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Updated: 18.12.2012 15:51
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„Macht auf dem Haupt“

Anmerkungen zum Hintergrund einer überflüssigen, wenn auch wichtigen Debatte

Das Kopftuch habe seines Erachtens der christliche Apostel Paulus vor fast 2000 Jahren eingeführt, als er Frauen in den von ihm gegründeten christlichen Gemeinden das Tragen einer Kopfbedeckung während des gottesdienstlichen Betens gebot. So jedenfalls meinte der evangelische Theologe Prof. Dr. Eberhard Jüngel aus Tübingen in einer Diskussion am 28. Januar in Berlin. Damit hatte Jüngel – völlig zu Recht – dem Streit um das islamische Kopftuch ein Fenster in die Antike geöffnet. In der Tat ist es der Debatte zuträglich, das Kopftuchgebot auch für christliche Frauen als ein uraltes und noch heute in vielen Ländern übliches und unerlässliches Requisit des Glaubens und Gottesdienstes zur Kenntnis zu nehmen. Die Unbedarftheit, mit der die deutsche Öffentlichkeit immer wieder ein Kopftuchverbot fordert (z.Zt. für islamische Frauen), weil es angeblich der christlich-westlichen Freiheit, der demokratischen Mäßigung und der staatlichen Neutralität widerspreche, wird weder dem Christentum gerecht noch seiner Geschichte. Entfernen wir uns nur ein wenig von unserem heutigen Standort in der Welt, entweder geografisch oder zeitlich, so stoßen wir unweigerlich auf das christliche Kopftuch: In Deutschland sind es nicht einmal hundert Jahre. In Osteuropa, Russland, im Nahen Osten, in Afrika, Asien gehören Kopfbedeckungen für Frauen bis heute zum üblichen Outfit beim Besuch von Gottesdiensten, wenn sie auch nicht überall zwingend vorgeschrieben sind.

Ohne Frage ist der berühmt-berüchtigte Apostel Paulus derjenige, der den christlichen Kirchen das entscheidende Stichwort in dieser Sache gab, als er in einem ungewöhnlich langen Schreiben an eine christliche Gruppe im antiken Korinth die Meinung vertrat, es sei ungebührlich, wenn eine Frau unbedeckt vor Gott bete. Ja, er meinte, die Frau solle „eine Macht auf dem Haupt haben um der Engel willen“. Kaum einer der heutigen Exegeten kann diesen Satz des antiken Theologen verstehend nachvollziehen geschweige denn ihn sich zu Eigen machen. Die „Exousia“, die die Frauen nach dem griechischen Urtext auf dem Haupte haben sollten, wird auch oft mit dem Wort „Vollmacht“ übersetzt und deutet auf ein Zusammentreffen von Unterordnung und Bevollmächtigung. Die von der Deutschen Bibelgesellschaft herausgegebene „Gute Nachricht Bibel“ übersetzt den anstößigen Satz sinngemäß auch so: „Deshalb muss die Frau ein Zeichen der Unterordnung und zugleich der Bevollmächtigung auf dem Kopf tragen“. „Exousia“ ist nun interessanterweise gerade das Wort, das im Griechischen die staatliche Autorität meint. Menschen unter „Exousia“ waren Staatsbedienstete, zur Unterordnung verpflichtet, aber unter den Insignien des Staates mit eigener Vollmacht ausgerüstet. (Heute würde man z.B. Polizisten in Uniform als „Menschen unter Exousia“ ansehen dürfen. Dienstverpflichtung und Exekutivrecht gehen bei ihnen Hand in Hand.)

Eine Frau mit „Exousia“ auf dem Haupt wäre also eine Frau „unter der Haube“. Aber ehrlich: Macht sich jemals eine Braut in Deutschland tiefere Gedanken darüber, warum es wohl „üblich“ sei, bei der Hochzeit einen „Schleier“ zu tragen? Traditionsgeschichtlich ist der Schleier nämlich nichts anderes als ein – auch kirchlicher Lehre geschuldetes - Symbol der Unterordnung unter den neuen Ehemann und zugleich Zeichen eines gehobenen Status als verheiratete Frau. In früheren Jahrhunderten galt die bürgerliche Heirat eben als sozialer Aufstieg und die Haube z.B. der (unverheirateten) Diakonissen und Nonnen sollte genau dafür ein unübersehbares Symbol sein: Auch wir, die wir Ehelosigkeit gelobt haben, genießen den herrlichen Status des Ehestandes, wenn auch in dem vergeistigten Sinne als Bräute Jesu Christi.

Das christliche Deutschland kennt also die Formen der „Macht auf dem Haupt“ gut. Vielleicht ist die heftige Reaktion auf das islamische Kopftuch nur der Ausbruch eines immer noch kochenden Magma aus dem Vulkan christlicher Vergangenheiten, in denen verehelichten Frauen mit biblischen Sprüchen ein zwar sicherer aber vor allem minderwertiger Platz in der Gesellschaft angewiesen worden war. Islamische Frauen mit Kopftuch sind möglicherweise die Auferstehung alter Vor-Bilder von Unfreiheiten, Unselbständigkeiten und dogmatischen Platzanweisungen in der Gesellschaft. Eine „Macht auf dem Haupt“, auch auf dem muslimischen, ist – nach wie vor – für emanzipierte Frauen eine Bedrohung. Angesichts der zunehmenden Häufigkeit, mit der im konservativen Christentum und im Islam Männer die neuerliche Unterordnung der Frau unter den Mann fordern und nicht wenige Frauen diese akzeptieren und manifestieren, ist diese Bedrohung durchaus realistisch. Es sind diese Unternehmungen durchweg als Versuche anzusehen, die Uhr der Geschichte auf die Zeit zurückzustellen, in der die Welt scheinbar noch „in Ordnung“ war. Der Teil der Gesellschaft jedoch, der an solchen Zeitreisen keinen Geschmack findet und sich – aus guten Gründen – der Gegenwart verpflichtet weiß, wird durch alles, was den Frauen wieder „eine Macht auf dem Haupt“ einreden möchte, verunsichert und verärgert.

Christliche Kirchen stehen hier vor einem Dilemma. Sie können nicht leugnen, dass ihre Bibel gelegentlich selbst das Kopftuch gebietet, zugleich aber sehen sie in der Freiheit von Kleidung und Mode einen Ausdruck urchristlicher Gewissensfreiheit im Blick auf alle kulturellen und damit zeitgebundenen Sitten. Diese Freiheit ist nun allerdings in Deutschland kaum älter als drei bis vier Generationen. Und Kirchen standen bei diesem Freiheitskampf auf keiner Barrikade! Wenn darum die christlichen Kirchen gelegentlich den Eindruck erwecken wollen, die Emanzipation der Frau sei, wenn schon nicht ihre Erfindung, so doch ihre Entdeckung, dann ist das nur peinlich: exegetisch möglicherweise in Ordnung, historisch jedoch völlig unzutreffend. Nicht die Kirchen haben als erste den Frauen Platz gemacht beim Studium, am Arbeitsplatz, im Management, an den Fakultäten und im geistlichen Amt. Es ist traurig, aber wahr: Kirchen wollen meist geschoben werden: bei der Frauenordination wie bei der gemeinsamen Eucharistie. Noch sind es nicht zwanzig Jahre her, seit die letzte evangelische Landeskirche die Frauenordination erlaubt hat. Und die Selbständige evangelisch-lutherische Kirche in Deutschland (SELK) hat sich auf ihrer 10. Kirchensynode 2003 vorgenommen, „eine Beschlussvorlage zur Frage der Ordination von Frauen zu erarbeiten und diese der Kirchensynode 2011vorzulegen“. Wohlgemerkt, hier ist nur die Rede von den fortschrittlicheren protestantischen Kirchen. Ein Teil freikirchlicher Gemeinden, und die gesamte Gruppe römisch katholischer und orthodoxer Kirchen in Deutschland haben sich dafür nicht einmal ein Zeitlimit (bis 2011!) gegeben.

Wenn darum Kirchen – oft in bischöflichem Übereifer - einem Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst Nachdruck verleihen, dann gibt es dafür nur einen einleuchtenden Grund: Sie können der Situation einer Gleichberechtigung aller Religionen noch nicht gelassen ins Auge schauen. Mit George Orwell sagen sie kühn: Wir sind eben gleicher! In einer Zeit, wo man daran gewöhnt ist, dass alle sozialen oder wirtschaftlichen Gruppen ihre Eigeninteressen als Parteien, Beamte, Unternehmer, Gewerkschaften, Rentner etc. unnachgiebig und rücksichtslos und bis zum Letzten durchfechten, in einer solchen Zeit würden auch Kirchen, die ein Gleiches tun, sich in nichts von ihrer Umwelt unterscheiden, ja sie würden gar nicht auffallen.
Umso gewichtiger sind darum zur Zeit die Einzelstimmen derer, die sich von der kirchlichen Massenmeinung abheben: Da ist der neue Apostolische Nuntius Erwin Josef Ender, der in aller Ruhe meinte, wer Kreuz und Ordenstracht dulde, dürfe das Kopftuch nicht verbieten . Da ist der künftige Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen, Alfred Buß, der sich jüngst gegen ein Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen ausgesprochen hat und meinte, die Kirche müsse die aktuelle Diskussion über positive und negative Religionsfreiheit, Fundamentalismus und Demokratie offen halten . Da sind die Bischöfinnen Wartenberg-Potter und ihre Kollegin Jepsen, und da ist – last not least – der in kirchlichen Kreisen als „Bruder Johannes“ bekannte Bundespräsident, Sohn eines landeskirchlichen Laienpredigers, der seine Haltung gegen ein Kopftuchverbot früher, deutlicher und dezidierter als andere öffentlich gemacht hat. Ihm, Johannes Rau, ist es zu verdanken, dass die Debatte über das Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 24.9.2003 noch nicht die Dimensionen einer Elbüberschwemmung angenommen hat, sondern immer noch in halbwegs ruhigen Gewässern geführt wird. Und dem Bundesverfassungsgericht ist es zu danken, dass es die Möglichkeit zum politischen Missbrauch von Kopftüchern im öffentlichen Dienst nicht bereits als Tat angesehen und verurteilt hat.

Wenn nun allerdings selbst im religionsmüden Berlin angekündigt wird, „Das Kopftuchverbot kommt nach den Osterferien“ , muss man nach der Gefahr fragen, die offenbar im Verzug ist, wenn der Senat ausgerechnet in diesem Punkt Eile geboten sieht. Apropos Gefahren: Welche der in deutscher Vergangenheit unterdrückten und diskriminierten Minderheiten wurde denn nicht im ersten Schritt als Gefahr für das Volk bezeichnet, um sie danach, im zweiten Schritt, zu stigmatisieren und danach sogar zu eliminieren. Die Kopftuch tragenden Lehrerinnen sind für die Bundesrepublik Deutschland keine Gefahr! Das muss mal deutlich gesagt werden. Auf dem Boden des Grundgesetzes – auf welches sie wie ihre christlichen Kolleginnen – vereidigt werden, steht auch ihnen nach Art. 4 (1) das „Recht auf die Freiheit des religiösen ... Bekenntnisses“ zu. Zur Freiheit des Bekenntnisses gehört auch die Freiheit, mit allen unanstößigen Mitteln die eigene Religion zur Schau zu tragen, auch sichtbar, auch deutlich sichtbar. Mit anderen Worten: Die jüdische Kippa ist genauso zu dulden, ja zu schützen, wie das muslimische Kopftuch, die Mönchskutte oder das Kreuz am Hals. Sollte ausgerechnet Berlin von der weltweit einmaligen Maxime seines Ahnherrn abirren, der jeden „nach seiner Façon selig werden“ lassen wollte?

Wenn aber zu allem Überfluss Berliner Politiker in deutsch-gründlicher Prinzipienhaftigkeit vorschlagen, das Verbot religiöser Symbole solle sich nur „auf alle, stark sichtbaren religiösen Symbole“ beziehen, dann dienen sie damit der Intoleranz mehr als ihnen bewusst sein dürfte. Bekenntnisfreiheit – geschützt durch das Grundgesetz - findet immer seine Auswege. Sollte ein „zu großes“, zu sichtbares, Kreuz um den Hals jemals verboten werden, dann wird das Kreuz gehorsamst immer kleiner, aber gerade dadurch immer sichtbarer! Der Vorwand eines „Prinzips der zu starken Sichtbarkeit“ ist so ziemlich der größte Unfug, den sich die Politik ausdenken könnte, um das „klitzekleine“ Kreuz am Kettchen gegen das „große“ Kopftuch und damit das Christentum gegen den Islam auszuspielen.
Ergo: In Sachen Religion gibt es nur einen Weg des Friedens, den der Toleranz und der Gleichberechtigung. Deutschland ist nicht in Gefahr vor Kopftüchern, sondern vor großen Kanonen, die auf kleine Spatzen schießen. Gewiss: Es ist ärgerlich, wenn heute muslimische Frauen den Emanzipations- und Gleichberechtigungsprozess in Europa dadurch bremsen, dass sie eine „Macht auf dem Haupt“ wünschen, sich einreden lassen oder einfach zulassen. Verbieten können, dürfen, sollen wir es ihnen nicht. Es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis alle Frauen – auch die muslimischen – niemanden mehr auf ihrem Kopf herumtanzen lassen.

Pastor Dr. Dietmar Lütz

Geschäftsführer des Ökumenischen Rates Berlin-Brandenburg
Beauftragter der Vereinigung Evangelischer Freikirchen am Sitz der Bundesregierung
Gierkeplatz 4, 10585 Berlin, T: 030-3421000 F: 030-3421011, e-mail: post@oerbb.de


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