu dem jeweiligen Modullieferanten hier im Werk. So, und der weiß sofort: der LKW, der jetzt vom Band läuft, hat die und die Fehler von mir. Und ich muß die beseitigen. Und dann gibts eine Nacharbeit, hier am Ende der Halle. Und dort schickt dann der Modullieferant seine Mitarbeiter hin, um diesen Fehler zu reparieren. Das heißt, daß der im früheren Sinne Teilelieferant selbst dafür verantwortlich ist, eine Fehler zu beheben. Das ist im früheren System ja nicht so gewesen. Da bekommt VW ein Teil angeliefert, oder viele Teile, und stellt dann beim Montieren, am Montageband fest: Oh, das Teil hat ja einen Fehler. Da ist das Teil schon bezahlt. Das Teil muß dann verpackt und zum Lieferanten zurückgeschickt werden, außerhalb des Werkes, und er tauscht das um oder repariert das, oder was auch immer".

E r z ä h l e r i n : Das neue Produktions-Modell ist in Brasilien auf geringen Widerstand gestoßen. Der Gewerkschaftsdachverband CUT (sprich: Kutt), der als "kämpferisch" gilt, ist zwar über diese, auf die Spitze getriebene Flexibilisierung unglücklich. Doch man hat sich, mangels Alternativen, in das Schicksal gefügt. An der Globalisierung, so der Generalsekretär der CUT, "führt kein Weg vorbei". Statt das "Modul-Konsortium" der Volkswagen AG zu verhindern, wollen die Funktionäre höhere Löhne und eine Verkürzung der Wochenarbeitszeit durchsetzen. Den Kampf gegen die moderne, arbeitsplatzvernichtende Technologie hat die CUT längst verloren. Hatte noch vor sechs Jahren die brasilianische Automobilindustrie 350.000 Arbeiter beschäftigt, sind es heute in dieser aufstrebenden Branche nur noch zweihundert tausend.

Dabei sind im Amazonasstaat die Löhne niedrig, ein günstiger Standort also für Unternehmen. Ein Arbeiter verdient im Durchschnitt sechs Mark fünfzig brutto in der Stunde, ein Siebtel von dem, was ein deutscher kostet. Aber die Statistik verschweigt, daß die Lohnunterschiede innerhalb Brasiliens riesig sind, ein ungelernter Arbeiter kann froh sein, wenn er den Mindestlohn von hundertfünfzig Mark erhält, ein Facharbeiter hingegen, der die computergesteuerte Produktion beherrscht, kommt fast auf denselben Lohn wie sein deutscher Kollege. Auf jeden brasilianischen VW-Arbeiter entfallen zwanzig hergestellte Autos, in den Industriestaaten sind es 35, fast das Doppelte. Noch bis vor wenigen Jahren waren die Unterschiede in Qualität und Produktivität krasser. Doch seitdem haben viele Länder der Dritten Welt - auch Brasilien - weder Mühen noch Kosten gespart, den Standard des Weltmarktes zu erreichen. Sie senkten die Zollschranken für moderne Technologien und Investitionsgüter, flexibilisierten die Arbeitsgesetzgebung und modernisierten ihren gesamten Industriepark. Bei "Volks" war vor zehn Jahren kein einziger Roboter am Werke, heute sind es über hundert, die Tendenz ist steigend.

Wie viele Entwicklungsländer hatte auch Brasilien jahrelang den Aufbau einer eigenen Industrie dadurch fördern wollen, daß es seine Grenzen vor den High-Tech-Produkten aus dem Norden schloß und den nationalen Unternehmern hohe Subventionen und einen sicheren Absatzmarkt garantierte. Die Parole hieß: Quantität statt Qualität. Jeder Brasilianer sollte einen fahrbaren Untersatz besitzen, Hauptsache, er hatte vier Räder und bewegte sich vom Fleck. Das war die Zeit der "Carocas" (sprich: Karóssas) - der Karossen - wie es einmal ein Staatspräsident formuliert hatte. Die Autos waren relativ billig, die Nachfrage enorm, und die Fabriken kamen kaum mit der Produktion nach. Den wenigen, kaufkräftigen Kunden wurden importierte, sehr teure Fahrzeuge verkauft, und die Autohändler warben mit dem Markenzeichen "made in Germany". Jeder wußte, was damit gemeint war: ein brasilianischer Wagen hatte dünneres Blech und schlechtere Sitze, und der Motor war ein Modell, das in Deutschland schon nicht mehr gebaut wurde. Die Normen waren unterschiedlich, und viele Konzerne schickten ihre Maschinen, wenn sie in Deutschland erst einmal abgeschrieben waren oder wenn die Umweltgesetze eine Neuinvestition erforderten, in ihre Werke in der Dritten Welt. Dort leisteten sie noch mehrere Jahre wackere Dienste.

Mit den "Karossen" sei endgültig Schluß, verkündete Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso bei der feierlichen Einweihung des VW-Werkes in Resende. Jeder VW-Laster, der aus dem "Modul-Konsortium" stamme, sei "ein Meisterstück", kein minderwertiges Massenprodukt. Werksleiter de Luca kommentiert diese Worte so:

14. Skip: "Quando nosso presidente ... "
Z i t a t o r : Als unser Präsident über die sogenannten "Karossen" sprach, bezog er sich auf PKW, nicht auf Lastwagen. In Brasilien hergestellte Laster waren nie "Karossen" gewesen sondern standen in ihrer Qualität und Haltbarkeit mit den ausländischen Produkten auf einer Stufe. Im Gegensatz zu Personenwagen wurden fast keine Laster importiert, sie wären viel zu teuer gewesen! Wir stellen hier ein Produkt für den Weltmarkt her, mit den Standards des Weltmarktes, mit den Normen des Weltmarkts und mit der Qualität, die der Weltmarkt verlangt. Wir exportieren unsere Lastwagen in alle Welt, auch nach Deutschland, und sie sind mit derselben Lackierung und mit demselben Motor ausgestattet wie der LKW, der für den brasilianischen Markt hergestellt wird.

E r z ä h l e r i n : Heute besitzt ein Produkt, das in Brasilien vom Band läuft, dieselbe Güte wie das Produkt, das in Wolfsburg vom Band läuft. Noch ist die Produktivität in der Dritten Welt etwas geringer, doch angesichts moderner Technik ist die Angleichung eine Frage der Zeit.

Für Volkswagen war bei der Auswahl des Standortes auch das Lohnniveau entscheidend, sagt de Luca, wobei er sich nicht auf die Unterschiede zwischen der Bundesrepublik und Südamerika bezieht sondern auf die brasilianische Provinz verglichen mit der Großstadt. In Resende konnte "Volks" mit der lokalen Gewerkschaft sehr viel niedrigere Löhne aushandeln als dies mit der Zentrale in Sao Paulo möglich gewesen wäre:

15. Skip: "Fui feito uma ..."
Z i t a t o r : Es wurde ein Abkommen zwischen VW und allen Zulieferern getroffen, wonach sich alle verpflichten, dasselbe zu zahlen: denselben Lohn und dieselben Nebenleistungen wie Zuschüsse zur Versicherung. Auf diese Weise entsteht kein Konkurrenzdenken zwischen den verschiedenen Bereichen im Werk. Ein Facharbeiter eines brasilianischen Zulieferers verdient genau dasselbe wie einer von VDO, von Rockwell oder von VW.

E r z ä h l e r i n : Bei der Auswahl des Standortes lagen alle Vorteile in der Hand Volkswagens. Alle Kommunen, an denen der Konzern auch nur vages Interesse bekundet hatte, übertrafen sich gegenseitig im Anbieten von Steuererleichterungen, Schenkungen und Subventionen. "Ein Steuerkrieg", hieß es in brasilianischen Presse, war um das "Modul-Konsortium" ausgetragen worden, oft riefen die Manager direkt bei den Gouverneuren oder Bürgermeistern an, um noch das eine oder andere herauszuholen. Nach monatelangem Tauziehen erhielt schließlich Resende mit seinen 120.000 Einwohnern den Zuschlag. Die Kleinstadt liegt weit genug von der Metropole Rio de Janeiro entfernt, um vor der Gewaltkriminalität verschont zu sein. Da sie aber auf halber Strecke zwischen Rio und Sao Paulo liegt, ist sie nahe genug an den Absatzmärkten gelegen. Resende versprach sich vom "Modul-Konsortium" nicht nur die zwölfhundert Arbeitsplätze im VW-Werk sondern eine Ankurbelung der regionalen Wirtschaft und 30.000 neue Jobs, im Handel, im Gaststätten- und Baugewerbe, und bei den Zulieferern der Zulieferer wie Computershops und Transportunternehmen. Bisher haben dreihundert neue Geschäfte ihre Pforten eröffnet, das sind nicht die erhofften 30.000 neuen Arbeitsplätze, doch in der Kleinstadt ist eine nie gekannte Dynamik ausgebrochen. Plötzlich ist Geld im Umlauf, viel Geld.

Die Kommune hatte "VW" nicht nur das gesamte Gelände von zwei Millionen Quadratmetern geschenkt sondern auch die Infrastruktur gratis geliefert, eine moderne Telekommunikation mit Glasfaserkabel, den Anschluß an das Strom- und Wassernetz und neue Straßen. Fünf Jahre lang verzichtet der Bundesstaat auf das Eintreiben der Mehrwertsteuer und die Gemeinde auf eine Reihe kleinerer Abgaben. Für Produktionsleiter de Luca eine Selbstverständlichkeit:

16. Skip: "Mas na realidade ... "
Z i t a t o r : Ach wissen Sie, alle Bundesstaaten bieten doch dieselben Steuervorteile wie Rio. Mercedes zum Beispiel hat sich für den Bundesstaat Minas Gerais (sprich: Mínas Scheréis) entschieden, Renault für Paraná, denn die Bedingungen waren fast identisch. Für unsere Entscheidung für den Bundesstaat Rio de Janeiro waren nicht die steuerlichen Vergünstigungen ausschlaggebend sondern die strategischen Lage, das heißt die Nähe zu den großen Absatzmärkten.

E r z ä h l e r i n : Ob sich das neue Produktionsmodell in der Praxis bewähren wird, räumt de Luca ein, wird im wesentlichen von der Koordination abhängen. Natürlich denke jeder Teilelieferant zunächst einmal an sein Modul, für das er die Verantwortung trägt. Erst in zweiter Linie werde er darauf bedacht sein, daß sich das von ihm hergestellte Element in die Gesamtheit des Produkts perfekt einordnet. Da kann es durchaus Interessenkonflikte geben.

Ein weiteres Problem ist die Vertraulichkeit. Durch die Zusammenarbeit auf so engem Raum erfahren die Zulieferer alle Details der Autoproduktion. Auch heikle Informationen sind ihnen kaum vorzuenthalten. Wie will VW in Resende Industriespionage verhindern? Eine Klausel des Vertrages schreibe Diskretion vor, antwortet de Luca, alle Mitarbeiter des Konsortiums ziehen an einem Strang und haben keine andere Chance, als sich gegenseitig zu vertrauen.

Und wie will Volkswagen Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit aller beteiligten Firmen garantieren - angesichts der notorischen südamerikanischen Schlamperei?

17. Skip: "Se isso caminhao nao fui produzido ... "
Z i t a t o r : Wenn der geplante Lastwagen nicht vom Band rollt, bezahlt ihn VW nicht. Der Vertrag teilt das Risiko auf alle Teilnehmer des Produktionsprozesses auf. Wenn einer seinen Vertrag nicht erfüllt, wird keiner bezahlt. Volkswagen verliert ja auch, denn wir haben in diesem Fall kein Produkt, das wir verkaufen können. Deshalb helfen sich alle Firmen gegenseitig, zum Beispiel, wenn eine Personalprobleme hat, muß die andere mit ihren Arbeitern einspringen. Arbeiter und Maschinen werden zwischen den Modulherstellern ausgetauscht, um sicherzustellen, daß jeder seinen vertraglichen Verpflichtungen nachkommt und die Produktion nicht ins Stocken gerät.

E r z ä h l e r i n : Kein Zweifel, wenn sich das "Modul-Konsortium" in Resende bewährt, wird es die Fabrik der Zukunft sein. Noch befindet es sich in der Probephase, aber die ersten Schlüsse sind längst gezogen worden: Ford hat angekündigt, im nächsten Jahr in Sao Bernardo ein praktisch identisches Modell einzuführen, nur das Etikett ist ein anderes: statt des eingetragenen Markenzeichens "Modul-Konsortium" wird die Ford-Variante "industrielles Kondominium" heißen. Das Verhältnis zwischen den Teilelieferanten und dem Automobilkonzern wird dasselbe wie in Resende sein. Der einzige Unterschied soll darin bestehen, daß im Kondominium Ford Untermieter bei seinen Zulieferern ist und nicht, wie Volkswagen, den Mitarbeitern der anderen Firmen seine Halle zur Verfügung stellt. Ford wird also gar keine Fabrik besitzen, geographisch nicht mehr festzumachen sein. Die Flexibilität wird einen neuen Rekord feiern, Profit wird noch risikoloser gemacht werden.

ende