„Sprache wurde nicht entwickelt, um die Wahrheit zu sagen“. (George Steiner)
Vorweihnachtszeit ist Märchenzeit - diesem Motto waren auch verschiedene TeilnehmerInnen des Stuttgarter Treffens der Gewerkschaftslinken verpflichtet. Insbesondere die Kategorie Schauermärchen war eloquent vertreten, die zusammen ein regelrechtes Repetitorium der strategischen Klippschule darstellten. Da gab es viel zu lernen.
1. Ich habe es im fernen Dortmund schon wieder verpaßt: daß die Tarifrunden politisiert waren, sind oder gleich darauf werden. Hat wahrscheinlich damit zu tun, daß niemand in Dortmund wegen Teewasser eine Revolution anfangen würde. Das Bier macht den Unterschied: Nach dem siebten Glas am 1.Mai halten hier die Hauptvorständler dieselben Reden, wie in Stuttgart zwei Tage lang. Schauerlich nüchtern.
2. Ein kurzer Lehrgang der Geschichte der Arbeiterbewegung: Leider war ich nicht in der AG Mitbestimmung, dann wären auch meine letzten Fragen bezüglich des Betriebsrätegesetzes seit 1920 beantwortet gewesen. Denn bisher dachte ich immer, erst nachdem ein Teil der Arbeiterbewegung - um es einheitsträchtig zu formulieren - eher etwas unsanft von irgendwelchen Revoluzzerdingen abgebracht worden sei, habe es zur Belohnung Betriebsräte statt Soldatenräte gegeben. Wahrscheinlich doch wg Antimilitarismus? Falsch. Das Gesetz war ein Fortschritt.
3. Endlich erklärte mir jemand den Sozialismus, vielmehr: worin denn die „Arbeit der Zuspitzung“ besteht. Alle Aktivitäten müssen zugespitzt werden auf den Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit. Der Letzte einer schier unendlichen Reihe, der versuchte, mir das zu erklären, ist daran gescheitert. Zur Strafe mußte er Altkanzler in spe werden. Jetzt habe ich das begriffen. Wenn ich beim Lauf durch unser gallisches Dorf künftig die gelben Dodimännchen sehe, werde ich pflichtgemäß fühlen: Stolz auf unsere SPD, die es geschafft hat, diesen armen Unglücklichen wieder Sinn zu geben, von Faschismus und Verbrechen abzuhalten. Straße fegen. Sie sind, zugespitzt gesagt: Wieder in Arbeit, in Lohn und (trocken) Brot.
4. Abgerundet alles von persönlicher Nostalgie. Großer Saal im Stuttgarter DGB Haus. Da, wo wir im seligen Jahr 1966 die erste schwäbische Anti-Vietnamkriegs- Demo vorbereiteten. Damals - ich habe vergessen , wer - hielt jemand ein Referat, die SPD werde sich mit der großen Koalition endgültig von der Arbeiterbewegung verabschieden. Auch davon gab es eine 99er Cover-Version.
Eine Frage allerdings blieb mir - noch? - unbeantwortet. Nachdem ich im Sommer schon gelernt hatte, was eine Regierungslinke ist: Jene die gegen Krieg sind, aber trotzdem bomben lassen - müßte ich jetzt nur noch wissen, was das ist: Eine hauptamtliche Gewerkschafts-Linke. Jene, die alle Jahre wieder dieselbe Rede schwingen - ohne Bier?