5. September 1999
1976 wurde Osttimor, Teil der Insel Timor in Südostasien, von indonesischen Truppen annektiert. Von ursprünglich 600.000 Osttimoresen kamen in den ersten Jahren der blutigen Herrschaft etwa 200.000 ums Leben. Männer, Frauen und Kinder, die sich nicht dem Regime unterwerfen wollten, wurden gnadenlos abgeschlachtet. Der renommierte US-Wissenschaftler und Publizist Noam Chomsky sieht darin die "vielleicht höchste Todesrate bezogen auf die Bevölkerung seit dem Holocaust".[1]
Nun droht sich die Geschichte zu wiederholen. Am 4. September gaben die Vereinten Nationen das Ergebnis eines bedeutenden Referendums bekannt, welches Osttimor die Unabhängigkeit von Indonesien garantieren soll. Überwältigende 78.5 % der Wähler entschieden sich für die Unabhängigkeit, trotz massiver Drohungen der von Indonesien unterstützten Milizen. Diese scheinen sich nun auf die organisierte Vernichtung von Befürwortern der Unabhängigkeit vorzubereiten. Der Chef des Milizen-Verbandes "Vereinigte Front" kündigte ein "Blutbad" an. "Die nächsten 48 Stunden könnten Tod und Zerstörung in Osttimor bedeuten, wenn die Weltpolitiker nicht maximalen Druck auf die indonesiche Regierung ausüben", so Human Rights Watch am 2. September.[2]
Bereits in der Nacht zum 4. September wurden durch die Milizen zwei Dörfer westlich der Hauptstadt Dili in Brand gesteckt, sie übernahmen außerdem einen Radiosender. Laut australischen Radioberichten wurden allein im Maliana-Bezirk 20 Menschen getötet, wo die Vereinten Nationen zuvor ihren gesamten Stab abzogen.[3] Am 5. September war bereits von über 200 Toten die Rede. Das Hotel Makhota, in dem viele UN-Mitarbeiter untergebracht sind, wurde von den Milizen dreimal angegriffen. Weitere 100 UN-Mitarbeiter mußten evakuiert werden.[4] Die Tagesschau berichtete am 4.9., man versuche offenbar gezielt, Vereinte Nationen und Medienvertreter von der Insel zu vertreiben. Militär und Polizei halten sich zurück und greifen bei Mord, Raub und Plünderung nicht ein.[5] Verletzten wird der Zugang zu Krankenhäusern verwehrt. Zu Tausenden eilen die Menschen in UN-Gebiet oder versuchen, Schutz bei der Polizei zu finden. In Dili eröffneten Milizen einer niederländischen Journalistin zufolge das Feuer auf rund 1500 Flüchtlinge, darunter etwa 200 Säuglinge und Kleinkinder, wiederum griff die Polizei nicht ein.[6]
Wie 1994 in Ruanda droht sich nun, unsichtbar für die Medien, ein verhinderbarer Massenmord abzuspielen. "Hier vollzieht sich eine Tragödie unter den Augen der UN", so der timoresische Exilpolitiker und Friedensnobelpreisträger Jose Ramos-Horta.[7] Joao Carrascalao von der australischen Vertretung des timoresischen Widerstandsrates sprach von einem "lange vorbereiteten Aktionsplan", dessen Ziel es sei, nach außen den Eindruck eines Bürgerkrieges zu erwecken, während in Wahrheit Befürworter der Unabhängigkeit von jahrelang vom indonesischen Militär trainierten Milizen massakriert werden.[8] Tatsächlich war bereits in einigen Medien von der "Verhinderung eines Bürgerkrieges" die Rede.
Indonesiens Außenminister Alatas machte die UN für die Verschärfung der Situation verantwortlich. Im Timor-Vertrag vom 5. Mai habe sie sich verpflichtet, die Sicherheit in Osttimor zu gewährleisten.[9] Tatsächlich zögert UN-Generalsekretär Kofi Annan ein Eingreifen hinaus: Noch am 5.9., "an der Grenze zu Gesetzlosigkeit und Anarchie", so eine epd-Überschrift, sprach er sich für eine UN-Truppe zu einem späteren Zeitpunkt aus und forderte statt dessen Indonesien û ohne Druckmittel û zum Eingreifen auf.[10] Doch bereits in den nächsten Tagen könnten sich die Massaker vollziehen.
Wieder sei an den Fall Ruanda erinnert. Rund 800.000 Tutsi wurden 1994 von Hutu-Milizen massakriert, unter den Augen der Weltöffentlichkeit. 1998 beschuldigten Überlebende des Genozids den damaligen Chef der UN-Friedenstruppen, Kofi Annan, für das Morden mitverantwortlich zu sein.[11] Annan hatte zu Beginn der Massaker einen Großteil seiner Truppen abgezogen û ein offensichtlicher Akt unterlassener Hilfestellung, so die Überlebenden. Wieder scheint Annan nun einem weiteren Massenmord vergleichbarer Größenordnung tatenlos zuschauen zu wollen.
Laut einer CNN-Umfrage vom 4.9.99 befürwortet in den USA eine deutliche Mehrheit (77 %) ein Eingreifen im Osttimorkonflikt. Dabei ist eine Friedenstruppe nicht die einzige Lösung. Human Rights Watch ist der Meinung, daß es dafür schon zu spät ist und statt dessen jegliche ökonomische Hilfe für Indonesien gestoppt werden muß, bis die indonesischen Truppen eingreifen. "Es ist zu spät für eine internationale Truppe. Das Schlachten passiert jetzt", so Sidney Jones von HRW Asia.[12] Zweifellos ist eine Doppelstrategie die beste Lösung. Doch die Medien, selbst CNN, spielen die Bedeutung herunter, und am 5.9. widmete die Tagesschau dem Thema noch ganze 30 Sekunden. Lediglich die Europäische Union forderte am 4.9.99 ein schnelles Handeln der internationalen Gemeinschaft. Doch bislang scheint nichts zu geschehen.
Nur internationale Proteste können offenbar die Aufmerksamkeit der Medien wecken und ein Eingreifen der Politik herbeiführen. Lassen Sie nicht zu, daß Männer, Frauen und Kinder zu Hunderttausenden umgebracht werden. Geben Sie diese Meldung û gerne auch gekürzt, wenn nicht sinnentstellt û weiter, organisieren Sie Demonstrationen, verabschieden Sie Resolutionen und starten Sie Petitionen. Erstellen Sie Webseiten und schicken Sie Briefe an Prominente, Politiker und Presseorgane. Die nächsten Tage sind entscheidend. Ursprünglich sollte das Ergebnis der Auszählung erst am 7.9.99 bekanntgegeben werden.[13] Dies dürfte also auch der frühestmögliche Starttermin für den Völkermord sein. Jeder Bürger, der sich nicht in 20 Jahren vorhalten lassen will, nichts getan zu haben, ist zum sofortigen Handeln aufgefordert.
[1] Microsoft Encarta 1998
[2] Human Rights Watch, 3.9.99, http://www.hrw.org/press/1999/sep/timor0903.htm
[3] Ebenda
[4] AP, 5.9.99 sowie Tagesschau-Webserver (http://www.tagesschau.de/archiv/1999/09/02/aktuell/osttimor/hp-osttimor.hml)
[5] Tagesschau-Webserver (http://www.tagesschau.de/archiv/1999/09/04/aktuell/meldungen/Ost-Timor.html ), AP 5.9.99
[6] AP, 5.9.99
[7] Tagesschau-Webserver (http://www.tagesschau.de/archiv/1999/09/04/aktuell/meldungen/Ost-Timor.html )
[8] In einer E-Mail an Mother Jones vom 3.9.99
[9] Tagesschau-Webserver (http://www.tagesschau.de/archiv/1999/09/04/aktuell/meldungen/Ost-Timor.html )
[10] epd, 5.9.99
[11] Reuters, 8.5.98
[12] Human Rights Watch, 3.9.99, http://www.hrw.org/press/1999/sep/timor0903.htm
[13] AFP, 3.9.99
Ursprünglich erstellt am 5.9.1999 von Erik Möller für Der Humanist (http://www.humanist.de). Die uneingeschränkte Verbreitung ist erwünscht, bis der Inhalt obsolet ist.
Der Humanist - www.humanist.de Ein zeitgeistkritisches Internetmagazin