Befristete Arbeit, »soziales« Europa und ein Fall politischer Massregelung in der DGB-Zentrale

von Michael Wendl

1. »Was immer das ›soziale Europa‹ sein wird, es wird mit einer Wirtschaft vereinbar sein müssen, die komplizierter und stärker marktgetrieben ist als alles, was wir aus unserer Geschichte kennen; zugleich wird dieses Europa nur teilweise auf zentralisierten europäischen Institutionen beruhen« schreibt der Soziologe Wolfgang Streeck unter der Überschrift »Europas etwas andere Architektur« in der Mitbestimmung 5/99. Streek geht davon aus, dass an die Stelle bindender Normen zur Regelung der sozialen Beziehungen »rechtlich unverbindliche Empfehlungen« treten. Der »neovoluntaristisch« genannte Charakter dieser Freiwilligkeit wird mit der wachsenden Macht der international agierenden Unternehmen begründet, die, da »sie in einer internationalisierten Ökonomie ihre besteuerbaren Aktivitäten leicht verlagern können..., die Fähigkeit (haben), ihren Willen auch tatsächlich durchzusetzen.«

Anpassung und nicht Gegenmacht ist daher angesagt für die Gewerkschaften auf der europäischen Ebene. Streeck beschreibt mit seiner Skizze der »etwas anderen« sozialen Architektur Europas nicht nur, was in Zukunft unvermeidlich erscheint, er beschreibt zugleich das tatsächliche Handeln des Europäischen Gewerkschaftsbundes (EGB) im sozialen Dialog.

2. Exemplarisch kann das aufgezeigt werden an dem Abschluss einer »Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge« durch die europäischen Sozialpartner Ende März 1999 bzw. an der internen Durchsetzung des Verhandlungsergebnisses im EGB und im DGB. Im Laufe des Jahres 1998 wurde zwischen den europäischen Sozialpartnern – dem EGB auf der einen, den Arbeitgeberverbänden UNICE und CEEP auf der anderen Seite – über Mindestregeln für befristete Arbeitsverhältnisse verhandelt. Mitte Januar 1999 lag ein von den Verhandlungsgruppen beider Seiten akzeptiertes Verhandlungsergebnis für eine Rahmenvereinbarung vor.

Für den DGB war aufgrund fachpolitischer Zuständigkeit für gesetzliche Arbeitsbedingungen die Abteilung Arbeitsmarktpolitik (Vorstandsbereich Engelen-Kefer) in der EGB-Verhandlungsgruppe vertreten. Im EGB-Arbeitsbeziehungsausschuss, der in solchen Fällen nach den Regularien des EGB als eine Art politisches Beratungs- und Kontrollorgan fungiert, wurden die deutschen Gewerkschaften – schon seit 1989 – durch das Referat Europäische Tarifpolitik (im wirtschafts- und tarifpolitischen Vorstandsbereich Heinz Putzhammer) vertreten. DGB-intern sind nach der geltenden Beschlusslage die Mitgliedsgewerkschaften und der tarifpolitische Ausschuss des DGB zu beteiligen. »Der DGB wird den sozialen Dialog auf Gemeinschaftsebene aktiv begleiten und sich für wirksame arbeits- und sozialpolitische Mindestregelungen einsetzen. Dabei ist jeweils abzuwägen, welcher Weg – Legislativvorschlag der Kommission oder Sozialpartnerverhandlungen – im konkreten Fall erfolgversprechend ist. Bei Konsultationen durch Kommissionen und bei Sozialpartnerverhandlungen stimmt der DGB seine Aktivitäten im EGB eng mit den Mitgliedsgewerkschaften und dem tarifpolitischen Ausschuss des DGB ab« (Antrag 50 des DGB Bundeskongresses 1998, Heraushebung M.W.).

Für den tarifpolitischen Ausschuss, also das Koordinationsgremium des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften in tarifpolitischen Fragen, hatte Joachim Kreimer-de Fries, Referatsleiter für Europäische Tarifpolitik beim DGB Bundesvorstand, diese Aufgabe der Information und Abstimmung der Positionen wahrzunehmen. Kreimer-de Fries hatte den Entwurf der Rahmenvereinbarung Ende Januar 1999 dann den Mitgliedern des tarifpolitischen Ausschusses des DGB und einigen Mitgliedern des EBG-Ausschusses »Arbeitsbeziehungen« zusammen mit einer von ihm erstellten kritischen Kommentierung sowie mit den befürwortenenden Stellungnahmen des EGB-Sekretariats und der DGB-Abteilung Arbeitsmarktpolitik zugeschickt. Kurz zuvor hatte sich die beteiligte DGB-Vertreterin bei der Bewertung des Verhandlungsergebnisses innerhalb der Verhandlungsgruppe des EGB der Stimme enthalten. Auf der Basis der durch Kreimer-de Fries erhaltenen Informationen und Bewertungen der verschiedenen Seiten äußerten sich die tarifpolitischen Vertreter der DGB-Mitgliedsgewerkschaften und der DAG durchweg ablehnend zum Verhandlungsergebnis. Trotzdem beschloss der DGB-Bundesvorstand am 2. März 1999, dem Verhandlungsergebnis zuzustimmen, allerdings unter der Bedingung, dass nach dem Kongress des EGB noch einmal grundsätzlich über Fragen des sozialen Dialogs diskutiert würde. Es war so eine Art Zustimmung mit Unbehagen, dessen Artikulation auf später verschoben wurde.

3. Befristete Arbeitsverhältnisse gewinnen zunehmend an Bedeutung. In den EU-Mitgliedsländern ist die diesbezügliche Rechtslage sehr unterschiedlich, z.T. (England, Irland) existieren gar keine Regelungen. Auf europäischer Ebene können EU-weit verbindliche gemeinsame Richtlinien für die Arbeits- und Sozialbeziehungen nur durch einen Beschluss des (Minister-)Rates installiert werden. Diese müssen zuvor durch die EU-Kommission vorgeschlagen werden. Seit dem Maastrichter Vertrag besteht darüber hinaus die Möglichkeit, dass die EU-Sozialpartner der Kommission die Gesetzesinitiative aus der Hand nehmen, indem sie gemeinsam beantragen, zum vorgesehenen Gegenstand mit dem Ziel einer Vereinbarung zu verhandeln. Diese Vereinbarung kann dann Inhalt des betreffenden Richtlinienvorschlages der Kommission an den Rat werden, wobei es in diesem Fall keine Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlamentes gibt.

Um einen solchen Fall einer zunächst korporativ ausgehandelter Gesetzesinitiative der Kommission handelte es sich bei der Rahmenvereinbarung zu befristeten Arbeitsverhältnissen, die (ebenso wie 1997 die Sozialpartnervereinbarung zur Teilzeitarbeit) inzwischen vom Rat als Richtlinie beschlossen wurde. Derartige sozial- und arbeitspolitische Richtlinien müssen dann innerhalb der von der Richtlinie gesetzten Fristen von den nationalen Gesetzgebern (dies ist die Regel) oder – wie z.B. in Dänemark üblich – durch nationale, allgemeinverbindliche Tarifverträge umgesetzt werden.

Der arbeitsrechtlich harte Kern der Vereinbarung über befristete Arbeit verbirgt sich in der Bestimmung 5: »Maßnahmen zur Vermeidung von Missbrauch«. Danach sind unmittelbar aufeinanderfolgende (der erste befristete Arbeitsvertrag bleibt ohne jede Einschränkung) befristete Anschlussverträge zulässig, wenn durch nationales Gesetz (oder ggf. allgemeinverbindlichenTarifvertrag) dafür entweder »objektive Gründe« vorgeschrieben oder die »insgesamt maximal zulässige Dauer aufeinanderfolgender Arbeitsverhältnisse« geregelt wird oder die »höchstzulässige Zahl der Verlängerungen solcher Verträge« festgelegt wird. Dabei reicht es, wenn eines dieser drei Kriterien erfüllt wird. Die Höchstdauer der Zeit und die Höchstzahl befristeten Anschlussverträge wird nicht fixiert, es muss nur irgendeine Festlegung in mindestens einer der drei aufgeführten »einschränkenden« Alternativen erfolgen.

Dieser Missstand ist nicht mehr als ein schlechter Witz: dem Missbrauch wird nicht entgegengewirkt, ihm werden Tür und Tor geöffnet. Auch wenn nicht damit gerechnet werden muss, dass das deutsche Arbeitsrecht in dieser Frage auf dieses Niveau abgesenkt wird, so ist diese Vereinbarung für EU-Mitgliedsländer mit stärker deregulierten Arbeitsmärkten faktisch wertlos. Über die Verschärfung der Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten in der EU kann und wird allerdings auch das deutsche Arbeits- und Tarifrecht unter noch stärkeren Anpassungsdruck kommen. Von einer »wirksamen« arbeits- und sozialpolitischen Mindestregelung wie im bereits zitierten DGB-Beschluss kann bei dieser Missbrauchsvermeidungsabrede allerdings keine Rede sein. Wirksamkeit entfaltet sie, weil sie zum Missbrauch befristeter Arbeitsverhältnisse geradezu auffordert.

Angesichts dieser Risiken war der kritische Kommentar des DGB-Sekretärs Kreimer-de Fries ausgesprochen zurückhaltend. Er hatte darauf hingewiesen:

(a) dass die entscheidende Klausel 5 keine eu-weit umzusetzende Mindestregelung enthält,

(b) dass das Verhandlungsergebnis mit dieser Klausel 5 im wesentlichen dem Angebot der Arbeitgeber entspricht und dass

(c) Vereinbarungen, deren inhaltliche Ausfüllung gänzlich den Mitgliedsstaaten überlassen bleiben, weil es faktisch keine eu-weiten Mindestregelungen gibt, sinnwidrig sind, weil sie negative Rückwirkungen auf das nationale Sozial- und Tarifsystem nicht ausschließen.

4. Wegen dieser inhaltlich notwendigen Kritik hat sich der EGB-Generalsekretär Emilio Gabaglio beim DGB-Bundesvorsitzenden Dieter Schulte beschwert und der Geschäftsführende Bundesvorstand (GBV) des DGB hat nach einer Inkubationszeit von gut sechs Wochen nach Abschluss der Vereinbarung durch den EGB Ende März gegenüber Kreimer-de Fries zwei Abmahnungen (1) wegen einer »nicht sachlichen«, sondern eher »agitatorischen« Information und Bewertung des Verhandlungsergebnisses ausgesprochen. Darüber hinaus wurden dem DGB-Referatsleiter tags darauf von seinem Vorstandsmitglied Heinz Putzhammer seine mit der Begleitung von EU-Sozialpartnern in Zusammenhang stehenden Aufgaben entzogen.

Inzwischen sah sich die DGB-Geschäftsführung aufgrund der arbeitsgerichtlichen Verhandlungen der von Kreimer-de Fries gegen die Abmahnungen eingereichten Klagen gezwungen, beide Abmahnungen zurückzuziehen. Die arbeitsgerichtliche Verhandlung gegen die Klage gegen den Aufgabenentzug steht noch aus.

In diesem Fall geht es um mindestens drei Fragen.

Zum einen zeigt sich – ähnlich wie an der 1997 vorhergegangenen Vereinbarung der EG-Sozialpartner zur Teilzeitarbeit –, dass die Vereinbarung arbeits- und sozialpolitischer Mindeststandards auf der europäischen Ebene nicht nur nicht erfolgt, sondern umgekehrt eher Vereinbarungen zur weiteren Deregulierung der Arbeits- und Sozialbeziehungen fixiert werden. An der Deregulierung der europäischen Arbeitsmärkte, die gerne als unvermeidliches ökonomisches Naturgesetz dargestellt wird, sind die Gewerkschaften selbst beteiligt. Im Kern geht es darum, einzelnen Ländern Vorteile im Arbeitskostenwettbewerb zu erhalten. Dass der DGB dabei – wenn auch nicht einheitlich – mitmacht, liegt vermutlich an der tiefen Verinnerlichung der Rolle als braver und politisch subalterner Partner im Modernisierungsprozess bis zur offenen gewerkschaftspolitischen Unvernunft.

Die zweite Frage zielt auf die mangelnde Transparenz der gewerkschaftlichen Arbeitspolitik auf EU-Ebene und damit auf das Problem, dass die nationalen Gewerkschaften den Entscheidungen des EGB faktisch einflusslos ausgeliefert sind. Diese EU-Vereinbarung über befristete Arbeitsverträge ist gerade nicht wegen ihres fragwürdigen Inhalts innergewerkschaftlich bekannt geworden, sondern erst durch die arbeitsrechtlich haltlose Maßregelung eines damit sachlich befassten Gewerkschaftssekretärs, der im völligen Einklang mit der aktuellen Beschlusslage des DGB gehandelt hatte. Aus dieser Erfahrung resultiert, dass es ausgesprochen riskant ist, dem EGB in seinem gegenwärtigen politischen Selbstverständnis und seiner personellen Repräsentanz größere arbeitspolitische bzw. gar tarifpolitische Kompetenzen einzuräumen, wie dies aktuell sogar von einem prominenten Gewerkschaftstheoretiker gefordert wird. (2)

Die dritte Frage zielt auf die Forderung nach innergewerkschaftlicher Solidarität mit dem Kollegen Kreimer-de Fries. Wenn Gewerkschaftssekretäre, die in Übereinstimmung mit den einschlägigen Kongressbeschlüssen ihren arbeitsvertraglichen Aufgaben mit der angemessenen arbeitsrechtlichen Kompetenz nachkommen, dafür mit Abmahnungen und der Drohung der fristlosen Kündigung abgestraft und eingeschüchtert werden sollen, stellt sich zwangsläufig die Frage, ob es sich bei den Verhaltensweisen von Dieter Schulte, Günter Dickhausen und Heinz Putzhammer als den politisch verantwortlichen Akteuren nur um politische Dummheit in diesem Einzelfall handelt oder ob dieser Umgang mit internen Kritikern nicht insgesamt kennzeichnend für große Teile des Gewerkschaftsapparats ist. Wer sich selbst für politisch nicht argumentationsfähig hält, greift zum Mittel der arbeitsrechtlichen Gewalt.

Aus eigener Erfahrungen meine ich, dass diese Haltung sowohl aus einem politischen wie aus einem kulturellen Defizit resultiert. Zum einen mangelt es gegenüber der begründeten Kritik von Kreimer-de Fries an politischen Gegenargumenten. Zum zweiten kann ein bestimmter Typus von Gewerkschaftsfunktionär wegen dieses argumentativen Defizits mit Kritik auch ausschließlich autoritär umgehen, gerade wenn die Kritik von in der formalen Hierarchie untergeordneter Stelle geäußert wird.

Es gibt deshalb nicht nur wichtige politische Gründe, in den europapolitischen Fragen ein hohes Maß von Transparenz und Einflussmöglichkeiten gegen die permanente Schönfärberei von oben einzufordern. Auch elementare zivilgesellschaftliche Standards müssen in den Gewerkschaften gegen miese Methoden der Führungsetagen durchgesetzt werden.

Bei diesem Text handelt es sich um einen - freundlicherweise zur Verfügung gestellten - Vorabdruck aus der Zeitschrift "Sozialismus" vom Oktober 1999

Anmerlungen:

1 Die erste Abmahnung erfolgte wegen der Information der Mitglieder des tarifpolitischen Ausschusses des DGB, die zweite wegen der Information der Mitglieder des EGB-Ausschusses Arbeitsbeziehungen.

2 Bruno Trentin, »Wir müssen Besitzstände in Frage stellen« in: Die Mitbestimmung 9/99, S. 6f.