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Updated: 08.09.2006 3:50

Gefahr erkannt! Ihr Name: Mensch

Senegal bekommt Hilfe von Spanien: ein Hubschrauber, zwei Patrouillenboote. Zweck: Fluchtwegunterbindung, wie es Bürokratenseelen nennen. Und während die Medienwirtschaft die schwarze Gefahr auf den Kanaren in grellen Farben malt und die Meldungen über gefundene Leichen längst Alltag geworden sind, werden die Stimmen jener, die es als normal ansehen, wenn Menschen versuchen, ihr Leben zu fristen, an den Rand gedrängt. Die aktuelle Materialsammlung aus Stellungnahmen von Organisationen Betroffener und Telefoninterviews von Anfang September 2006 "Fluchtursache Lebensbedingungen".

Fluchtursache Lebensbedingungen

Der Aktivist einer Menschenrechtsorganisation im nördlichen St. Louis, Abdoulaye Lo, sagt über die klandestine Migration:

"Zuerst musst Du wissen, dass längst nicht nur Senegalesen aus dem Senegal nach Europa zu kommen versuchen, sondern Menschen aus allen möglichen westafrikanischen Staaten, wo die Lebenslage ja überall bestenfalls kompliziert ist. Dazu muss man weiterhin wissen, dass hinter all diesen Berichten die legale Migration verschwindet, die es ja auch massiv gibt, die aber beispielsweise in Form senegalesischer Familienzusammenführung nach Frankreich stattfindet, trotz aller Einschränkungen dort. Und drittens ist es ein Witz, wenn jetzt mit der Guardia Civil zusammen patrouilliert wird - ein schlechter, wenn man an die rassistische und faschistische Tradition dieser Truppe denkt, ein guter, wenn man sieht, dass es ein Hase und Igel Spiel ist - die Boote fahren immer weiter südlich ab, die können das gar nicht kontrollieren, von hier aus geht nichts mehr, aber jetzt ist der Abreiseort die Casamance (südlich Gambias) und dort hat die Regierung gar keine volle Kontrolle aufgrund der traditionellen Separatistenbewegung".

Oh je, Gewerkschaften...

Dieser Einordnung durch einen Aktivisten der unter anderem damit befasst ist, Menschen, die in der marokkanischen Wüste ausgesetzt waren (vom anderen EU-spanischen Menschenjagdpartner Marokko), wieder zu Kräften kommen zu machen, kann eine weitere hinzugefügt werden - die von Jerôme Fadinsah, oppositioneller Aktivist im Gewerkschaftsbund CNTS in der Hauptstadt Dakar: "Senegal war ja eines der Aushängeschilder für den NEPAD-Pakt der USA. Was sich dadurch geändert hat - versprochen haben sie natürlich das Übliche: Jobs - ist tatsächlich eine Änderung der Erwerbslosigkeit. Durch die Freihandelsmaßnahmen ist man heute mehr ohne Erwerb, desto besser die Ausbildung, die sogenannten McJobs der Dienstleistungen haben als einzige zugenommen. Und es ist ja ein totaler Witz, mit den offiziellen Zahlen der Erwerbslosigkeit zu argumentieren, wie es die Gewerkschaften tun. Wir haben rund 800.000 erwerbsfähige Menschen in Dakar, also etwa 40% der Einwohnerschaft. Von denen sind offiziell über 11% erwerbslos - nur: das betrifft nur jene 20%, die offiziell beschäftigt sind, während drei Viertel von allen im informellen Sektor tätig sind, wo am wenigsten verdient wird, aber das nehmen die Gewerkschaften, die gerade in einer Kampagne gegen die Lohnverluste der offiziell Beschäftigten stecken, nicht einmal zur Kentniss, weswegen sie auch weiterhin keine wesentliche Rolle spielen werden. Da gibt es die ultrabornierten, die meinen, das seien alles Lumpenproletarier, und dann gibt es jene, die gemeinsam mit dem Präsidenten hohle Aufrufe an die Jungen verbreiten, das Land nicht zu verlassen...wobei schon mehr als die Hälfte der offiziell registrierten Erwerbslosen unter 27 Jahre alt sind, also was solls?"

Die ganze tödliche europäische Hysterie entsteht aufgrund der Zahl von gerade einmal 20.000 Flüchtlingen, die im Verlaufe dieses Jahres auf den Kanaren angekommen sind, von denen vfielleicht die Hälfte - höchstens - aus dem Senegal kommen - Schätzungen gehen davon aus, dass weitere eintausend Menschen im selben Zeitraum beim Versuch, die Kanaren zu erreichen, ums Leben gekommen sind. Im Vergleich zu den innerafrikanischen Flucht- und Wanderungsbewegungen sind die Zahlen der Ankömmlinge auf den Kanaren minimal.

Warum Menschen im auch im Senegal überleben

Die Situation im Senegal ist durch drei Faktoren geprägt, sagt Ayshe Maruma, von einer Frauenkooperative in der Casmance: "Traditionell lebten die Menschen an der Küste von der Fischerei - noch heute soll es im Senegal rund 12.000 Fischerboote geben. Was bedeutet, dass immer noch ein relevanter Teil der 10 Millionen Menschen im Senegal von der Fischerei leben, aber Überfischung und Industrialisierung haben da gewaltige negative Auswirkungen. Zweitens: Die Menschen im Landesinneren lebten und leben vor allem von der Landwirtschaft - und hier muss man differenzieren. Zum einen trägt schlicht die meist weibliche organisierte Subsistenzwirtschaft zu einem grossen Teil zum simplen Überleben der Familien wesentlich bei. Zum dritten gibt es natürlich, gerade im Rahmen von NEPAD - eine dieser Segnungen des Westens, die die Menschen umbringen - die Tendenz regional orientierte Landwirtschaft zu ersetzen durch Exportwirtschaft für die Europäer. Und die jungen bleiben über - es ist zu einhundert Prozent zynisch, sie zum Bleiben aufzufordern".

Abdoulaye Lo sagt dazu: "St. Louis ist im Senegal so etwas wie New Orleans in den USA ist - oder beide waren. Lebensfreude, Tradition, Offenheit trotz aller Probleme - aber das wird gerade vom Kapitalismus getötet. Die Jungen gehen fast alle weg, fast alle. Das ist traurig, weil es hier so schön war. Und natürlich gehen sie keinswegs zuerst in euer blödes Europa, sondern: Nach Dakar".

Ayshe Maruma fügt hinzu: "Wenn es nicht so tragisch wäre, wäre es ja lustig - endlich fällt den Europäern und Spaniern die Tatsache auf die Stinkfüsse, dass sie einfach - nach dem Genozid schon immer und noch heute - so tun, als ob die Kanaren Teil von Europa wären".

Schicksale

Das UN-Nachrichtennetzwerk IRIN publiziert aktuell eine Reihe von Beiträgen, in denen MigrantInnen aus dem Senegal zu Wort kommen. In dem (englischen) Beitrag "No wall in the sea" externer Link vom 7. September 2006 jemand, dessen Familie gegen seinen Versuch war - was verbreitet ist, aber wohl nicht mehrheitlich: Immerhin sind die Überweisungen von AfrikanerInnen nach Hause höher als die Kapitalinvestitionen von ausserhalb Afrikas, ohnehin immer noch (trotz Änderungstendenzen) vor allem auf Rohstoffausbeutung gerichtet..

Bei Seneweb, einem (französischsprachigen) sengalesischen Informations- und Diskussionsportal gibt es nicht nur eine grauenerregende Fotodokumentation zu sehen, sondern auch Dutzende von Meinungsäusserungen aus dem Lande selbst, der unterschiedlichsten Art. Auf jeden Fall: Keine Europäer sind an dieser Debatte beteiligt: "Immigration Clandestine: Pour Echapper à la pauvreté de jeunes Africain(e)s Risquent leur vie" externer Link publiziert bei Seneweb am 22. Mai 2006 und mit wochenlangen anschliessenden Kommentaren versehen - zu unterstreichen dabei, dass Seneweb sehr bewusst auch die weibliche Form benutzt, denn es wird geschätzt, dass inzwischen etwa ein Viertel der klandestinen Migranten eben Migrantinnen sind.

Einen ausgesprochen interessanten Diskussionsbeitrag "Drame des migrants africains au Maroc" externer Link schrieb Moustakbal Jawad in dem Netzwerk "Penser pour agir" aus Mali aus Anlass der marokkanischen Todesmeldungen von Anfang Juli 2006 - dessen Grundaussagen sich ohne Umschweife auch auf das neue Migrationsziel Kanaren übertragen lassen, das ja ohnehin Ceuta und Melilla erst nach der europäisch-marokkanischen Schlächterei ersetzt hat.

Jerôme Fadinsah sagt dazu: "So wird es immer sein - für jedes gestopfte Loch gibt es ein neues, die Menschen - oder das, was der Kapitalismus von ihnen übrig lässt - sind klüger, als das Kapital denkt. Eines der Probleme ist eben nur, dass die traditionellen Organisationen der Arbeiterbewegung diesem in dieser Art neuen Phänomen der globalen Armutszwangmigration völlig hilflos gegenüberstehen, bestenfalls Phrasen anzubieten haben, die ohnehin keiner glaubt".

Man sollte jetzt aber nicht glauben, nur europäische Gewerkschaften wären in der Lage Phrasen zu dreschen - oder reaktionäre Positionen einzunehmen, wie etwa der DGB (unwidersprochen von vielen Oppositionellen) bei der Greencard. Der senegalesische Gewerkschaftsbund CNTS war beispielsweise tragend an einer Kampagne beteiligt, bei der die Gefahren dieser klandestinen Migration aufgezeigt wurden - nicht etwa, um den Menschen zu helfen, sondern um sie davon abzuhalten. Maxime Loson Ba, ebenfalls ein älterer Aktivist der CNTS in St. Louis sagt dazu: "Was willst Du, Gewerkschaften waren immer vor allem reaktionär, wenn es um Migration geht, da kann es gar keine Debatte geben: Ein Teil des Problems, keineswegs der Lösung. Unabhängig im übrigen von den Mehrheitsströmungen. Denn die Interessen der Festangestellten in den Betrieben sind nun mal ganz anders - und oft genug gegensätzlich und MigrantInnen, das kann ich Dir aufgrund meiner Organisationsversuche im informellen Sektor sagen sind natürlich, ob erklärt oder nicht und wo auch immer vor allem eines: billige Arbeitskräfte - der tumbe Gewerkschafter sagt dazu traditionell Lohndrücker".

Die Stellungnahme "Migration et politiques d’expulsion / répression, droits humains et développement, devoir des gouvernements de Sud. Quelles synergies d’actions de la société civile ?" externer Link von Bassidy DIABATE für CAD - MALI und die JEUNESSE UNION AFRICAINE MALI auf dem Forum des Peuples im Juli 2006 diskutiert, ist von den ForumsaktivistInnen als Alternative zu den Debatten auf dem kurz zuvor stattgefundenen europäisch-afrikanischen Regierungsgipfel über Migration verstanden worden. Sie reisst die Chronologie der antimgrantischen EU-Politik noch einmal kurz ab - und erinnert dabei etwa an das Pasqua-Gesetz in Frankreich - und kritisiert ausführlich die aktuelle militärische Repression unter dem einleitenden Motto "der Mensch ist kein Baum, er hat Beine".

Gemeinsamer Nenner der Befragten, die natürlich keineswegs zufällig ausgewählt oder angefragt wurden, sondern im wesentlichen Bekannt- oder Freundschaften aus (sehr) alten Zeiten sind, ist die Überzeugung, in zweifacher Hinsicht: Erstens, dass es ein Grundrecht der Menschen ist, zu versuchen ihr Leben zu fristen, auch wenn dies nicht marktwirtschaftskonform sein mag - oder gerade. Zum Zweiten, dass dies absolut kein "Randgruppenproblem" ist, sondern dass ein beträchtlicher - und im Gegensatz zu beispielsweise AutomobilarbeiterInnen wachsender - Teil der ArbeiterInnenschaft dieser Welt aus MigrantInnen mit und ohne Papieren besteht. Fertig.

(Helmut Weiss)


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