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ver.di Newsletter - Pressemeldung

17.10.2001

Die Welt nach dem 11. September 2001

Kommentar des Verbandes deutscher Schriftsteller (VS):

Droht Einschränkung der Meinungsfreiheit?

Seit den Terror-Attentaten vom 11. September 2001 sind Intellektuelle in Deutschlandvor ihrer eigenen Zunft nicht mehr sicher. Wer immer es gewagt hat, nach politischen oder psychologischen Erklärungen für die Katastrophe zu fragen, vor Anti-Islamismus oder Krieg gegen Afghanistan zu warnen, Kritik an der Berichterstattung einiger Medien oder dem Präsidenten der Vereinigten Staaten zu üben, kurz: in den kollektiven Ruf nach Rache nicht einzustimmen, ist als ideologisch verbohrt, feige, stupide oder besserwisserisch-moralisierend diffamiert worden, eine Kampagne, deren Opfer Peter Sloterdijk, Adrienne Goehler, Botho Strauß, Klaus Theweleit, Durs Grünbein, Noam Chomsky und nicht zuletzt auch der Verband deutscher Schriftsteller geworden sind.

Am härtesten traf es Roger Willemsen, den der Spiegel-Redakteur Reinhard Mohr im "Tagesspiegel" vom 24. September als "durchgeistigtes Sensibelchen" bezeichnet, "das sich schon beim Explodieren eines Knallfroschs in die Hose machen würde". Niemand hat gegen diese Entgleisung Einspruch erhoben. Galt es doch, die Bösen, die Zyniker, die Sympathisanten des Terrors abzustrafen, und dazu war jedes noch so unfaire Mittel Recht, sogar die in der FAZ aufgestellte Behauptung, dass dem immerhin 4000 Männer und Frauen starken VS "kaum noch Schriftsteller" angehörten, sondern nur trockene Funktionäre und Verwaltungsangestellte, die sich, so die WELT, statt um Literatur um ein neues Urhebervertragsrecht kümmerten.

Doch die Vertreter des neuen "Anti-Amerikanismus" (eine grobe Vereinfachung, die Kritik an Bush mit pauschaler Amerika-Schelte gleichsetzt) ließen sich keineswegs zum Schweigen bringen, sondern äußerten sich besorgt über Verschärfung der Zuwanderungsgesetze, Aushöhlung des Datenschutzes, Einschränkung der politischen Meinungsfreiheit auch bei uns. Worauf die FAZ noch am 8. Oktober konterte: "Gibt es auch nur das geringste Anzeichen, in Deutschland drohe die Zensur?" Leider ja. Denn zur gleichen Zeit fielen Journalisten und Politiker nahezu geschlossen über den Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert her, der aufgrund einer einzigen kritischen Äußerung über George Bush in der Zeitschrift "Max" plötzlich "peinlich", "untragbar", ja politisch "gefährlich" geworden war und von Angela Merkel in der "Bild am Sonntag" zum Abschuss von der Fernsehbildfläche freigegeben wurde. Sogar die Vorstellung seines neuen Buches wurde von seinem Verlag, der Millionen an ihm verdient hat, über Nacht ! abgesagt. Doch Wickert ist "lernfähig" und wird sich künftig jeder politischen Meinungsäußerung enthalten. Michael Friedman darf unterdessen fortfahren, seine Fernseh-Talkshow zur Demonstration seiner politischen Meinung zu missbrauchen und Andersdenkenden rücksichtslos ins Wort zu fallen, ob sie nun Peter Scholl-Latour oder Alice Schwarzer heißen.

Seitdem George Bush Krieg gegen Afghanistan begonnen hat, einen Krieg, der viele zivile Opfer, darunter Frauen und Kleinkinder, fordern wird - die Vereinten Nationen sprechen von der schlimmsten humanitären Krise in der Geschichte des Landes - sind die Stimmen der Bush-Fans unter den Journalisten leiser geworden. Es klingen differenzierte, ja sogar deutlich ablehnende Töne an, in fast allen Sendern und den meisten Zeitungen, wenn sie nicht, wie von der hessischen Medienanstalt in Frankfurt/M., prophylaktisch verboten werden: eine für den 15. Oktober im offenen Kanal Frankfurt-Offenbach geplante TV-Diskussion mit dem Moderator Saaed Habibzadeh zum Thema "Krieg in Afghanistan" wurde abgesetzt, weil sie die Gefahr berge, dass "verfassungs- und rundfunkrechtlich verbotene Dinge" geäußert würden. Wo handelt es sich um Vorsicht, wo um (Selbst)-Zensur? Die Grenzen sind fließend. In Amerika wurde das Recht auf freie Meinungsäußerung bereits drastisch beschnitten. Mehrere Journalisten ! verloren seit dem 11. September ihre Arbeit, die Sendung "Politically Incorrect" von Bill Maher darf in Washington D. C. nicht mehr ausge-strahlt werden, der Pressesprecher des Weißen Hauses hat ange-kündigt, dass Journalisten künftig "aufpassen müssen, was sie sagen und tun." Bleibt zu hoffen, dass diese Welle nicht auch zu uns überschwappt. Dass die politische Streitkultur, ein Teil der vielgepriesenen westlichen Zivilisation, erhalten bleibt.


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