Der lange Marsch aus dem Nebel

"Gewerkschaftliche Linke" als politisches Handlungsfeld

Frank Deppe hatte die Frage am Ende der ersten Plenumsdebatte aufgeworfen: Wie kommt es überhaupt, dass sich 1999 Linke aus den Gewerkschaften zum dritten Mal innerhalb eines Jahres versammeln und – irgendwo im Niemandsland zwischen Resignation und Aktionismus – einen Selbstverständigungsprozess beginnen? Bodo Zeuner wiederum hat in derselben Debatte einen Hinweis gegeben, dem man genauer nachgehen sollte: Die Arbeiterbewegung gäbe es noch, freilich nur in ihrem "Aggregatzustand". Gemeint waren damit das übrig gebliebene Gerippe - oder die Struktur - der institutionalisierten Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften, daneben die anderen Verbände und Teile der Sozialdemokratie.

Geht es denn überhaupt um die "Gewerkschaftslinke"? Ja und nein. Die Initiative geht eindeutig von Aktiven in Gewerkschaften und Betrieben aus, und zwar auf allen Ebenen, von Hauptvorstandsmitgliedern bis zu Vertrauensleuten. Insofern ist "Gewerkschaftslinke" die zutreffende Bezeichung. Aber die politische Dynamik zielt auf etwas anderes, nämlich auf jene Rest-Position einer politischen Linken, die gleichermaßen durch die Entwicklung der Sozialdemokratie, der Grünen und der Gewerkschaften vakant geworden ist. Dass sich nun der Rest-Posten der alten Linken innerhalb der Gewerkschaften aufmacht, die Rest-Positionen auf politischer Ebene neu zu besetzen, ist deshalb nicht verwunderlich, weil dies offenbar das einzige Handlungsfeld von Linken ist, in denen auf existierende Strukturen – und zwar durchaus Herrschafts-Strukturen – zurückgegriffen werden kann. Ohne die alte "Arbeiterbewegung in ihrem Aggregatzustand" ist dieser Formierungsversuch undenkbar.

Im Kern aber zielt die Debatte auf Perspektiven der Linken im übergreifenden gesellschaftlichen Sinne, auch wenn dies eine politische und noch keineswegs soziale Linke ist. Kaum eine der früheren Differenzen hat sich dabei erübrigt. Nur werden die Trennlinien heute anders gezogen, sie überkreuzen sich, und so etwas wie eine homogene Fraktionierung ist derzeit schlecht begründbar: Teile der alten Betriebslinken, die mit Recht auf Mobilisierung und Selbsttätigkeit in Bewegungen setzen, beharren auf einem erschreckend naiven Konzept von Klassen-Kampf als industriebetrieblicher Aktion. Während umgekehrt ein Großteil des eher reformpolitischen Flügels (so man denn von "Flügeln" sprechen kann), und damit VertreterInnen einer institutionellen Politik, eine wesentlich höhere Sensibilität für die politische, ökonomische und auch kulturelle Dimension des historischen Umbruchs an den Tag legen. Beide Auffassungen und auch die VertreterInnen einer scheinbar radikalen Aktionsorientierung nicht nur der revolutionär-sozialistischen Tradition erweisen sich so als "Arbeiterbewegung im Aggregatzustand".

Noch befindet sich diese Linke im verspiegelten Raum, Perspektiven sind meist bloße Projektionen. Die Nennung zahlreicher "Politikfelder" oder pluraler "Realitäten" dient dann dazu, die Schwäche im einen Feld durch Projektion aufs andere zu kompensieren. Was die Bewegungsansätze nicht schaffen, sollen Gesetze lösen; was in der konkreten Tarifpolitik nicht gelingt, wird in vage Umrisse einer Gesellschaftspolitik ohne kämpfende Akteure verlegt; und wenn sich der Nebel über der Zukunft immer noch nicht gelegt hat, verweist man auf die aktuelle Tagespolitik, wobei unklar bleibt, was daran "links" ist. So beginnt von Neuem der Marsch in den Nebel.

All dies sind zwangsläufige Anfangsschwierigkeiten, aber auch niemals richtig auskurierte Kinderkrankheiten der historischen Linken. Ob sie sich nun reformistisch oder revolutionär genannt haben und vielleicht noch so nennen mögen, radikal ist dies allemal nicht. Bernd Riexinger hat die Losung eines "radikalen Zukunftsprojektes" ausgegeben, woran nichts auszusetzen ist, außer dass die "Zukunft" nicht dauernd dafür herhalten darf, zum Museum unerfüllter Gegenwartsaufgaben zu werden. Besser wäre es deshalb, von einem "radikalen Gegenwartsprojekt" zu sprechen, was jenseits eines orthodoxen Verbalradikalismus auf die zentralen Inhalte einer sich neu formierenden Linken verweist: Räume konkreter Emanzipation aufzumachen und zu erkämpfen, die sich durchaus auf das vorerst bescheidene Ausmaß von Tarif- und Sozialpolitik beschränken mögen. Die Umverteilungsforderung nach einer "solidarischen Sozialpolitik" ist im Alltag nicht durchzuhalten ohne die praktische, theoretische und programmatische Artikulation von Aneignungs-Ansprüchen.

Auch das bleibt vorerst nebulös, aber es ist der Nebel, der sich über die Gegenwart legt. Wenigstens darf die Trennung zwischen Perspektive und "Tagesgeschäft" nicht mehr gelten. Andernfalls wird die Gewerkschaftslinke dazu verdammt sein, statt zu einer sozialen (und nicht nur politischen Linken) zum reinen Gewerkschafts-Ersatz zu werden. Sie befindet sich eben selbst in einem "Aggregatzustand", was nicht zu bejammern ist, sondern zu einer nüchternen Selbsteinschätzung gehört. Besinnt sich diese Linke wieder auf ihre radikalen, nämlich emanzipativen Ansprüche und Bedürfnisse, wird sie auch einen neuen Zugang zum real existierenden Alltag außerhalb wie innerhalb der Betriebe finden. Diese Verflüssigung eines historischen "Aggregatzustandes" kommt dann einem langen Marsch aus dem Nebel gleich. Manchmal verliert man dabei aus dem Auge, wer noch oder wieder neben einem geht. Mit allerlei Überraschungen wird da zu rechnen sein. Aber solche Unwägbarkeiten gehören zu den Risiken, ohne die es eine Zukunft in der Gegenwart niemals geben wird.

Martin Dieckmann

Erschienen in: ak analyse & kritik 433 vom 16. Dezember 1999