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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Heftige soziale Unruhen in Tunesien und Marokko: Tote im Phosphatrevier von Gafsa und in Sidi Ifni Beinahe zeitgleich kam es am vergangenen Freitag und am Wochenende in "peripheren" Gebieten Tunesiens und Marokkos zu heftigen sozialen Unruhen. In beiden Fällen gab es (mutmaßlich) Tote. Und in beiden Fällen steht die Arbeitslosigkeit, darunter jene von Hochschulabgängern - der inzwischen in diesen Ländern zum eigenen Begriff gewordenen ,chômeurs diplômés' (Erwerblosen mit Universitätsabschluss) -, und die Perspektivlosigkeit von weiten Teilen der Jugend im Hintergrund.
Heute kommt der Reichtum der - durch die Zentralgewalt extrem vernachlässigten - Region, in Gestalt der Phosphatvorkommen, der örtlichen Bevölkerung so gut wie nicht zugute. (Das in Paris angesiedelte "Unterstützerkomitee für die Einwohner der Bergbauregion von Gafsa" schreibt dazu in einem Flugblatt vom 1. Mai 2008: "Paradoxerweise kommt dieser Reichtum der örtlichen Bevölkerung, die im Elend lebt, nicht zu nutze." Nun kann man dies in der real existierenden kapitalistischen Welt auch gar nicht "paradox" finden, sondern der Auffassung sein, dass es eine herrschende Logik sehr originalgetreu widerspiegelt...) Die Arbeitslosigkeit beträgt regional (laut offiziellen Angaben) 30 Prozent, das ist doppelt so hoch wie der nationale Durchschnitt. Das angebliche tunesische "Wirtschaftswunder", das vor dem Hintergrund des Freihandels mit der Europäischen Union - seit dem Januar 2008 ist ein Abkommen zum freien Warenverkehr bei Industriegütern in Kraft - überwiegend an der Ansiedlung bestimmter ausgelagerter Produktions- und Dienstleistungszweige hängt, kommt hier nicht an. Um von diesem angeblichen "Wirtschaftswunder" ein Minimum zu profitieren, muss man in einer der Küstenstädte leben und entweder im Tourismusgewerbe oder in einer der an den Export in Richtung angebundenen Wirtschaftsbranchen (Call Centers, Automobilzulieferer) arbeiten. Oft freilich zu infamen Löhnen. Dass es in Tunesien dennoch kaum - für die Touristen - sichtbares Elend gibt, v.a. im Vergleich mit Ländern der Region wie besonders Marokko, hängt damit zusammen, dass die Tuneser/innen auf Kredit leben und Autos oder Wohnungen auf Pump kaufen können. Im Gegenzug sind immer mehr unter ihnen auf lange Zeit hin abhängig und überschuldet. Die Staatsmacht behauptet, "80 Prozent" der Tunesier/innen gehörten "zur Mittelschicht", und versuchen jegliche soziale Konflikte in einem vermeintlich widerspruchsfreien - und von harter politischer Repression gegen Menschenrechtler/innen und Journalisten, zur Abschreckung für "die Masse", begleiteten - autoritär-repressiven und "ideologiefreien" "Wohlstands"klima zu ersticken. Nun fühlen sich die Einwohner/innen der (Phosphat-)Bergbauregion von diesem sehr relativen "Reichtum" abgehängt. Zumal die Automatisierung und Mechanisierung der Bergwerke dafür gesorgt hat, dass immer weniger Arbeitsplätze dort angeboten werden: Statt früher 14.000 Personen (zu Anfang der achtziger Jahre) arbeiten dort heute nur noch 5.000. Doch Anfang Januar dieses Jahres wurden erstmals nach langen Jahren wieder 81 Stellen im Phosphatbergbau ausgeschrieben, um alters- und rentenbedingte Abgänge von Arbeitskräften zu ersetzen. Über 1.000 Kandidaten bewarben sich auf die Arbeitsplätze. Doch als am 7. Januar die Liste der "Gewinner" ausgeschrieben wurde, kam es zur sozialen Explosion, und die lang angestaute Wut und Frustration entluden sich. Noch am selben Tag kam es in den drei wichtigsten Städten des Bergbaureviers, in Redeyef, Oum Laârayes und M'Dhilla (in 20, 30 und 70 Kilometern Entfernung von der Regionalhauptstadt Gafsa), zu heftigen Protesten. Jeweils mehrere hundert Arbeitslose, die durch die örtliche Bevölkerung unterstützt wurden, griffen zu unterschiedlichen Protestformen: Demonstrationen und Kundgebungen, Besetzung von Räumlichkeiten des einzigen nennenswerten Arbeitgebers der Region - der Bergbaufirma Compagnie des phosphates de Gafsa (CPG) -, Hungerstreiks von ,arbeitslosen Universitätsabsolventen' usw. Nach Angaben des kämpferischen Gewerkschafters Hajji Adnane, des Sprechers der Protestierenden in der Stadt Redeyef (zitiert n. ,Le Monde' vom 25. April, wo anlässlich des dreitägigen Staatsbesuchs von Präsident Nicolas Sarkozy in Tunesien von Ende April eine Hintergrundseite zur tunesischen Ökonomie erschien), hatten die Protestler "eine Bestätigung für die zuvor ohnehin zirkulierenden Gerüchte erhalten: Die Neueinstellungen wurden durch Korruption und Vetternwirtschaft zugeteilt."
Aber vor Ort ging der Protest ungebrochen weiter. Die Bergarbeiter traten in den Streik, und ihre Familien - und insbesondere die Frauen - demonstrierten immer wieder auf den Straßen. In Redeyef, wo oppositionelle Gewerkschafter (unter ihnen Hajji Adnane) die Bewegung strukturierten, nahmen Tausende von Einwohner/innen an Veranstaltungen und Demonstrationen teil. In Oum Laârayes errichteten die Witwen von Bergarbeitern, die infolge von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten gestorben waren, und Behinderte zusammen Zelte, in denen sie mehrere Wochen hindurch campierten. Dadurch blockierten sie den Zugang zu den Phosphatminen auf dem Schienenweg. Die Behörden versuchten zuerst, die Proteste "auszusitzen". Aber dann kam es, in mehreren Schritten, zur Eskalation. In der Nacht vom 6. zum 7. April dieses Jahres verhaftete die Polizei rund 30 oppositionelle Gewerkschafter und Jugendliche in Redeyef, unter ihnen den Sprecher Hajji Adnane, und steckte sie ins Gefängnis. Die Polizei umstellte die Bergwerke. Aber daraufhin setzte ein Anschwellen der Massenproteste an, und "ein regelrechtes Menschenmeer" (so das Flugblatt des in Paris ansässigen Unterstützungskomitees zum 01. 05. 2008) strömte auf die Straßen und Plätze. Am Abend des 10. April wurden sämtliche Festgenommenen aus der Haft freigelassen.
Am 2. Juni dieses Jahres Nabil Chagra, nachdem er bei einer Demonstration junger Arbeitsloser von einem Auto erfasst worden war. Am vergangenen Freitag (05. Juni) nun begann die Polizei im Phosphatrevier das Feuer zu eröffnen. Sie schoss in Redeyef in die protestierende Menge und tötete den 22jährigen Hafnaoui Ben Ridha Hafnaoui Maghzaoui, in der Nähe seiner Wohnung. 26 weitere Personen wurden verletzt. Ahmed Ahmadi Baccouch, ein weiteres Opfer, wurde mit zwei Kugeln im Rücken ins Regionalkrankenhaus von Gafsa transportiert. Die Polizei schoss ferner Tränengasgranaten ab, bis ins Innere von Häusern hinein, und setzte Wasserwerfer ein. Zugleich bezog auch die Armee Aufstellung. Wiederholung am Samstag in Marokko ?
Örtliche Initiativen und Vereinigungen, wie das Marokkanische Zentrum für Menschenrechte (CMDH), sprachen daraufhin von "mindestens zwei Toten". Der Korrespondentenbericht des arabischsprachigen Fernsehsenders El-Jazeera (dessen Zentrale in Qatar ansässig ist) sprach seinerseits von "zwei bis acht Getöteten", und auf Radio Africa Numéro 1 war am Montag früh von mutmaßlich fünf Toten die Rede. Hingegen dementieren die marokkanischen Behörden energisch, dass es Tote gab. Sie sprechen ihrerseits davon, dass es 44 Verletzte, "unter ihnen 27 verletzte Polizisten", sowie 20 Verhaftungen gegeben habe. Daraufhin haben die marokkanischen Behörden nun Vertreter des Fernsehsenders El-Jazeera, den sie der "Leichtfertigkeit bei der Sammlung und Verbreitung von Informationen" vorwerfen, zur Aussprache vorgeladen und Erklärungen von ihnen gefordert. Am Samstag wurde der Leiter seines marokkanischen Büros, auf Anordnung der Staatsanwaltschaft in der Hauptstadt Rabat hin, durch die Kriminalpolizei vernommen. (Vgl. den Artikel in der Le Monde Fortsetzung folgt garantiert... Bernard Schmid, 10.06.2008 (Bilder von Attac Marokko) |