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Als die Sowjetunion Ende 1991 zerfiel, waren 1,8 Millionen Menschen in der Produktion von Automobilen und landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen beschäftigt. Dieser war damit einer der wichtigsten industriellen Sektoren. Sechs Jahre später war die Zahl der ArbeiterInnen um mehr als 50 Prozent zurückgegangen, und viele von denen, die ihren Job behalten haben, sind nicht mehr vollzeitbeschäftigt. Die Produktion von landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen, Traktoren, Lastwagen und Transportfahrzeugen insgesamt ist mit dem Ausbleiben effektiver Nachfrage durch landwirtschaftliche Unternehmen, Militär, Gemeindeverwaltungen und große Unternehmen eingebrochen. Gleichzeitig geht es dem Sektor noch besser als den anderen Maschinenbausektoren, denn eine gewisse Nachfrage nach Autos und Kleintransportern wird durch die Mittelklasse und kleine Unternehmen des privaten Sektors aufrechterhalten.
Obwohl sich das ökonomische Wachstum in den letzten drei Jahren wieder belebt hat, ist die Situation nach neun Jahren Rezession immer noch katastrophal. Außerdem hat sich das Wachstum im Jahr 2001 aufgrund der fallenden Ölpreise schon wieder verlangsamt, ein Phänomen, das 2002 noch schärfer durchschlagen wird. 2001 hat die Autoproduktion um lediglich 3,5 Prozent zugenommen, während die LKW-Produktion um 10 Prozent abgesackt ist. Währenddessen verlieren die russischen Automobilproduzenten einen Teil des russischen Neu- und Gebrauchtwagenmarktes an importierte Marken, da die Preisdifferenzen allmählich geringer werden. 2001 ist der Import neuer Autos um 200 Prozent, der Import gebrauchter Autos um 300 Prozent gestiegen. Moskwitsch, eines von drei Unternehmen, die eine integrierte Produktion gewährleistet haben, und bei dem früher einmal 30000 Menschen beschäftigt waren, steht kurz vor dem endgültigen Aus. Arbeitskräfte sind in Russland zwar billig, aber die Unternehmen verfügen nicht über das erforderliche Kapital, um Investitionen zu tätigen, die notwendig wären, um auf dem internationalen Markt konkurrenzfähig zu sein.
Aus vertrauenswürdigen Quellen verlautet, dass die Reallöhne zwischen 1990 und 1998 um 80 Prozent ge-sunken sind. Offiziell sind die Löhne in den letzten zwei Jahren gestiegen, was die ArbeiterInnen aber be-streiten. In der Branche betrug der monatliche Durchschnittslohn 2001 ca. 110 Euro (bei den Automobilen ist er höher, bei den landwirtschaftlichen Nutzfahrzeugen niedriger). Das Existenzminimum wird offiziell bei 55 Euro pro Person angesetzt. Dort, wo die Reallöhne wirklich gestiegen sind, verdankt sich dies den geleisteten Überstunden oder der Heraufsetzung der Bandgeschwindigkeiten (die Bezahlung nach Stückzahlen herrscht immer noch vor).
Noch mehr aber geht es darum, dass die Löhne in Zukunft mehr oder weniger regelmäßig gezahlt werden. Während der Jahre 1995 bis 1998 betrugen die Rückstände der Lohnzahlungen im Normalfall mehrere Monate, manchmal Jahre. Das war ein weit verbreitetes Phänomen in allen wirtschaftlichen Sektoren und kam einem zinslosen Zwangsdarlehen der ArbeiterInnen an die Unternehmensleitungen gleich. Heute belaufen sich die Lohnrückstände in der Fahrzeugindustrie auf nur anderthalb Monate.
Die Wurzel dieser Probleme ist die vom Staat verfolgte neoliberale Strategie der Schocktherapie, welche die Nachfrage zerschlagen und die Unternehmen um Betriebs- und Investitionskapital gebracht hat. Diese Politik stürzt die ArbeiterInnen, die jahrzehntelang über sichere Jobs und soziale Absicherung verfügt hatten, in eine tiefgreifende Unsicherheit. Das Hauptziel des Staates ist und bleibt die schnelle Konzentration des Reichtums und der ökonomischen Macht in den Händen einer kleinen Bourgeoisie sowie die Eliminierung jeglicher progressiven Alternative bei der Ablösung des bürokratischen Wirtschaftssystems. Die Schocktherapie ist von den G7 anhaltend gepriesen und unterstützt worden.
Nach dem Ende der Sowjetunion haben sich die ArbeiterInnen in einer radikal neuen Situation wiedergefunden, die von einer tiefen ökonomischen Unsicherheit geprägt ist und das aufgrund ihrer Sozialisation in einem totalitären Herrschaftssystem auch noch mit wenig, um nicht zu sagen: überhaupt keiner Erfahrung, was Selbstorganisation und kollektive Kämpfe angeht. Das mag zur Klärung der Frage beitragen, warum ihr Widerstand wirkungslos geblieben ist. Für letzteres gibt es aber noch einen zweiten, mit dem ersten zusam-menhängenden Grund: das Versagen der Gewerkschaftsführung und der politischen Linken.
90 Prozent der ArbeiterInnen, die im Automobil- und Landmaschinenbau beschäftigt sind, sind Mitglieder der Gewerkschaft der ArbeiterInnen im Automobil- und Landmaschinenbau (ASM), direkte Nachfolgerin der sowjetischen Gewerkschaft. Die ASM ist der Föderation unabhängiger russischer Gewerkschaften (FNPR) angeschlossen, die für sich in Anspruch nimmt, 38 Millionen Mitglieder zu haben. Die restlichen ArbeiterInnen der Branche sind entweder nicht gewerkschaftlich organisiert oder Mitglieder der alternativen Gewerkschaften. Diese alternativen Gewerkschaften sind im Laufe der letzten zwei Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion aufgetaucht und in einigen wichtigen (wenn auch nicht den meisten) Unternehmen vertreten. Die Zahl ihrer Mitglieder variiert zwischen einem knappen Dutzend und 5 Prozent des Personalbestandes des jeweiligen Unternehmens. Die stärksten dieser alternativen Gewerkschaften sind Jedinstwo ("Einheit", nicht zu verwechseln mit Wladimir Putins gleichnamiger Partei; d.Ü.), die in der riesigen Lada-Automo-bilfabrik VAZ in Togliatti an der Wolga 3500 von 100000 ArbeiterInnen repräsentiert, und Solidarnost ("Solidarität"), die unter den 23000 ArbeiterInnen der LKW-Dieselmotorenfabrik von Jaroslawl 1300 Mitglieder zählt.
Die alternativen Gewerkschaften wurden von ArbeiterInnen gegründet, die gegen die Angepasstheit der traditionellen Gewerkschaften opponiert haben. Sie nehmen niemanden aus den Unternehmensleitungen als Mitglied auf und sind viel kampfbereiter als die traditionellen Gewerkschaften, deren Führungen nicht darauf eingerichtet sind, sich mit dem Management anzulegen. Aus dem gleichen Grund sind sie demokratischer und verfolgen eine Politik der Ausbildung von Mitgliedern der Basis.
Die Zugehörigkeit zu einer alternativen Gewerkschaft ist ein Zeichen für ein Engagement, das in den traditionellen Gewerkschaften überhaupt nicht mehr anzutreffen ist, denn dort dominieren Apathie und Vorsicht, und das Gefühl der Ohnmacht transformiert sich in das Begehren nach paternalistischer Protektion von Seiten der Unternehmensleitung. In dieser Hinsicht reflektieren die jeweiligen Mitgliederstärken der beiden Gewerkschaftstypen bis zu einem gewissen Punkt die Haltung der ArbeiterInnen an der Basis. Die traditionellen Gewerkschaften haben indessen noch einen anderen Vorteil: Sie profitieren von der Unterstützung der Unternehmensleitungen gegen die Konkurrenz der alternativen Gewerkschaften. Letztere sind unterschiedlich massiven Schikanen und unverhohlenen Repressionsmaßnahmen von Seiten des Managements ausgesetzt, welche sich auch noch der Zustimmung der traditionellen Gewerkschaften erfreuen.
Das seit Dezember 2001 geltende neue Arbeitsrecht wird die Lage wahrscheinlich noch verschärfen, und zwar in dem Maße, indem es die kleineren Gewerkschaften bestimmter Rechte beraubt, die früher gesetzlich garantiert waren. Aber so sehr das neue Gesetz für die alternativen Gewerkschaften und für die ArbeiterInnen allgemein eine Niederlage darstellen mag, könnte es durchaus auch eine positive Wirkung haben, indem es nämlich die alternativen Gewerkschaften zwingt, weniger Energie dafür zu verschwenden, Beschwerden vor den Arbeitsgerichten einzulegen, und sich stattdessen mehr mit der Organisierung und Mobilisierung der ArbeiterInnen zu befassen.
Die politischen Differenzierungen zwischen den zwei gewerkschaftlichen Strömungen sind weniger klar strukturiert. Mehrere Jahre lang ist die ASM der FNPR blind in Wahlbündnisse mit demjenigen Sektor der Bourgeoisie gefolgt, der einen gemäßigten Widerstand gegen die Schocktherapie gefahren war. All diese Bündnisse waren allerdings bittere Misserfolge. Vor einigen Monaten hat nun die von der FNPR unterstützte nationalkonservative »Vaterland«-Partei die Fusion mit Putins »Einheit«-Partei vollzogen. Unter anderem nach Konzessionen im Hinblick auf das neue Arbeitsrecht ist die FNPR schließlich von den Mächtigen wieder in den Stand der Gnade erhoben worden und hat jetzt einen Status als halboffizielle Gewerkschaft. Überflüssig anzumerken, dass dies den ArbeiterInnen nichts gebracht hat.
Die Mehrheit der alternativen Gewerkschaften hat bis vor kurzem die neoliberale Regierung unterstützt (mit Ausnahme der linken Gewerkschaft Sachtschita Truda (»Verteidigung der Arbeit«), die aber nicht im Fahrzeugbau vertreten ist). In letzter Zeit sind die alternativen Gewerkschaften zur Opposition gewechselt, unter anderem im Zusammenhang mit der Kampagne gegen das neue Arbeitsrecht. Führungen und Mitglieder der zwei alternativen Gewerkschaftsdachverbände Sachtschita und Sozprof (letztere hatte in der Vergangenheit die Regierung unterstützt) haben im Januar 2002 die Russische Arbeitspartei gegründet. Auch der Führer der Gewerkschaft Jedinstwo, Pjotr Solotariow, war an der Parteigründung beteiligt, mit der die politische Repräsentation der alternativen Gewerkschaften nach der Niederlage im Kampf um das Arbeitsrecht wieder gestärkt werden soll.
Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation, auf den ersten Blick die wichtigste linke Partei Russlands (wenn man sie angesichts ihrer patriotischen bis chauvinistischen Positionen überhaupt als linke Partei charakterisieren kann), hat weder auf die Führungen noch auf die Basismitglieder der Gewerkschaften einen signifikanten Einfluss. Viele, die sich von ihrem keynesianischen Programm des Staatsinterventionismus angesprochen fühlen könnten, schenken ihrem Bekenntnis zur Demokratie keinen Glauben. Tatsächlich hat diese Partei nie öffentlich mit ihrer totalitären Vergangenheit gebrochen. Und sie hat in jeder Hinsicht den Beweis für ihre totale Unfähigkeit geliefert, als Partei strikt parlamentarisch zu funktionieren, was sich auch nicht allein mit dem Hinweis rechtfertigen lässt, dass das Parlament nach Jelzins Putsch im Oktober 1993 seiner Macht beraubt wurde.
Abgesehen von der aktuelle Kampagne der alternativen Gewerkschaften gegen die Arbeitsrechtreform, war die hauptsächliche und gewissermaßen einzige Quelle offener Konflikte die Verzögerung der Lohnzahlungen zwischen 1995 und 1998 gewesen. Vor diesem Zeitraum provozierten die Lohnsenkungen eigentlich nur individuelle Reaktionen: Die ArbeiterInnen verließen ihre Unternehmen, um ihr Glück im privaten Sektor zu versuchen, vor allem im Einzelhandel und in kleinen Dienstleistungsunternehmen. Das hat dazu geführt, dass die großen Industrieunternehmen einen gewaltigen Verlust an jungen ArbeiterInnen hinnehmen mussten: Ausgerechnet die tatkräftigsten und unabhängigsten kehrten ihnen den Rücken.
Hier ist die Ladafabrik VAZ eine Ausnahme: Sie hat kontinuierlich mehr oder weniger die kompletten Löhne gezahlt und konnte die ganze Belegschaft halten. Das hat die Gewerkschaft Jedinstwo in eine gute Ausgangslage gebracht, was die Erzielung von Ergebnissen durch Streikaktionen angeht. Auch ein nur partieller Stopp des Montagebandes kann den Stillstand des ganzen riesigen Werkes nach sich ziehen. So konnte Jedinstwo 1992 zu Zeiten massiver Inflation hinsichtlich der Löhne eine Klausel erwirken, die eine Berücksichtigung der tatsächlichen Lebenskosten vorschrieb (und auf die 1997 von der traditionellen Gewerkschaft gegen den Widerstand der Basis wieder verzichtet wurde[1]), und 1994 erreichten sie mit einem Streik, dass Lohnrückstände ausgeglichen wurden. Auch aktuell sind neue Aktionen für Lohnerhöhungen und gegen die Auslagerung eines Teils der Produktion geplant.
1997/98 erreichten die Arbeitskämpfe um die Verzögerungen der Lohnzahlungen ihren Höhepunkt. In mehreren großen Unternehmen des Fahrzeugbaus gab es harte und andauernde Streiks, die von gewählten Streikkomitees organisiert wurden, in manchen Fällen aber auch von den traditionellen Gewerkschaften (vor allem dort, wo die ArbeiterInnen gerade deren Führungen ausgetauscht hatten). All diese Kämpfe blieben aber singuläre Ereignisse und konnten lediglich kurzfristige Erfolge erzielen, und zwar in dem Maße, in dem sich die Zustände, die zu den Streiks geführt hatten, auch außerhalb der Unternehmen auf der Ebene des Staates fanden. Solidarität bleibt ein seltenes Phänomen. Auf nationaler Ebene ist die ASM kaum mehr als ein Ort für Treffen der regionalen Führungen, für Informationsaustausch und die Planung nicht besonders wirkungsvoller Lobbyaktionen. Die nationale Gewerkschaft verfügt über praktisch keine finanziellen Mittel, und die lokalen Gewerkschaften behalten ihre Mitgliedsbeiträge für sich.
Von der insgesamt mangelnden Solidarität gab es aber auch eine wichtige Ausnahme, und das war das gemeinsame regionale Streikkomitee, das vier Motorenfabriken drei in Jaroslawl und eine im benachbarten Tutajew 1997 gebildet haben, um gegen die Lohnrückstände zu kämpfen, wobei die AutomobilarbeiterInnen die treibende Kraft waren. Im Sommer 1998 hat das Komitee intensive Aktivitäten entwickelt: 80 Tage lang befand sich ein Camp in der Nähe der Eisenbahnlinie, und schließlich wurde der Eisenbahnverkehr blockiert. Damit wollte das Komitee erreichen, dass die Wirtschaftspolitik des Landes geändert, die absolute Macht des Präsidenten beendet und Jelzin abgesetzt wird. Diese regionale Bewegung ist allerdings isoliert geblieben.
Heute macht die Branche bis auf die niedrigen Löhne einen insgesamt eher ruhigen Eindruck. Die alternativen Gewerkschaften entwickeln sich nur sehr langsam; und die wenigen traditionellen Gewerkschaften, die während der Jahre 1996 bis 1998 eine Transformation erlebt hatten, sind inzwischen zu ihren Praktiken der Sozialpartnerschaft zurückgekehrt. Eine Wiederbelebung der ArbeiterInnenbewegung hängt an erster Stelle von einer erneuten Aktivierung der Militanten an der Basis ab. Wenn das Wirtschaftswachstum anhält, dann könnte es einen Impuls in diese Richtung geben. Viel hängt auch vom Erfolg der Kämpfe ab, die in der übrigen Welt gegen die neoliberale Offensive geführt werden: Kämpfe, die bei denjenigen ArbeiterInnen Russlands, die Zugang zu entsprechenden Informationen haben, auf großes Interesse stoßen.
1) Dies geschah, als das Werk sich in einer ökonomisch bedrohlichen Lage befand. Entsprechend lautete das Argument der Gewerkschaft, die Fabrik könne sich die Klausel nicht leisten (d.Ü.).
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