aus express 9/99, Zeitung für Betriebs- und sozialistische Gewerkschaftsarbeit

Keine gemeinsame Sache

Zur Einführung der 35-Stunden-Woche bei der französischen Bahn

Von Uwe Wolf

Seit dem 4. Juni gilt bei der französischen Bahngesellschaft SNCF die 35-Stunden-Woche. Analog zu vielen anderen Branchen gingen auch hier zähe Verhandlungen zwischen Unternehmen und Gewerkschaften voraus. Nachdem bisher schon viele Illusionen über die Effekte der 35-Stunden-Woche enttäuscht wurden (s. dazu den informativen Beitrag von Martine Boulard in „Le Monde Diplomatique" vom September dieses Jahres) – insbesondere über mögliche Neueinstellungen (statt der erwarteten 700.000 Neueinstellungen gab es nur knapp 100.000) –, kam dem Abschluss bei der Bahn eine erhöhte Bedeutung zu, da hier zum einen der gewerkschaftliche Organisationsgrad noch relativ hoch ist und zum anderen die Bahn als Bestandteil des Öffentlichen Dienstes mehr Gestaltungsmöglichkeiten bietet als die meisten privatwirtschaftlich organisierten Bereiche.

Als umso enttäuschender muss nach den Vereinbarungen vom 4. Juni das erzielte Ergebnis beurteilt werden, und zwar nicht nur von seinem Resultat her, sondern auch hinsichtlich seiner Genese. Schon früh hatte die Direktion der SNCF versucht, die Gewerkschaften gegeneinander auszuspielen, indem verschiedene diskrete Verhandlungen mit einzelnen Gewerkschaften geführt wurden. Die SUD-Rail war bemüht, unter den beteiligten Gewerkschaften einen Konsens herzustellen, der darauf abzielte, solche Gesprächsangebote abzulehnen und stattdessen die gewerkschaftliche Gegenmacht zu bündeln. Dies schien schon deshalb sinnvoll, weil die Positionen von CGT und CFDT einerseits und SUD-Rail andererseits nicht weit voneinander entfernt und somit durchaus miteinander vereinbar waren. Übereinstimmung gab es beispielsweise hinsichtlich der hundertprozentigen Neubesetzung frei werdender Stellen (in toto 19.500) und der Neueinstellung weiterer 10.000 Beschäftigter zur Beseitigung personeller Engpässe und zur Minderung der Arbeitsbelastung. Den Beschäftigungseffekt der 35-Stunden-Woche schätzte die SUD-Rail zwar geringer in als CGT und CFDT (12.000 gegenüber 17.000 bzw. 16.500), forderte dafür aber zugleich die Einbeziehung der Option einer 32-Stunden-Woche (mit möglichen 20.000 Neueinstellungen). Alle drei Gewerkschaften verlangten also die Neueinstellung von über 40.000 Leuten, die SUD-Rail mit 41.500 weniger als CGT (46.500) und CFDT (46.000).

Die ersten Verhandlungen begannen Ende 1998 und hatten ursprünglich nur die 35-Stunden-Woche zum Thema. Als die Direktion sich aber im Frühjahr weigerte, eine Vereinbarung ausschließlich zur Umsetzung der 35-Stunden-Woche zu schließen und stattdessen auch Beschränkungen bei den Lohnforderungen sowie das Thema Arbeitszeitflexibilisierung miteinbezogen wissen wollte, brach die SUD-Rail die Kontakte zur Direktion ab. Eine gemeinsame Strategie unter den Gewerkschaften herbeizuführen, blieb ihr allerdings auch versagt. So entschloss sich die SUD-Rail, die Belegschaft über den bisherigen Verhandlungsstand aufzuklären und mit Arbeitsniederlegungen gegen eine Verschlechterung der Situation zu protestieren. Ende April koordinierte sie landesweit die Protestaktionen der GewerkschafterInnen, unter denen sich auch zahlreiche Mitglieder von CGT und CFDT befanden. Die CFDT hielt sich und ihre Mitglieder weitgehend von der Streikbewegung fern, während die CGT eine Doppelstrategie fuhr. Sie verhandelte einerseits mit der Direktion über die von dieser ins Spiel gebrachte Arbeitszeitflexibilisierung. Gleichzeitig aber demonstrierte sie an der Basis gegen die Zusammenlegung der Diskussion um Arbeitszeitverkürzung einerseits und Arbeitszeitflexibilisierung andererseits. Mit dieser Art von Opportunismus versuchte sie, ihre Position an der Basis nicht zu verschlechtern. Die Streikaktivitäten zogen sich bis Mitte Mai, um dann relativ abrupt abzubrechen. Der SUD Rail gelang es nicht länger, für den Streik zu mobilisieren, CGT und CFDT zogen ihre Mitglieder immer mehr aus den Streikaktivitäten zurück, je deutlicher sich ein Verhandlungsergebnis abzeichnete.

Die vorhandene Frustration wurde mit der Bekanntgabe der Vereinbarung zwischen Direktion und CGT/CFDT noch größer. Statt der zu erwartenden über 40.000 Neueinstellungen sind nun innerhalb einer Phase von drei Jahren 25.000 vorgesehen, von denen 1.500 aus der Umwandlung befristeter in unbefristete Arbeitsverträge resultieren. Zwar konnten die beiden „privilegierten" Gewerkschaften die Neubesetzung freiwerdender Stellen erreichen, aber in puncto Abbau der Arbeitsverdichtung erreichten sie nichts. Auch die 35-Stunden-Woche kommt mit bescheidenen Effekten daher: Lediglich 5.000 Neubesetzungen (davon 1.500 innerbetriebliche Umsetzungen) innerhalb von drei Jahren wurden festgeschrieben.

Erkauft wurden die um fast 50 Prozent hinter den Erwartungen bleibenden Neueinstellungen mit bescheidenen Lohnerhöhungen von 2,6 Prozent in diesem Jahr sowie jeweils 2,3 Prozent für die beiden nächsten Jahre. Außer dieser Null-Lohnrunde (wenn man Teuerung und Produktivitätsausgleich dagegenrechnet) gibt es zudem noch eine Flexibilisierungsvereinbarung. Es wird vermehrt Nacht- und Zusatzschichten geben, wobei diese Überstunden zwar mit Freizeit, aber nur in Absprache mit der jeweiligen Ortsleitung abgegolten werden, so dass auch hier Flexibilisierungen zu einer Blockade für Neueinstellungen werden. Die abverlangten Flexibilisierungen führen zu einer Verbesserung des Dienstleistungsangebots, allerdings zu Lasten der Beschäftigten, die generell mit mehr Arbeit pro Person rechnen müssen. Eine Ausnahme bilden hier die leitenden Angestellten, die als Gewinner der Vereinbarung zu bezeichnen sind. Sie erhalten nicht nur die meisten Möglichkeiten zur Ausschöpfung individueller Prämien – wogegen sich die CGT während des Streiks noch heftig ausgesprochen hatte, um diesen Punkt wenig später klaglos zu tolerieren –, sondern auch zahlreiche Möglichkeiten einer individuellen Arbeits(zeit)einteilung.

Ein kurzes Fazit: Nach Ansicht der SUD-Rail wurden einige Chancen vertan, die Einführung der 35-Stunden-Woche einigermaßen erfolgreich zu gestalten. Die parallele Einführung von Arbeitszeitverkürzung und Arbeitszeitflexibilisierung wird diejenigen Beschäftigten an der Basis bestätigen, die sich von der Arbeitszeitverkürzung ohnehin nur wenig versprochen haben, weil ihre Einführung mit finanziellen Opfern und Arbeitsverdichtung bezahlt werden muss.

Das mangelnde Solidarverhalten der Gewerkschaften wird zu weiterem Verdruss bei den GewerkschafterInnen an der Basis führen. Zwar dürften davon in erster Linie CGT und CFDT betroffen sein, die sich mit ihrer doppelzüngigen Strategie immer unbeliebter machen, aber auch die SUD-Rail kann sich über diese Entwicklung nicht freuen. Denn auch ihre Mitglieder leiden unter dem gewerkschaftlichen Zwist. Außerdem muss sie ständig erklären, warum Verhandlungen fast immer an ihr vorbeilaufen. Angesichts der Gewerkschaftsverdrossenheit wird so manches Mitglied auch die Strategie der SUD-Rail für magere Ergebnisse nach Verhandlungen verantwortlich machen, auch wenn es für deren distanzierte Haltung zur Macht auch gute Gründe geben mag.


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