Dockerstreiks und E-Mail-Fluten

Pit Wuhrer, Cambridge

 

Wie hat man sich einen vorzustellen, den viele in aller Welt als Computerfreak kennen, der nach eigenem Bekunden «weit über vierzig Stunden» vor dem Monitor sitzt und dessen Arbeit am Rechner möglicherweise eine bahnbrechende Veränderung eingeleitet hat? Auch die Computerwelt kennt Klischees: Die Zaubermeister an der Tastatur wirken ausgehungert oder aufgedunsen, agieren leicht linkisch oder schon völlig vergeistigt, sind besessen oder bescheuert, reden nur von Bits und Clustern und laufen mit geröteten Augen herum.

Das mit den Augen stimmt. Aber sonst passt Chris Bailey in keine Schablone. Der gelernte Dreher und Maschinenbauer arbeitete in der Flugzeugfabrikation, wurde 1981 wie so viele entlassen, fand als «radikaler Linker und militanter Gewerkschafter» keinen Job - in Cambridge, wo er und seine Frau Lotti wohnen, spricht sich so etwas schnell herum. Er engagierte sich im nationalen Vorstand der örtlichen Gewerkschaftsräte, gründete mit anderen die Zeitschrift «Trade Union News» und arbeitete Mitte der achtziger Jahre für die südafrikanische Metallarbeiter-Gewerkschaft, die gerade eine internationale Kampagne gegen den britischen Konzern BTR begann. BTR hatte alle 970 Beschäftigten eines südafrikanischen Werks entlassen, und Bailey koordinierte den Protest in Britannien und den USA.

Das waren seine ersten praktischen Erfahrungen mit internationaler Gewerkschaftsarbeit. Trotz einiger Erfolge (US-amerikanische und südafrikanische ArbeiterInnen demonstrierten vor der Konzernzentrale in London) haben sie den Kampf verloren; damit war Chris Bailey wieder arbeitslos. «Margaret Thatcher hat mir zu einem neuen Leben verholfen», sagt er heute. Wenn er nicht gerade gewerkschaftlich unterwegs war, reparierte er Rechner oder gab Computerkurse in der örtlichen Arbeitsloseninitiative; von Elektronik verstand er was. Schliesslich begann er ein Studium der Politologie an der Southbank University in London.

Chris Bailey ist immer noch arbeitslos, fährt weiterhin einmal die Woche an die Uni, und Lotti, seine Frau, bestreitet nach wie vor den Lebensunterhalt (die geborene Bernerin arbeitet auf der Stadtverwaltung, hat jetzt eine Prüfung als Fremdenführerin abgelegt und ist nebenbei noch Vorsitzende des örtlichen Gewerkschaftsrats). Doch heute ist Chris Bailey ein bekannter Mann, der immer noch über den Erfolg seiner Arbeit staunt: Bailey ist Gründer und Webmaster von LabourNet, der weltweit wohl grössten und erfolgreichsten Website im Dienste der Arbeiterbewegung.

LabourNet (www.labournet.org.uk) ist vieles gleichzeitig: ein Nachrichtendienst, ein elektronisches Magazin, ein Archiv der grossen Kämpfe der letzten Jahre. Derzeit enthält die Startseite Nachrichten zum geplanten und dann abgesetzten Generalstreik in Südkorea, Informationen über die Hintergründe des Attentats auf Akin Birdal (Türkei), Berichte zu Streiks in Nicaragua, den Report über die Freilassung eines indonesischen Gewerkschafters, einen Aufruf zur Unterstützung einer streikenden Belegschaft in Britannien, Artikel zur Solidarität von US-Dockern mit ihren Kollegen in Australien. Dazu gibt es die neuesten Informationen über eine Kampagne gegen den Bergbau-Konzern Rio Tinto, über den Kampf der russischen Bergarbeiter, über ein Gerichtsurteil in Südafrika (nach dreizehn Jahren haben die ehemaligen BTR-ArbeiterInnen doch noch Recht erhalten), über die bevorstehende Demonstration gegen die Eröffnung der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main. Dazu direkte Verbindungen (Links) zu LabourNet Germany, zu LaborNet in den USA, zum Nachrichtenbulletin der koreanischen Gewerkschaften, zu mexikanischen Websites.

UEBER LABORNET ZUM LABOURNET

Das Schaltzentrum dieser grossen Site (ihr verdankt auch die WoZ viele Hinweise) befindet sich im Anbau des kleinen Hauses der Baileys im Norden von Cambridge. Ein Schreibtisch, ein paar Bücher, ein Aktenschrank, ein Computer, ein Modem, ein Scanner - mehr braucht es nicht. Der winzige Raum liegt direkt neben dem Wohnzimmer; hier erzählt der 52-Jährige, wie er mit LaborNet in den USA in Kontakt kam; dass die LaborNet-Betreiber ihn um Berichte aus Britannien baten und dass er ihnen halt Artikel aus seiner Zeitung zuschickte, worauf er im Gegenzug LaborNet-Texte aus aller Welt erhielt (per E-Mail natürlich) und die Meldungen über Arbeitskämpfe in den «Trade Union News» abdruckte. All das erzählt Chris Bailey in atemberaubender Geschwindigkeit und surft dabei von Gedanken zu Gedanken, ohne die Sätze zuzumachen - auch Computerarbeit färbt ab. Der kleine Informationsaustausch hat ihn nicht sonderlich beeindruckt. Und überzeugt haben ihn die US-amerikanischen Vorstellungen eines Kommunikationsverbundes schon gar nicht. Denn LaborNet liefert Nachrichten nur im Abonnement und gegen Bezahlung.

Der Groschen fiel vor drei Jahren. Damals beschäftigte sich Chris Bailey ziemlich intensiv mit der Geschichte des Arbeiterinternationalismus, mit der ersten Internationale zum Beispiel, die von Marx und Engels und anderen gegründet worden war in einer Zeit des zunehmenden Freihandels. «Die Entwicklung ist Ende des letzten Jahrhunderts dann in eine andere Richtung gelaufen, die Arbeiter organisierten sich national, und die Nationalstaaten haben die Gewerkschaftsbewegung eingebunden. Jetzt aber ist der Wirtschaftsliberalismus stärker denn je. Schon deswegen brauchen wir eine viel stärkere internationalistische Bewegung.»

Etwa zur gleichen Zeit lernte er das World Wide Web (WWW) kennen, dieses leicht bedienbare Netz im Internet. Überzeugt hat ihn schliesslich die Argumentation eines Zeitungsredaktors aus Trinidad, der auf einer Gewerkschaftsveranstaltung über die neuen Technologien sprach. «Der hat aufgelistet, wie viel Geld es kostet, eine gedruckte Zeitung zu machen - und wie billig eine Zeitung im Netz ist, wo es zudem mehr Chancengleichheit gibt, die grossen Verlage also nicht alles dominieren.» Man brauche dazu nur einen Computer und ein Modem.

Chris Bailey hatte einen Computer und ein Modem. Und er fand schnell einen Einstieg: Im September 1995 wurden alle Liverpooler Hafenarbeiter ausgesperrt, weil sie sich weigerten, die Einführung des Tagelohns in den Docks hinzunehmen. Die Liverpooler kannte er schon lange - die Docker von Merseyside hatten oft andere Belegschaften unterstützt. Auch bei UmweltschützerInnen standen die Docker in einem guten Ruf, weil sie Uran- und Gifttransporte blockierten. Und so stimmten die AktivistInnen von GreenNet, einem links-ökologischen Rechnerverbund, sofort zu, als Chris Bailey um etwas Platz auf ihrem Server bat.

GreenNet stellte ihm die Rechnerleistung gratis zur Verfügung, Lotti zahlte die Telefonrechnungen, da fehlten nur noch die Informationen. Doch die waren schwerer zu kriegen als gedacht: Die Liverpooler Docker schickten ihm zwar hin und wieder einen Packen Material, «aber das war völlig unbrauchbar». Da sass er nun in Cambridge, hatte Speicherplatz in einem Rechner in London, und im Nordwesten kämpften fünfhundert Hafenarbeiter um ihre Jobs. Sie standen Streikposten, organisierten Demos, sammelten Geld und hatten keine Vorstellung davon, was dieser Bailey von ihnen wollte. Doch dann hörte Chris über einen Bekannten in Chicago von einem gewissen Greg Dropkin in Liverpool.

DER REPORTER

Streikpostenstehen muss ihm zur zweiten Natur geworden sein. Und so findet man Greg Dropkin wieder bei protestierenden Arbeiterinnen. Diesmal demonstriert der Mann mit den langen Haaren, dem grau melierten Bart und dem amerikanischen Akzent vor dem Krankenhaus von Fazakerley im Norden Liverpools, wo gerade vierzig Frauen ihren Arbeitsplatz verloren haben. Vor vielen Jahren ist der knapp Vierzigjährige hierher gekommen, hat studiert, sich in der Südafrika-Bewegung und vielen anderen Initiativen engagiert und wohl auch deswegen seit langem keine bezahlte Arbeit mehr; das bisschen Sozialhilfe reicht kaum zum Überleben. Dabei verfügt Greg Dropkin über einige beachtliche Fähigkeiten: er ist ein vorzüglicher Rechercheur, und schreiben kann er auch. Er hätte sehr wohl einen guten Posten als Journalist bekommen können, wenn er nicht eine ungünstige Eigenart besässe - ständig will er über Ereignisse berichten, die grosse Zeitungen nicht interessieren.

So auch im Herbst 1995. «Ich habe mir überlegt, wie ich den Kampf der Docker unterstützen könnte», sagt Greg auf dem Weg von der Picket-Line in Fazakerley zum Transport House, wo die Hafenarbeiter noch immer ihr Quartier haben. «Also habe ich Artikel geschrieben und an den 'Guardian' geschickt. Vier Mal habe ich denen unterschiedliche Manuskripte zukommen lassen, vergeblich. Auch der 'Observer' und der 'Independent' reagierten nicht.» Zu dieser Zeit hatte die britische Presse bereits ihr Interesse an den Liverpoolern verloren. Auch von Dropkins exzellenter Reportage über den Einsatz der Streikbrecher als Tagelöhner (dies war von der Hafenfirma immer bestritten worden) wollten die Zeitungen nichts wissen. Da stand er nun mit seinen Texten - bis ihm ein Bekannter in Chicago den Tip gab, sich mit Chris in Verbindung zu setzen, «da dieser so eine Internet-Sache mit den Dockern» mache.

Das war im Dezember 1995. Kurz danach reiste Greg Dropkin mit einer Busladung Docker zum Hafen von Sheerness in Südengland. Die Arbeiter blockierten die Einfahrt zum Hafen, Greg setzte sich anschliessend ins Café, schrieb seinen Bericht und diktierte ihn übers Telefon auf das Tonband, das Chris am anderen Ende der Leitung eingeschaltet hatte: Hightech im Zeitalter des Internet. Chris Bailey tippte den Artikel ab, versah den Text mit den notwendigen Codes, und so kam Gregs erster Bericht auf die Homepage.

«Die Technik hat mich nicht interessiert», sagt er, «ich wollte nur den Kampf der Docker unterstützen, und das hiess für mich: ihn bekannt machen.» Die «low tech»-Weise der Textübermittlung blieb ein Jahr lang bestehen. Greg Dropkin hatte einen Computer, aber nur ein 5-1/4-Zoll-Laufwerk. Ein Freund hatte ein Modem, aber in dessen Computer passten nur 3-1/2-Zoll-Disketten. Also marschierte er erst zu einem anderen Kumpel, dessen Rechner mit zwei Laufwerken versehen war. Der Produktivität tat dies keinen Abbruch: Greg war immer dabei, wenn die Docker Schleusen blockierten, auf Krane kletterten oder Schiffe besetzten. Er wurde schnell zum wichtigsten Reporter des LabourNet und widmete sich auch in der übrigen Zeit der Weiterverbreitung von Nachrichten. Denn mittlerweile reichten die Docker alle Informationen, Solidaritätsbekundungen und Protestresolutionen weiter, die sie per Fax erhalten hatten. Greg schrieb sie ab, Chris hob sie ins Netz, und so waren sie weltweit zu lesen.

INTERNATIONALISMUS - GANZ PRAKTISCH

Die Docker begriffen bald, welche Möglichkeiten in den neuen Übermittlungsmethoden stecken. Die australischen Hafenarbeiter erfuhren von einer kleinen linken Zeitung, die eine E-Mail aufgeschnappt hatte, vom Kampf in England und luden eine Liverpooler Delegation ein. Dann tauchten plötzlich japanische Docker in Merseyside auf, Arbeiter von der nordamerikanischen Westküste schickten Geld, kanadische Schauerleute boykottierten ein Schiff. «Das Internet», sagt Greg Dropkin, «bewirkt allein nichts. Wenn das Interesse nicht da ist, kannst du an einer Website arbeiten, bis du schwarz wirst.» Das Interesse aber war da: Überall auf der Welt sind die Hafenarbeiter den gleichen Attacken ausgesetzt. Und natürlich geht es weiterhin auch ohne Internet: Die schwedischen Hafenarbeiter waren die Einzigen, die regelmässig jede Woche ein Schiff aus Liverpool stoppten, sie kommunizierten jedoch via Fax oder Telefon oder reisten einfach an.

Für andere aber war die elektronische Kommunikation ausgesprochen praktisch - vor allem, wenn sie weit weg in Gegenden lebten, in denen sich das neue Medium bereits durchgesetzt hat. In Montreal zum Beispiel, erzählt Greg, klicken Docker zwischen zwei Snookerspielen kurz LabourNet an; dort steht ein Computer neben den Billardtischen, die halbe Stunde kostet zwei Dollar. In Kalifornien, dem Landstrich mit der grössten Computerdichte, wird das Internet ohnehin ganz selbstverständlich genutzt. «Dort haben Mitglieder der Hafenarbeitergewerkschaft ILWU unsere Meldungen ausgedruckt und in den Gewerkschaftsräumen aufgehängt», weiss Chris Bailey.

In Kalifornien hatte er auch sein grosses Erlebnis. Das war nach dem ersten internationalen Aktionstag gewesen - am 20. Januar 1997 hatten Hafenarbeiter in 105 Häfen und 27 Ländern bis zu 24 Stunden aus Solidarität mit den Liverpooler Dockern die Arbeit niedergelegt. Es war eine der grössten internationalen Solidaritätsaktionen der letzten Jahrzente. Kurz danach wurde Chris Bailey zu einem Internet-Seminar in San Francisco eingeladen - «und da steht doch glatt ein Docker auf und sagt, dass es ohne LabourNet diese Arbeitsniederlegungen nicht gegeben hätte». Chris Bailey erzählt diese Episode mit einigem Stolz, aber gleichzeitig etwas verlegen, als sei er jetzt doch arg unbescheiden geworden. Immerhin erfuhr er in Kalifornien, dass sein LabourNet mehr ist als nur ein Spiel, in dem er sich manchmal wähnt, wenn er stundenlang allein vor dem Monitor sitzt. «Ab und zu denke ich, jetzt kommt gleich ein Klingelzeichen: Herzlichen Glückwunsch, 10 000 Punkte, Rekord gebrochen, Game over.»

In San Francisco sah er, dass am anderen Ende tatsächlich Menschen sitzen. Dort hat er auch erfahren, dass manche US-Docker ursprünglich gar nicht so erpicht auf einen Ausstand gewesen waren. Die Gewerkschaftsführung sah sich allein auf weiter Flur, doch die Basis protestierte: Die Japaner hätten einen Ausstand zugunsten der Liverpooler verkündet, ihre Erklärung sei im Internet nachzulesen. Da sich ein richtiger Westküstendocker von den Japanern nicht einfach übertrumpfen lässt, verloren die Reeder mit Schiffen zwischen Los Angeles und Seattle an jenem Tag viel Geld.

Abgesehen von einigen lokalen Medien und «Lloyd's List», der Tageszeitung für die Schiffahrtsindustrie, berichtete niemand über den Aktionstag - ausser LabourNet natürlich. Als zwei Monate später die brasilianische Regierung einen Teil des Hafens von Santos privatisierte, die bedrohten Docker zwei Schiffe besetzten und Präsident Fernando Henrique Cardoso mit dem Einsatz der Bundespolizei drohte, veröffentlichte LabourNet die E-Mail-Adresse des Staatschefs. Der Erfolg dieser Aktion ist immer noch nachzulesen (www.viasantos.com/intersindical).

Der Kampf der Santos-Docker führte LabourNet erstmals in andere Sprachräume (Greg übersetzte die Informationen von der Website der Santos-Docker ins Englische), es war der erste Schritt hin zum globalen Netz. Cardoso liess dann doch die Bundespolizei los, und aus Brasilien kam ein Bericht über eine Demonstration von tausend Dockern im Stadtzentrum von Santos. Diese trugen, es- kortiert von Cardosos Truppen, ein Transparent mit sich: «Santos, Liverpool, Seoul, Amsterdam - one world, one struggle». Als Chris Bailey das sah, hätte er «heulen können. Das war LabourNet. Nur wir haben über den Kampf der Amsterdamer Docker berichtet.»

Auch der zweite internationale Aktionstag zugunsten der Liverpooler im September 1997 kam dank LabourNet zustande; dieser Ausstand fand nämlich noch weniger Unterstützung vonseiten der offiziellen Gewerkschaftshierarchie als der erste. Und über ihn wurde in den anderen Medien noch weniger berichtet. Nur die Reeder trafen ihre Vorbereitungen, als sie von der Absicht erfuhren. Deswegen hielten die Docker den Termin geheim - und zeigten damit einen weiteren Vorteil der elektronischen Kommunikation auf: ihre Geschwindigkeit. Der Zeitpunkt des zweiten Aktionstages wurde der Welt aus einem kleinen Anbau im Norden Cambridges bekannt gegeben.

Die auch sprachlich internationale Seite ihrer Website haben Chris, Greg und das halbe Dutzend MitstreiterInnen in den letzten Monaten zügig ausgebaut. Inzwischen führen das spanischsprachige La Red Obrera (www.labournet.org.uk/spanish) und das deutschsprachige LabourNet Germany (www.labournet.org.uk/germany) ein Eigenleben - sie sind Sites für sich.

DER SAMMLER

Aber was ist mit den Gewerkschaften? Haben die eigentlich auch Websites? Und wie werden sie genutzt? Steve Davies ist der kompetente Mann für solche Fragen, auch wenn er sich selber als «Anfänger» versteht. Steve Davies hat das getan, worauf viele warteten: Er hat in einem halben Jahr Arbeit ein elektronisches Adressbuch aller Gewerkschaftssites aufgebaut (www.cf.ac.uk/ccin/union/). Seine Cyber Picket Line, wie er das Verzeichnis nennt, ging am 1. Mai 1997 ans Netz; heute umfasst sie 1700 Links zu Gewerkschaften und gewerkschaftsnahen Einrichtungen.

Steve Davies ist auch in anderer Hinsicht Experte: Bis vor zwei Jahren war er Pressesprecher und Assistent des Generalsekretärs der britischen Gewerkschaft der öffentlich Bediensteten CPSA. Dort hat er erlebt, wie gedankenlos Organisationen die elektronischen Kommunikationsmittel einsetzen. «Bei uns erhielt jeder eine E-Mail-Adresse», erinnert er sich, «aber keinen Computer. Also ging jeder Funktionär hin und wieder zu den Sekretärinnen, das waren natürlich alles Frauen, bat um seine Post, die schalteten den Rechner an, druckten die E-Mails aus und legten sie ins Fach. Ein Brief wäre genauso schnell gewesen.» An einem Computer arbeitete er erstmals, nachdem er an die Universität Cardiff gewechselt hatte. Erst dort ging dem 42-Jährigen auf, welche Möglichkeiten das Internet bietet.

FAX-KAMPAGNEN UND INTERNET-TV

Das erste Gewerkschaftsnetz war bereits 1981 entstanden. In Kanada errichtete die LehrerInnengewerkschaft von British Columbia einen E-Mail-Verbund mit Diskussionsforen und einem Informationspool. Die Vernetzung entstand nicht zufällig dort: British Columbia liegt an der nordamerikanischen Westküste, unweit Kaliforniens, wo die Computer den ersten Boom erfuhren, ausserdem ist die Provinz 23-mal so gross wie die Schweiz. Grösse spielt auch heute noch eine Rolle - in Brasilien zum Beispiel nutzen mittlerweile siebzig Gewerkschaftsorganisationen das Internet; manche haben beachtliche Websites aufgebaut. Auch dort gibt es die Diskussion, was das Internet eigentlich jenen Ländern bringen kann, in denen es kaum Telefonleitungen und keine regelmässige Stromversorgung gibt. Doch dieser Einwand ist nur teilweise berechtigt: Erstens müssen nicht alle einen Computer besitzen, wenn es darum geht, weltweit Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaftsverbände zu alarmieren, wenn wieder mal ein Gewerkschafter entführt wurde - ein Computer, ein Modem und ein simples Programm reichen; zweitens schreitet auch dort die Entwicklung (etwa über drahtlose Verbindungen) voran.

Für schnelle und billige Verteilung von Informationen über grosse Strecken hinweg genügen die simplen Systeme; sie reichen auch für veritable Kampagnen aus. Als 1995 die japanische Reifenfirma Bridgestone 2300 streikende US-ArbeiterInnen feuerte, initiierte die Internationale Föderation der Chemie-, Energie- und Bergarbeiter-Gewerkschaften (ICEM) eine Cyber-Demonstration: Sie veröffentlichte die Faxnummern und E-Mail-Adressen aller Bridgestone-Abteilungen und bat um Protestresolutionen. Um den internen Kommunikationsablauf zu gewährleisten, musste der Konzern eine parallele E-Mail-Struktur aufbauen. So was ist teuer; die ArbeiterInnen gewannen.

Genauso einfach (wenngleich technisch etwas aufwendiger) war ein System, das die australischen Hafenarbeiter im WWW aufgebaut hatten: Wer gegen die Entlassung der Docker protestieren wollte, schickte seine Botschaft an eine bestimmte E-Mail-Adresse. Von dort wurde der Brief automatisch an die Faxgeräte und Mailboxen des australischen Premierministers, des Arbeitsministeriums, der Hafenfirma Patrick und (als Beleg) der Gewerkschaft weitergeleitet. Über ausgefeilte Cyberstrukturen verfügt auch die Gewerkschaft der Teamsters in den USA. Im Kampf gegen den Paketdienst UPS verschickte die Zentrale bei Bedarf mehrmals täglich ein druckfertiges Bulletin, das überall im Land sofort verteilt werden konnte. Und um die Basis über jede Entwicklung sofort ins Bild zu setzen, sprach Teamster-Chef Ron Carey unmittelbar nach den Gesprächsrunden live zu den Mitgliedern. Er war dabei nicht auf die Gnade herkömmlicher TV-Kanäle angewiesen: Bild und Ton kamen per Internet in die Gewerkschaftshäuser.

Globalisierung und Internet wiesen vor allem den Internationalen Gewerkschaftssekretariaten eine neue Rolle zu, sagt Steve Davies - ICEM und die Transportarbeiter-Föderation ITF haben das Netz als Erste genutzt und verfügen auch heute über sehr gute Websites (www.icem.org beziehungsweise www.itf.org). Aber die meisten Gewerkschaften seien in dieser Hinsicht einfach schrecklich. Ihre Sites markieren bestenfalls Präsenz (etwa die wenigen schweizerischen) oder bedienen die Eitelkeit der Bürokraten. Generell seien kleine und junge Organisationen weitaus engagierter, sagt Steve Davies - die südafrikanischen und koreanischen Gewerkschaften beispielsweise haben gute Sites entwickelt. Oft sind sogar Ortsgruppen besser als die Zentralen - mit Links zu anderen Sites oder Pages über Rechtshilfe, Tarifverträge und berufliche Weiterbildung. Nur die Möglichkeit der interaktiven Kommunikation werde kaum genutzt - dabei besteht gerade darin das Potenzial zur Demokratisierung. Davies weiss von mindestens einer Gewerkschaft, die ein Diskussionsforum wieder stilllegte; die Mitglieder hatten das «Brett» rege genutzt - zur Kritik der Führung.

Solange sich die Gewerkschaftbürokratien so abkapseln, werden Sites wie LabourNet oder das Global Labournet von Eric Lee* weiter an Bedeutung gewinnen. «Leute wie Chris und ich spielen nur eine Rolle, weil die Gewerkschaften das Internet noch nicht begriffen haben», sagt Steve Davies.

UND SIE WERDEN ERNST GENOMMEN

Die Gegenseite hat es begriffen. Im April wurde GreenNet Ziel eines Hackerangriffs, der den gesamten Dienst für zwei Wochen lahm legte. Chris Bailey ist überzeugt, dass die Attacke LabourNet galt - in jenen Wochen erreichte der Streik der australischen Hafenarbeiter einen Höhepunkt. Woher der Angriff kam, war nicht festzustellen; kurz danach hat ein GreenNet-Techniker gesehen, wie ein Rechner von der Universität Basel unbefugterweise die Programme von GreenNet durch- suchte. Wer da was warum aus Basel wollte, konnte nicht ermittelt werden.

Langfristig problematischer könnte die Verleumdungsklage werden, die das britische Unternehmen Biwater gegen GreenNet erhoben hat. Es ging um eine Pressemitteilung der südafrikanischen Gewerkschaft der städtisch Bediensteten (SAMWU), die gegen die Privatisierung der Wasserwerke kämpft (für die sich Biwater interessiert). Die Pressemitteilung, LabourNet hat sie veröffentlicht, zitierte einen Bericht der Wochenzeitung «Mail &Guardian», die ihrerseits auf britische Quellen verweist, denen zufolge Biwater einmal in einen Rüstungsdeal verwickelt war. In Britannien kann - unabhängig vom Wahrheitsgehalt einer Behauptung - auf Verleumdung geklagt werden, und solche Prozesse sind teuer. Chris Bailey scheut aber keinen Konflikt. Er löschte zwar auf seiner Website die Pressemitteilung, fand aber schnell zwanzig andere Sites, die alle Informationen zu Biwater dokumentieren. Technisch gesehen befindet sich dieses Material nicht mehr im Geltungsbereich der britischen Rechtsprechung; praktisch gesehen sind die Sites in Dänemark, Kanada, Ungarn, Südafrika oder Kolumbien nur einen Mausklick entfernt. So kämpft jetzt Chris Bailey einmal in eigener Sache.

Und Greg Dropkin? Greg hat natürlich in der Biwater-Geschichte recherchiert. Er hat auch längst die Programmiersprache gelernt. Und wenn er Zeit hat, zeigt er den Dockern im Liverpooler Transport House den Umgang mit Computern.

*Eric Lee ist einer der Pioniere der linken Nutzung des Internet. Sein 1996 erschienenes Buch «The Labour Movement and the Internet. The New Internationalism» (Pluto Press, London) ist ein Standardwerk. Lee schreibt es fort: jeden Monat fügt er ein Kapitel hinzu - auf dem Netz: www.solinet.org/LEE/.