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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Mobilisierung der Arbeitslosen Ein Anlass zum Anstoß – von Frances Fox Piven Der folgende Artikel, im Dezember in der US-Zeitschrift »The Nation« erschienen, provozierte einen ›Aufstand anderer Art‹. Glenn Beck von Fox News sah darin einen Aufruf zur Gewalt und zur Ruinierung des Landes. Beck’s verbalen Attacken folgte die Androhung physischer Attacken gegen die Autorin. Wir dokumentieren: Zum Jahresbeginn 2011 sind in den USA fast 15 Millionen Menschen offiziell arbeitslos; weitere 11,5 Millionen haben sich entweder mit einem Teilzeitjob abgefunden oder die Suche nach einer Arbeitsstelle aufgegeben. Um wieder auf eine Arbeitslosenquote von fünf Prozent wie im Dezember 2007 zu kommen, müssten mehrere Jahre lang monatlich etwa 300000 neue Jobs geschaffen werden. Nichts deutet darauf hin, dass es dazu in absehbarer Zeit kommen wird. Außerdem trifft die Arbeitslosigkeit die Menschen heute härter, denn sie folgt auf Jahrzehnte stagnierender Löhne und hoher privater Verschuldung, von ausgeschlachteten Pensionskassen und Einschnitten ins Netz der sozialen Sicherheit. Wo bleiben die wütenden Menschenmengen, die Demonstrationen, Sit-ins und rebellierenden Massen? Nur allzu offensichtlich ist doch die Ungerechtigkeit. Arbeitende Menschen verlieren ihre Häuser und Rentenansprüche, während die Raubritter in den Vorstandsetagen schon wieder Profite und satte Boni einstreichen. Sollten die Arbeitslosen nicht längst auf der Straße sein? Warum verlangen sie nicht bessere soziale Absicherungen und massive Arbeitsplatzprogramme? Nicht dass es keine politischen Lösungen gäbe. Linke Akademiker mögen über das Ende des US-amerika-nischen Imperiums und vielleicht sogar das Ende des neoliberalen Kapitalismus grübeln und könnten damit auf lange Sicht – wer weiß – sogar Recht haben. Aber bevor die Lichter endgültig ausgehen, haben wir sicher noch etwas Zeit, um durch massive Investitionen im Öffentlichen Dienst das von der Großen Rezession verursachte Elend abzumildern; oder um mit dem Einfluss und den Mitteln der Regierung neue Infrastrukturprogramme und ökologische Energieprogramme auf den Weg zu bringen, die vielleicht sogar den Weltuntergang verhindern könnten. Nichts davon scheint auf der Tagesordnung zu stehen. Stattdessen wird der nächste Kongress auf eine Alice-im-Wunderland-Politik fixiert sein, die mit Steuer- und Ausgabenkürzungen das Haushaltsdefizit verringern soll. Was die Arbeitslosen angeht, kramen rechtsgerichtete Kommentatoren und republikanische Abgeordneten wieder das alte Klischee hervor, die Arbeitslosigkeit werde durch eine zu großzügige Arbeitslosenunterstützung verursacht, mit der fehlende Arbeitsdisziplin und unverantwortliches Verhalten noch belohnt würden. Währenddessen lädt Präsident Obama Unternehmensvorstände zu einem Treffen ins Gästehaus der Regierung ein und bedrängt sie, einen Teil ihrer anwachsenden finanziellen Reserven in wirtschaftliches Wachstum und neue Arbeitsplätze – bitte in den USA und nicht in China – zu investieren; eine Geste, die in beängstigender Weise an das Gefasel des in Panik geratenen Herbert Hoover erinnert. Massenproteste könnten die Haltung des Präsidenten verändern, wenn sie zu massivem Druck aus seiner Wählerschaft führen würden. In seiner bisherigen Amtszeit war er damit noch nicht konfrontiert. Aber die Mobilisierung der Arbeitslosen steht vor Hürden, die überwunden werden müssten. Erstens sind die Menschen voneinander isoliert, wenn sie ihren Arbeitsplatz verlieren. Sie haben kaum noch Kontakte zu ihren früheren KollegInnen oder ihren Gewerkschaften und kommen nicht so leicht mit Arbeitslosen aus anderen Betrieben zusammen. ArbeiterInnen und StudentInnen befinden sich dagegen in demsel-ben institutionellen Gefüge, sind von denselben Problemen betroffen und stehen einem Boss oder Beamten gegenüber, die sie für ihre Probleme persönlich verantwortlich machen können. Trotz einiger bescheidener Initiativen – die vom Dachverband AFL-CIO ins Leben gerufenen Organisation »Working America«, die auch Arbeitslose aufnimmt, oder die Arbeitslosenorganisation »UCubed« der Gewerkschaft IAM (International Association of Machinists and Aerospace Workers) [1] – tun die meisten Gewerkschaften faktisch kaum etwas für ihre Arbeitslosen, die schließlich keine Beiträge mehr zahlen und sicher nur rumnörgeln werden. Da es in allen Branchen und Gehaltsstufen zu Entlassungen kommt, sind die Arbeitslosen außerdem sehr heterogen. Menschen aus verschiedenen Ethnien, mit unterschiedlichen Hautfarben und Bildungsniveaus zusammenzubringen, ist das klassische Problem der Organisierung. Durch gute Organizer und geschickte Taktiken kann es manchmal gelöst werden, wie es bei Versuchen, die ArbeiterInnen in der Massenproduktion zu organisieren, immer wieder geschehen ist. Erst kürzlich haben Strafgefangene in mindestens sieben verschiedenen Gefängnissen im Bundesstaat Georgia auf bemerkenswerte Weise einen gemeinsamen Protest koordiniert, indem sie sich über Handys absprachen, die sie von den Wärtern gekauft hatten. Es bleibt daher abzuwarten, ob Webseiten wie www.99ers.net oder www.layofflist.org, die in letzter Zeit von Arbeitslosen initiiert wurden, in derselben Weise zur Entwicklung von kollektiven Aktionen beitragen können wie das Internet im Fall der Antiglobalisierungsbewegung. Manchmal können die staatlichen Ämter dazu beitragen, Menschen zusammenzubringen. In den 1960er-Jahren trafen sich die mittellosen Mütter in den überfüllten Sozialämtern, oder Arbeitslose versammelten sich auf den Arbeitsämtern. Aber auch den Beamten ist klar, dass die Ämter Orte für kollektive Aktionen schaffen. Wenn sie merken, dass sich was zusammenbraut, bemühen sie sich, lange Schlangen und überfüllte Wartesäle zu vermeiden, oder sie verlagern die Antragstellung einfach ins Internet. Die Organizer können dann versuchen, ihre Beratung und Unterstützung vor den Ämtern anzubieten; auf diese Weise sind immerhin einige kleine Arbeitslosengruppen entstanden. Zweitens müssen die Menschen, um zu kollektiven Aktionen zu kommen, zunächst eine stolze und wütende Identität entwickeln und damit verbundene Forderungen. Ihr Gefühl der Erniedrigung und Scham müssen sie in Wut und Empörung verwandeln. (In den 1960er-Jahren gelang das den Sozialhilfemütter, indem sie sich selber als »Mütter« und nicht als »Sozialhilfeempfängerinnen« bezeichneten, auch wenn sie sich dabei nicht wohlfühlten, weil das gesellschaftliche Ansehen der Mutterschaft damals im Schwinden begriffen war.) Auch wenn viele Menschen ohne Arbeit dastehen, ist es verletzend, seinen Job zu verlieren, denn die meisten arbeiten weiter. Es bedarf also einer Art psychologischer Transformation; die Menschen ohne Arbeit müssen aufhören, sich selber die Schuld an ihrer Misere zu geben, und ihren Zorn gegen die Bosse, die Bürokraten und die Politiker, also gegen die wahren Schuldigen richten. Drittens benötigt der Protest Zielscheiben, am besten vor Ort mit direkten Zugangsmöglichkeiten. Die wütenden Forderungen müssen irgendeine Reaktion hervorrufen können. Das scheint mir das schwierigste der strategischen Probleme, die gelöst werden müssen, um zu einer Bewegung von Arbeitslosen zu kommen. Arbeitslosenproteste werden zwangsläufig auf örtlicher Ebene stattfinden, weil die Leute dort nun mal sind und weil sie dort Solidarität untereinander aufbauen. Aber die Stadtverwaltungen und Bundesstaaten sind knapp bei Kasse und entlassen selber Angestellte. Um auf die Bedürfnisse der Arbeitslosen einzugehen, wären Maßnahmen der Bundesregierung nötig. Die örtlichen Proteste müssen zunehmen und sich verbreiten – und in stärkerem Maße Störungen verursachen –, um wirksamen Druck auf die Bundespolitik ausüben zu können. Eine Bewegung der Arbeitslosen könnte nur etwas bewirken, wenn sie sich wie die Streiks und Riots in Griechenland entwickeln würde, die sich gegen das Sparpaket richteten, das der griechischen Regierung von der EU aufgezwungen wurde, oder wie die Studentenproteste gegen drastisch ansteigende Studiengebühren, die sich kürzlich mit Lichtgeschwindigkeit auf ganz England ausbreiteten. Eine derartige lockere und spontane Bewegung könnte entstehen – zumal gerade unter den jungen ArbeiterInnen die Arbeitslosenquote sehr hoch ist. Arbeitslosenproteste, die von jungen ArbeiterInnen und StudentInnen angeführt werden, die einer Zukunft der Arbeitslosigkeit entgegensehen, könnten groß genug und störend genug werden, um Eindruck auf Washington zu machen. Es gibt keine Wissenschaft, die den Ausbruch von Protestbewegungen vorhersagen kann. Wer hätte die wütende Straßenrandale in Athen oder die Proteste der britischen StudentInnen vorausgesehen? Oder wer sah die Streikbewegung kommen, die sich ab 1934 in den USA entwickelte, oder die Bürgerrechtsbewegung, die sich in den 1960er Jahren in den Südstaaten der USA ausbreitete? Hoffen wir, dass es in den USA wieder zu einer sozialen Bewegung von unten kommt – und beteiligen wir uns an ihr. Quelle: The Nation, 22. Dezember 2010, http://www.thenation.com/article/157292/mobilizing-jobless Übersetzung: Christian Frings Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 02/11 1) Anm. d. Ü.: Siehe www.workingamerica.org und www.goiam.org |