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Berlin, 27.09.1999/JSC

Strafanzeige und Antrag nach § 13 a StPO

Namens und in Vollmacht des Bundesvorstandes des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein e. V. (RAV) erstatte ich Strafanzeige wegen sämtlicher in Betracht kommender Straftatbestände (namentlich Mord, Geiselnahme und Gefährliche Körperverletzung) wegen der nachfolgend geschilderten Sachverhalte, die sich während der argentinischen Militärdiktatur (1976 bis 1983) zutrugen.

Ich bitte um Zuleitung der vorliegenden Strafanzeige an die Generalbundesanwaltschaft bzw. an den Bundesgerichtshof, damit dieser im Rahmen des Verfahrens nach § 13 a StPO das zuständige deutsche Gericht bestimmen kann. Es wird beantragt, das Landgericht Berlin als das zuständige gemäß § 13 a StPO zu bestimmen, da der Kanzleisitz des Unterzeichnenden in Berlin ist.

Gemäß RiStBV Nr. 9 bitte ich um Bestätigung des Einganges der Anzeige an die Geschäftstelle unserer Organisation in Hannover und den Kanzleisitz des Unterzeichnenden in der Immanuelkirchstraße 3-4, 10405 Berlin sowie um Mitteilung des Aktenzeichens.

Die Strafanzeige richtet sich zunächst gegen die beiden noch überlebenden Ex-Junta-Mitglieder:

1. gegen Jorge Rafael Videla, damaliger Oberkommandierender des Heeres, geboren am 02.08.1925 in Mercedes, wohnhaft Barera 166, 8°A, Buenos Aires, Argentinien,

2. gegen Emilio Eduardo Massera, damaliger Oberkommandierender der Seestreitkräfte, geboren am 19.10.1925 in Parana, wohnhaft Avenida Callao 1307. Buenos Aires, Argentinien,

3. gegen den damaligen Werksleiter der Mercedes-Niederlassung in González Catán, Buenos Aires, Juan Tasselkraut, weitere Personalien zur Zeit unbekannt, zu laden über Daimler Chrysler, Niederlassung González Catán/ Buenos Aires, Argentinien,

4. sowie gegen unbekannte weitere damals Verantwortliche der Mercedes Benz/ heute Daimler-Chrysler-Niederlassung in González Catán, Buenos Aires sowie die damaligen Verantwortlichen bei Mercedes Benz/ heute Daimler Chrysler im Muttersitz des Konzernes in Untertürkheim/ Deutschland.

Sachverhalt

Zum Verständnis des Hintergrundes des Tatgeschehens soll im folgenden in Kürze auf das historische Geschehen in Argentinien eingegangen werden (I.), unter (II.) auf die Repression gegen Gewerkschafter im besonderen und abschließend unter (III.) das hier in Rede stehende Tatgeschehen abgehandelt werden.

I. Ereignisse während der argentinischen Militärdiktatur (1976 bis 1983)

In den vierziger und fünfziger Jahren war Argentinien aufgrund seiner Agrarexporte, in erster Linie aufgrund des Fleischhandels, ein wohlhabendes Land, das von 1946 bis 1955 von dem populistischen Präsidenten General Juan Domingo Perón regiert wurde. Nach einem Militärputsch 1955 mußte Perón nach Spanien fliehen. In der Folgezeit kam es immer wieder zu Militärputschen nach Wahlen. Von 1966 bis zum 25. Mai 1973 waren hintereinander drei Militärdiktatoren an der Macht. Aufgrund des großen Drucks der Bevölkerung, insbesondere der unabhängigen Gewerkschaften sowie der Studenten, wurde unter Führung der peronistischen Bewegung eine erneute demokratische Wahl erzwungen. Der dabei zunächst gewählte Präsident Cámpora trat zurück, nachdem der aus dem Exil zurückgekehrte General Perón aufgrund einer allgemeinen Volksabstimmung am 12. Oktober 1973 die Präsidentschaft übernahm. Perón verstarb am 1. Juli 1974. Die Präsidentschaft übernahm seine Frau Isabel Perón.

Das Land war seit den späten sechziger Jahren von schweren gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gezeichnet. Das Verbot jeder freien politischen Betätigung sowie eine restriktive Wirtschaftspolitik hatten zahlreiche gesellschaftliche Bewegungen zum Widerstand gegen die Militärs mobilisiert. Ein Arbeiter- und Studentenaufstand 1969 in der Provinzhauptstadt Córdoba konnte nur durch den Einsatz von Militärs niedergeschlagen werden. Seit dieser Zeit bildeten sich auch einzelne bewaffnete Gruppierungen, von denen die bedeutendste die Montoneros waren, eine Abspaltung aus der linksperonistischen Bewegung, die sich auf den damals noch im Exil befindlichen und um seine Wiederkehr kämpfenden General Perón berief und äußerst mobilisierungsfähig war. Nach der Übernahme der Macht durch den zivilen Präsidenten Cámpora im Frühjahr 1973 wurde zunächst eine Vielzahl von politischen Gefangenen freigelassen. Die gesellschaftliche Lage beruhigte sich. Die linksperonistische Jugend übernahm zahlreiche Funktionen im Staatsapparat. Dabei geriet sie allerdings in Konflikt mit dem anderen Flügel der Peronisten, deren bedeutendster Exponent der spätere Wohlfahrtsminister López Rega war. Zur ersten größeren Auseinandersetzung kam es bei der Rückkehr von General Perón aus Spanien am 20. Juli 1973. Die Linksperonisten hatten ungefähr zwei Millionen Menschen am Flughafen Ezeiza versammelt, um den Präsidenten zu begrüßen. Bewaffnete Vertreter von rechtsextremen Gruppen des Peronismus eröffneten das Feuer auf die Menschenmenge. Es gab dreizehn Tote und zweihundert Verletzte. Seit diesem Ereignis kam es zu gewaltigen Spannungen zwischen den beiden Strömungen des Peronismus. In deren Verlauf gründeten die Gruppierungen um López Rega die inoffizielle Todesschwadrone, die sogenannte Argentinische Antikommunistische Allianz (AAA) und paramilitärische Banden, Diese griffen insbesondere die Exponenten der anderen Strömungen des Peronismus an. Allein im Jahre 1974 wurden etwa dreihundert Menschen durch Todesschwadronen getötet, bei den Opfern handelt es sich überwiegend um Studenten, Rechtsanwälte, Journalisten und aktive Gewerkschaften In den sogenannten "Comandos Liberadores de America" hatten sich auch Armeeoffiziere niederer Ränge zusammengetan, um gemeinsam gegen Linke vorzugehen.

So gehen die spanischen Strafverfolgungsbehörden in ihren Strafbefehlen gegen die Militärjunta vom 10, Oktober 1997 davon aus, daß die Militärs zu schon diesem Zeitpunkt einen kriminellen Plan abzielend auf das Verschwindenlassen und die systematische Eliminierung von Personen verfolgten und zu diesem Zweck Aktionen mittels paramilitärischer Organisationen durchführten. Dabei sollte zunächst gegen terroristische Gruppen, aber auch undifferenziert gegen Bürger im allgemeinen vorgegangen werden, indem diese auf offener Straße umgebracht wurden, um ein Gefühl allgemeinen Terrors und Desasters hervorzurufen, das die Einsetzung eines Militärregimes rechtfertigen sollte.

Ab 1974 begaben sich die peronistischen Montoneros wieder in den Untergrund. Gleichzeitig organisierte sich mit der ERP (Revolutionäre Volksarmee) eine Guerilla-Gruppe, die aus der PRT (Revolutionäre Arbeiterpartei) hervorging und in der ländlichen Provinz Tucuman den bewaffneten Kampf betrieb.

Das Militär setzte daraufhin die Präsidentin Perón unter Druck und brachte diese dazu, zahlreiche Ausnahme- und Sondergesetze zu unterzeichnen. So wurde am 5. Februar 1975 das Dekret 261/75 erlassen, in dem der Generalstab des Heeres autorisiert wurde, alle notwendigen militärischen Operationen durchzuführen, "um die subversiven Elemente in der Provinz Tucuman zu neutralisieren oder zu vernichten".

Die Armee bildete daraufhin in der Provinz Tucuman eine unabhängige Einheit, riegelte das Gebiet ab und wandte die Methoden zum Kampf gegen die Guerilla - Folter, Bombardierungen, Massenverhaftungen - auch gegen die Bevölkerung an. Es gab die ersten Verschwundenen.

In weiteren Dekreten, die alle beigebracht werden können, wurden die Kompetenzen der Armee immer weiter gestärkt. Die Ermächtigung militärische Operationen durchzuführen, die für notwendig erachtet wurden, die sogenannten subversiven Elemente zu vernichten, wurde auf das gesamte Land ausgeweitet.

Am 28. Oktober 1975 wurde der geheime Karnpfbefehl der Armee 404/75 verteilt. Ausgestattet mit der Ermächtigung der Präsidentin, beschloß die Armee in die Offensive zu gehen, deren Ziele wie folgt lauteten:

1. bis Ende 1975 sollten die Aktionen der Subversion auf ein Minimum begrenzt werden,

2. bis Ende 1976 sollte die Subversion nur noch ein polizeiliches Problem sein,

3. bis Ende 1977 sollte die Subversion vernichtet werden.

Nach Schätzung eines spanischen Militärsoziologen zählten die PRT-ERP damals sechshundert und die Montoneros etwa 1500 - 2000 bewaffnete Kämpfer. Die Sicherheits- und Streitkräfte hatten zu diesem Zeitpunkt etwa 300.000 Menschen unter Waffen. Durch die harte und erfolgreiche Repression in der Provinz Tucuman und einen weiteren militärischen Fehlschlag der Guerilla (Versuch einer Kasernenbesetzung im Oktober 1975) war die PRT-ERP 1975/76 militärisch praktisch schon gescheitert Selbst argentinische Militärberichte von 1975/76 hatten bereits festgestellt, daß der Gegner von der Bevölkerung isoliert, seiner Infrastruktur beraubt und fortschreitend verschlissen sei. Nichtsdestotrotz wurden weitere Ermächtigungen für die Armee ausgestellt.

So häufen sich mittlerweile auch die Dokumente und Analysen, die davon ausgehen, daß die Armee ihr militärisch-politisches Ziel der Besiegung der bewaffneten linken Gruppierungen bereits vor dem Putsch erreicht hatte. Sie hatte fast uneingeschränkte gesetzliche Möglichkeiten und tatsächliche Resourcen, um das selbst so definierte polizeiliche Problem in den Griff zu kriegen. Es stellt sich jedoch heraus, daß ihre Planungen von Anfang an wesentlich weitergingen. Es sollte das nachfolgend geschilderte Terrorregime installiert und die gesamte Opposition nach festgelegten Stufenplänen bis hin zu potentiellen Gegnern physisch ausgelöscht werden (vgl. dazu u.a. den Aufsatz der Menschenrechtsanwältin Mirta Mántaras, EI Manual de la Repression in: Pagina 12 vom 24. März 1999, in dem sie sich auf einen mittlerweile auch im Internet unter www.nuncamas.org veröffentlichen Plan der Armee "Plan Del Ejercito" bezieht).

In den schlichten und klaren Worten des ersten Junta-Chefs Jorge Rafael Videla heißt es dazu:

"Ein Terrorist ist nicht einfach jemand mit einem Gewehr oder einer Bombe, sondern auch jemand, der Gedankengut verbreitet, das sich gegen die westliche und christliche Zivilisation richtet."

Am 24. März 1976 kam es dann zum Militärputsch. Die Präsidentin Isabel Perón wurde entführt und auf eine Militärbasis verbracht. Die Oberkommandierenden der drei Teilstreitkräfte, General Videla, Admiral Massera und der inzwischen verstorbene Brigadegeneral Agosti bildeten eine Militärjunta, die die Macht übernahm. Die Mitglieder des Obersten Gerichts wurden abgesetzt. Das Parlement wurde aufgelöst. Die wichtigsten Institutionen des Landes wurden unter militärischen Befehl gestellt. In den darauffolgenden Wochen und Monaten kam es zu zahlreichen Morden, Entführungen und Verhaftungen von politischen Gegenern.

Dabei unterschied sich das Ausmaß und die Brutalität der Repression von den anderen Diktaturen im südlichen Lateinamerika zur damaligen Zeit. Es wurden ca. 30.000 Menschen ermordet. Schon aus dem Vergelich dieser Zahlenangabe mit der obengenannten Schätzung der Anzahl der Angehörigen bewaffneter Organisationen geht hervor, daß es sich bei den Verschwundenen und Ermordeten mitnichten sämtlich um bewaffnete Gegner der Militärs handelte.

Der damalige Gouverneur von Buenos Aires, Brigadegeneral Iberico Manuel Saint Jean brachte die Ideologie der Militärs folgendermaßen auf den Punkt:

"Erst werden wir die Subversiven töten, dann ihre Kollaborateure, dann ihre Sympathisanten, danach die Indifferenten, und zum Schluß die Lauen."

(zitiert nach: Argentinische Menschenrechtskommission. Argentinien auf dem Weg zum Völkermord, dt. Fassung, Bonn 1977).

Dieser Ausspruch bringt eine Entwicklung auf den Punkt, die sich in allen lateinamerikanischen Ländern im Zuge des Kalten Krieges vollzogen hatte. Unter Führung der USA war der sogenannte TIAR, ein Beistandspakt unter den lateinamerikanischen Ländern, 1947 geschlossen worden, um sich vor äußeren Feinden zu schützen. Die USA übernahm die militärische Verteidigung des Kontinents nach außen. Die lateinamerikanischen Armeen widmeten sich der Aufstandsbekämpfung innerhalb der Länder. So wurden auch die Organisationsstrukturen der Armeen verändert. Nicht mehr die Verteidigung der Landesgrenzen war die wichtigste Aufgabe der Streitkräfte. Die neue Planung sprach von ideologischen Grenzen, die "christlich-abendländische Ideologie" müsse sich gegen die "jüdisch-marxistische internationale Subversion" zur Wehr setzen. Symptomatisch für diese Planung ist die Stationierung der wichtigsten Heereseinheiten Argentiniens nicht an den dünn besiedelten Landesgrenzen, sondern in den Großräumen Buenos Aires, Rosario und Córdoba, wo auch die Mehrheit der Bevölkerung Argentiniens lebt. In den sechziger Jahren übernahm die USA die Ausbildung von Spezialkräften der verschiedenen lateinamerikanischen Armeen. Zentrum der Ausbildung war die sogenannte Escuelas de las Americas in der Panama-Kanal-Zone.

Dabei spielte die Doktrin der Nationalen Sicherheit eine herausragende Rolle. Sie ging von einem inneren Feind aus, der im Auftrag des Internationalen Kommunismus die Gesellschaft von innen heraus zersetze und deshalb mit allen Methoden auch außerhalb der Gesetze bekämpft werden müsse. Zu den festen Bestandteilen dieser Doktrin zählten Folter mit wissenschaftlichen Methoden sowie der Einsatz von paramilitärischen Banden unter dem Oberkommando der Streitkräfte und die Ermordung von Regimegegnern und -kritikern. Am 1. April 1964 wurde in Brasilien die demokratisch gewählte Goulart-Regierung gestürzt und eine brutale Militärdiktatur installiert, in deren Verlauf es zur Anwendung der genannten Methoden kam. Das Zeitalter der Militärdiktaturen hatte damit begonnen. US-Militärberater wurden im weiteren Verlauf der Geschichte sowohl in Brasilien, Uruguay, Paraguay, Chile als eben auch in Argentinien eingesetzt. Die Diktaturen vereinbarten eine sehr weitgehende Zusammenarbeit unter dem Namen Operación Condor. Regimegegner wurden über die Landesgrenzen von den Geheimdiensten erfaßt, verfolgt, ausgeliefert und gegebenenfalls auch liquidiert.

Ausgehend von dieser Ideologie sah das argentinische Militär sich in einem Krieg gegen einen inneren Feind, der nur zum Teil politisch definiert war. Nach der Niederschlagung der bewaffneten Gruppen der Stadtguerilla und ihrer unmittelbaren Unterstützungsgruppen wurde der Kreis der zu bekämpfenden Gruppen immer weiter gezogen, letztlich sollten bestimmte Teile der argentinischen Gesellschaft vernichtet werden. Man berief sich dabei auf ein Staatsverständnis, wonach die argentinische Nation von "kranken Elementen" zu befreien sei. Wer zur abendländisch-christlichen argentinischen Nation gehörte, bestimmten die Militärs. Die Gruppen, die nicht dazu zählten, waren zur Vernichtung freigegeben. Dazu gehörten nicht nur aktive Gewerkschafter, kritische Intellektuelle, Wissenschafter, unbequeme Journalisten und sozial engagierte Christen, insbesondere Anhänger der Theologie der Befreiung, sondern auch Sozialarbeiter in den Elendsvierteln und eben in hohem Maße jüdische Mitbürger. Betroffen war potentiell jede Bevölkerungsgruppe, die nicht dem Weltbild der Militärs entsprach. Bezeichnend für die Haltung der Militärs ist die Aussage des angezeigten Ex-Junta-Mitgliedes Massera, der 1985 sagte, das Militär hätte zwar den Krieg der Waffen gewonnen, aber den psychologischen verloren."

II. Besondere Repressionen gegen Gewerkschafter

Bezüglich der Darstellung der Repression gegen Gewerkschafter soll Bezug genommen werden auf die wohl umfassendste Darstellung des Repressionsapparates der Diktatur in Argentinien, den Abschlußbericht »Nunca más" der CONADEP (Comisión Nacional sobre Desapareción de personas - Kommission zur Untersuchung des Verschwindens von Personen). Diese Kommission wurde nach Wiederherstellung der Demokratie unter der Regierung Alfonsín durch das Dekret Nummer 187 vom 15.12.1983 eingerichtet. Es handelt sich um eine aus Honorationen zusammen gesetzte Kommission, die Tausende von Dokumenten, Anhörungen, Berichte und Befunde in einem Abschlußbericht zusammenfaßte und bewertete. Dieses Dokument ist auch in deutscher Sprache veröffentlicht worden ("Nie wieder! - Ein Bericht über Entführung, Folter und Mord durch die Militärdiktatur in Argentinien" herausgegeben vom Hamburger Institut für Sozialforschung, Stuttgart 1987). Dort wird der im vorherigen Kapitel getroffene historisch-soziologische Befund untermauert, daß nämlich Ideologie und Praxis der Militärdiktatur nur scheinbar ausschließlich gegen die sogenannte bewaffnete Subversion, also die bewaffneten Guerilleros gerichtet war. Diese waren aber zum Zeitpunkt der Machtergreifung durch die Militärdiktatur im März 1976 bereits so geschwächt, daß man davon ausgehen muß, daß die Repression die oben angesprochenen weiteren gesellschaftlichen Bereiche treffen sollte. Folgerichtig wird in dem CONADEP-Bericht darauf hingewiesen, daß- ungefähr 30% aller Gefangenen/Verschwundenen Arbeiter und 17,9% Angestellte waren. Die Repression betraf also zu einem großen Teil Arbeiter und Angestellte.

Ideologische Grundlage war dabei der Geheimerlaß 504/77 (Fortsetzung der Offensive gegen die Subversion) namentlich die Richtlinien 222 aus 76 (Pilotoperation im industriellen Bereich):

"Das Heer wird in Bestimmung mit den für diesen Bereich zuständigen staatlichen Organen gezielt auf Industrieunternehmen und Staatsbetriebe einwirken, um die aus den Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern entstehenden Konfliktsituationen zu neutralisieren, die durch die Subversion provoziert worden sind oder durch sie ausgenutzt werden konnten, um auf diese Weise aufrührerische Agitationen und Aktionen der Massen zu verhindern und zum effizienten funktionierenden Produktionsapparates des Landes beizutragen."

Der damalige Arbeitsminister, General Horacio Tomas Liendo bringt es auf den Punkt, wenn er ausführt:

"In Bezug auf die Subversion im Industriebereich wissen wir, daß hier eine intensive und aktive Terror- und Einschüchterungskampagne im Arbeitssektor sich zu entfalten beabsichtigt. Um sie zu bekämpfen und zerstören zu können, ist es notwendig zu wissen, wie die Subversion in den Fabriken agiert. Ihre Vorgehensweise ist die Indoktrinierung von Einzelnen und Gruppen, sie versucht die Arbeiterklasse für sich einzunehmen, indem sie sich an die Spitze der in diesem Sektor erhobenen falschen Forderung stellt; sie schürt künstliche Konflikte, um eine Konfrontration mit den Unternehmern zu erreichen und verleumdet die echten Arbeiterführer. Dagegen haben Regierung und Streitkräfte alle verfügbaren Mittel aufgeboten. Sie unternehmen die größten Anstrengungen, um die Freiheit der Arbeit, die familiäre und persönliche Sicherheit von Unternehmern und Arbeitern sowie die Vernichtung des Feindes von allem zu gewährleisten. Man muß aber auch an jene denken, die sich von der normalen Entwicklung des Prozesses fernhalten und dem Streben nach Vorteilen für sich selbst oder ihren Sektor zu Komplizen der Subversion werden sowie an jene, die es nicht wagen, die Verantwortung zu übernehmen, die ihnen diese Situation auferlegt."

Dieser Linie folgend wurden bereits vor der offiziellen Machtergreifung der Militärs am 24. März 1976 zahlreiche aktive Gewerkschafter, Betriebsräte und insbesondere unabhängige Betriebsräte Opfer der Repressionen. Nach dem Putsch wurden weitere Aktivisten der Arbeiterbewegung verhaftet und ermordet. Mit einer ganzen Reihe von Gesetzen wurde gegen die Gewerkschaften vorgegangen. Besondere Vergünstigungen, soziale Leistungen und positive Regelungen im Arbeitsrecht wurden beschnitten.

Damit wurde auch das politische Gewicht der Arbeiterbewegung insgesamt drastisch reduziert. Es kam dann gerade in den ersten Jahren der Diktatur zu gewaltigen ökonomischen Umwälzungen: Über eine halbe Million Menschen verloren ihre Stelle im öffentlichen Sektor. Bei den Automobilfirmen kam es ebenfalls zu deutlichen Verringerungen der Beschäftigtenzahlen zwischen 20% (Zeitraum 1976 - 1981) bei Mercedes Benz, 27 % bei Renault, 44 % bei Dodge-Volkswagen bis zu 88 % bei Deutz. Gleichzeitig sank das Niveau der Industrielöhne bei gleichzeitigen enormen Produktivitätssteigerungen.

Einzelheiten dazu können zu einem späteren Zeitpunkt ausgeführt werden.

 

III.

Von diesem allgemeinen Befund ausgehend recherchierte die Journalistin Dr. Gabriele Weber ( zu laden über den Westdeutschen Rundfunk, Appelhofplatz l, 50600 Köln) über "Die Verschwundenen von Mercedes Benz Argentinien" und gelangte dabei zu Ergebnissen, die nach hiesiger Auffassung den Anfangsverdacht für Straftaten der oben genannten Personen begründen. Die vorläufigen Rechercheergebnisse der Journalistin wurden unter dem Titel "Die Verschwundenen von Mercedes Benz Argentinien. Ein Kapitel argentinischer Vergangenheit" am 31. August 1999 in der Sendereihe Kritisches Tagebuch bei dem WDR 3 ausgestrahlt. Das Manuskript wird in Kopie beigefügt.

Die Ergebnisse der Recherche lauten in Kürze wie folgt:

In dem Mercedes Benz-Werk in Gonzaléz Catán / Buenos Aires gab es wie bei vielen anderen großen Betrieben linke/unabhängige Betriebsräte, die sich für bessere Arbeitsbedingungen und eine höhere Entlohnung der Belegschaft einsetzten, Diese unabhängigen Betriebsräte standen im scharfen politischen Gegensatz zu den offiziellen Gewerkschaften der Automobilarbeiter, die mit den Werksleitungen kooperierten. Sie waren daher vor und besonders nach dem Militärputsch am 24. März 1976 Ziel von Repressionen. Bei Mercedes Benz blieben bis zum heutigen Tage mindestens acht der aktiven Betriebsräte verschwunden. Es handelt sich dabei um die Personen Vizzini, Reimer, Gigena, Arenas, Nunez, Belmonte, Del Conte sowie Hugo Ventura. Bei Esteban Reimer handelt es sich um einen deutschen Staatsbürger, so daß insoweit die Zuständigkeit der deutschen Strafjustiz gemäß § 7 StGB ohne weiteres gegeben ist.

Als eine ihrer Quellen zitiert Frau Dr. Weber die hinterbliebene Witwe von Esteban Reimer, Frau Maria Luján Reimer. Sie berichtet ausweislich des Manuskriptes, daß Anfang 1977 die Proteste der Arbeiter wegen Verhandlungen mit der Geschäftsleitung ausgesetzt worden waren. Am 4. Januar 1977 seien ihr Mann, Esteban Reimer sowie der ebenfalls verschwundene Hugo Ventura in die Zentrale von Mercedes Benz zitiert worden. Sie hätten einen langen Forderungskatalog der Arbeiter dabei gehabt. Am Abend des 4. Januar 1977 sei ihr Mann nach Hause gekommen und hätte ihr berichtet, daß die Gespräche mit den Managern harmonisch verlaufen seien und die Arbeitgeber alle Forderungen akzeptiert hätten. Er habe angemerkt, daß hier etwas faul sei und sich gefragt, warum sie sich nach den erbitterten Kämpfen der Vergangenheit plötzlich kampflos dem Willen der Arbeiter beugten. In der selben Nacht wurde Esteban Reimer von neun bewaffneten Männern in Zivil entführt, die vorgaben, im Auftrage des 1. Heereskomandos zu handeln. Die Witwe notierte das Kennzeichen des Autos, mit dem ihr Mann abtransportiert wurde. Dabei stellte sich später heraus, daß es sich tatsächlich um ein Auto handelte, das auf einen Hauptmann der Armee zugelassen worden war. Am nächsten Tag erfuhr die Witwe, daß der andere Betriebsrat Hugo Ventura ebenfalls in der selben Nacht verschleppt worden war.

Weiterhin stellte sich heraus, daß Mercedes Benz etwa zehn Jahre lang den Hinterbliebenen der genannten acht verschwundenen Betriebsräte eine Art Rente auszahlte. Der Grund für diese Rente wurde nach Angaben der Schwester des verschwundenen Hugo Ventura, Maria Ester Ventura nie genannt. Für sie ist jedoch klar, daß die Firma damit einen Teil der Verantwortung an der Ermordung der Arbeiter übernommen hat. Als weiteres Indiz nannte Maria Ester Ventura, daß die Militärs, als sie ihren Bruder am 4. Januar 1977 abholten, nach Victor Hugo fragten. So hieß er aber nur offiziell gegenüber der Firma, seine Freunde nannten ihn Hugo.

Neben der schon erwähnten deutschen Staatsangehörigkeit eines der Opfer, nämlich Esteban Reimer, hatte zumindestens einer der Verantwortlichen von Mercedes Benz, der damalige Betriebsleiter Juan Tasselkraut die deutsche Staatsangehörigkeit, so daß auch insoweit die geschilderten Sachverhalte der deutschen Gerichtsbarkeit nach § 7 StGB unterliegen.

Nach der in der Radiosendung wiedergegebenen Zeugenaussage des selber zwischenzeitig entführten und gefolterten Héctor Ratto war der Werksleiter Juan Tasselkraut selbst unmittelbar in Repressionshandlungen verwickelt. Ratto schilderte, daß sowohl der Werkssicherheitsdienst als auch Polizisten in Zivil auf dem Werksgelände agieren konnten. Er schildert in der zitierten Radiosendung, daß vor seiner eigenen Festnahme man kurz zuvor den Versuch unternommen hatte, ihn durch einen angeblichen Anruf seiner Frau wegen eines Notfalls vom Werksgelände zu locken, um ihn so besser verschleppen zu können. Er hätte jedoch diese Falle erkannt und wurde daraufhin zum Werksleiter Tasselkraut in das Büro gebeten, wo bereits zwei Polizisten in Zivil auf ihn warteten. Diese wollten ihn sofort mitnehmen. Da der Werksleiter jedoch in dem Moment Unruhe im Betrieb vermeiden wollte, wurde Héctor Ratto erst am Abend durch Angehörige des Heeres verschleppt, Er wurde dann mehrere Monate in Folterzentren festgehalten und dort mit Elektroschocks gefoltert. Monatelang konnte er seine Arme nicht mehr bewegen. Er leidet bis heute unter den Spätfolgen der ihm zugefügten Tortur.

Héctor Ratto schildert, daß Juan Tasselkraut in seinem Beisein den Polizisten in Zivil die Adresse eines weiteren unabhängigen Betriebsrates die von Diego Núnez nannte. Diego Núnez wurde in der folgenden Nacht in seiner Wohnung verhaftet, in das Folterzentrum Campo de Mayo gebracht und dort ermordet. Das Aushändigen der Adresse durch Juan Tasselkraut stellt zumindestens eine Belhilfehandlung dar. Denn Herr Tasselkraut handelte vorsätzlich. Er wußte, was die Sicherheitsorgane mit den entführten Personen anstellten. Gegenüber der Journalistin, Frau Dr. Weber ließ er sich dazu im Frühjahr 1999 retrospektiv wie folgt ein: "Ja, wer einigermaßen sich auskannte in Argentinien, der wußte klar, daß gegen jede menschlichen Sinne, gegen jedes Menschenrecht in Argentinien Leute beseitigt wurden."

Die Angaben von Héctor Ratto führten 1985 im Prozeß gegen die Verantwortlichen Militärs mit dazu, daß diese verurteilt werden konnten. Er trat dort als Zeuge der Anklage auf und gab die Umstände seiner Verhaftung zu Protokoll. In der Urteilsbegründung wurde sein Fall wie der des ermordeten Diego Núnez dokumentiert. Die Richter würdigten seine Aussagen als glaubwürdig und stützten unter anderem darauf die Verurteilung der Kommandanten.

Damit ist nach hiesiger Auffassung zumindestens der Anfangsverdacht gegen den damaligen Betriebsleiter von Mercedes Benz Buenos Aires/Argentinien in der Beteiligung von der Ermordung und einem Verschwindenlassen von unabhängigen Betriebsräten gegeben. Weitere Verantwortliche sind zu ermitteln, da nicht davon auszugehen ist, daß der Werksleiter Tasselkraut aus alleinigem Antrieb und in alleiniger Initiative handelte. Das Verschwindenlassen der 8 aktivsten Betriebsräte des Mercedes Benz-Werkes in González Catán spricht vielmehr für ein koordiniertes Vorgehen der Werksleitung, des Werkssicherheitsdienstes und den Sicherheitskräften. Denn zum einen waren den Sicherheitskräften als Außenstehenden die Identitäten der Aktivisten wohl kaum bekannt, zum anderen fanden Verhaftungen auf dem Werksgelände statt bzw. sollten auf dem Gelände stattfinden (siehe der Fall Ratto). Die Umstände von dessen Entführung legen nahe, daß Polizei und Militärs insoweit gemeinsam mit den Verantwortlichen des Werkes handelten. Darüberhinaus springt natürlich der zeitliche Zusammenhang zwischen den Gesprächen der Mercedes-Betriebsleitung und den Betriebsräten Reimer und Ventura am 4.1.1977, deren ungewöhnlich harmonischer Verlauf und der anschließenden Entführung der beiden Arbeitervertreter ins Auge.

Darüberhinaus sind natürlich die jahrelangen ungewöhnlichen Zahlungen der Werkleitung an die hinterbliebenen Familienangehörigen der Verschwundenen ein deutlicher Beweis dafür, daß die Werksleitung über das Schicksal der Betriebsräte informiert war. Denn der Familie eines lediglich von der Arbeit Abwesenden, von dem man nicht wußte, aus welchen Gründen er nicht mehr weiterarbeitete, hätte man wohl kaum über Jahre hinweg den Lohn fortbezahlt.

Es ist daher schließlich davon auszugehen, daß diese Geschäftspolitik, insbesondere die ungewöhnlichen Ausgaben, aber auch das Agieren der Sicherheitskräfte, das Vorgehen gegenüber den Betriebsräten Gegenstand von gemeinsamen Erörterungen der Werksleitung in Argentinien, sprich Herrn Tasselkraut und namentlich hier nicht bekannten Verantwortlichen der Firmenzentrale in Deutschland waren.

Die in der Radiosendung vom 31. August 1999 aufgeführten Zeugen und Quellen sind, soweit sie sich in Argentinien aufhalten konsularisch zu vernehmen. Der Unterzeichnende wird in den nächsten Wochen weitere Einzelheiten mitteilen.

Kaleck
Rechtsanwalt und Mitglied des Bundesvorstandes des RAV

Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte für Demokratie und Menschenrechte