Wenn Jugoslawien, dann auch die Türkei?

Florian Rötzer   13.04.99

Die moralische Rhetorik der kriegführenden NATO-Staaten wird unglaubwürdig

Je stärker die Moralisierung des Krieges gegen Milosevich bei den beteiligten NATO-Staaten zur Rhetorik einer Aktion wurde, die sich nicht mehr ohne Verlust der Glaubwürdigkeit stoppen läßt und der eingeschlagenen militärischen Logik folgt, desto unglaubwürdiger wird der Anspruch, moralisch sich verpflichtet zu geben, mit Bomben im Selbstauftrag und unter Umgehung der internationalen Gemeinschaft eine humanitäre Katastrophe zu verhindern.

Schließlich befindet sich selbst in den Reihen der angeblich aus moralischen Gründen handelnden NATO-Staaten zumindest ein schwarzes Schaf. Noch kurz vor dem Kosovo-Krieg hielt sich auch Deutschland zurück, an Italien einen Auslieferungsantrag für den PKK-Führer Öcalan zu stellen. Außenminister Fischer brachte zwar wie andere den Internationalen Gerichtshof auf, aber der ist bislang nur sehr selektiv tätig, ansonsten ein Papiertiger und besonders von den USA unbeliebt, die zwar Weltpolizist spielen, aber dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden möchten.

Ähnlich wie die jugoslawische Regierung ihre Repression der Kosovo-Albaner mit dem Kampf gegen die Terroristen der UCK rechtfertigt, legitimiert auch die Türkei, weitgehend unter Billigung der übrigen NATO-Partner, ihr Vorgehen gegen die kurdischen Terroristen. Hier wie dort geht es um die Abwehr von Autonomieforderungen und um die Wahrung der territorialen Grenzen. Dabei werden allerdings die Grenzen bei Bedarf nicht mehr geachtet, sondern ungeniert marschierten erst letzte Woche wieder türkische Bodentruppen in den Irak ein, um die Terroristen zu jagen, da in diesem Bereich das Militär von Hussein dank den USA lahmgelegt ist. Gegenüber dem Irak wurden die Kurdengebiete als "No-fly-Zonen" geschützt, der Türkei liefert man hingegen Waffensysteme, die sich nicht nur gegen die Kurden, sondern jetzt auch wieder gegen Milosevich einsetzen lassen. Ähnlich ungeniert haben sich die USA schon des öfteren verhalten, wenn es um die Bekämpfung von Terroristen geht. Der letzte Fall waren bekanntlich die Bomardierungen im Sudan und in Afghanistan.

Am letzten Freitag wurden in der Türkei 114 Intellektuelle und Menschenrechtler zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie 1993 eine Erklärung unterzeichnet haben, die eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts verlangte. Scharfe Proteste der übrigen NATO-Staaten gegen diese eklatante Verletzung der Bürgerrechte blieben aus. So wie sich die Serben um Milosevich scharen und eine neue Einheit zelebrieren, scharen sich jetzt alle NATO-Staaten um die USA und sind sich bedingungslos einig, wobei man gerne einiges Störende vor der eigenen Haustür oder sogar im eigenen Haus übersieht, um den Kampf der Christen und der Mohammedaner gegen die Orthodoxen nicht durch internen Zwist oder gar durch eine militärische Intervention zugunsten der Kurden im Namen der Menschenrechte zu gefährden.

Und was die humanitäre Katastrophe anbelangt, so könnte die Türkei durchaus mit Jugoslawien mithalten. Im Kampf gegen die "Terroristen" wurden nicht nur während der letzten 15 Jahre 30000 Menschen getötet, die sicherlich nicht alle Terroristen waren. Was die Praxis der ethnischen Säuberung angeht, so hat der türkische Staat eine lange Tradition. Nicht ganz so brutal wie beim Genozid an den Armeniern, wurde gegen die Kurden vorgegangen. Massendeportationen und -vertreibungen wurden schon lange durchgeführt. Die Zahl der aus ihrer Heimat vertriebenen Kurden wird zwischen 500000 und zwei Millionen, letzteres die Schätzung von Amnesty International, angesetzt. Bei Milosevich geht es nur schneller, was auch für die Medien mit ihrer kurzen Aufmerksamkeitsspanne und ihrer Vorliebe für Spektakel, Kriege und Katastrophen günstiger ist.

Die britische Regierung überlegt, ob man nicht die UCK besser mit Waffen versorgen soll, um sie gewissermaßen als Bodentruppe zu instrumentalisieren. Terroristen werden dabei plötzlich zu Freiheitskämpfern (siehe z.B.  Kosovo "freedom fighters" financed by organised crime von Michel Chossudovsky). Zumindest wäre dann auch zu fordern, die Kurden in der Türkei aufzurüsten.

Aber es gäbe für die NATO viel zu tun, wenn sie ihre Aufgabe wirklich ernst nähme, zum Beispiel im Niger, in Ost-Timor, in Burma, in Nord-Korea, in Saudi-Arabien, in Tibet, in Chiapas ... vielleicht auch im Baskenland oder in Nord-Irland? Und wenn den NATO-Staaten tatsächlich die Achtung der Menschenrechte vor dem Prinzip der staatlichen Souveränität wichtiger ist, was ja an sich erfreulich wäre, so sollten sie jetzt schnellsten den Internationalen Gerichtshof etablieren - mit oder ohne die USA und Türkei.


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