Am 19. Oktober brachte die Linkskoalition aus Sozialisten, Kommunisten und Grünen den Gesetzesentwurf zur 35-Stunde-Woche mit einer großen Mehrheit durch die Nationalversammlung. Damit hat der Senat als zweite Volkskammer faktisch keine Chance mehr, das Gesetz zu Fall zu bringen. Kommunisten und Grünen gelang es in letzter Minute, den Sozialisten noch einige Zugeständnisse abzuringen. Diese betreffen vor allem die Verteuerung der Überstunden, um diese als Kompensationsinstrument auszuschalten, und schärfere Kriterien für die Unternehmensbeihilfen. Angesichts der Ankündigung von Michelin, trotz (oder: in Erwartung?) hoher Unternehmenserträge 7.500 Stellen abzubauen, sollen staatliche Zuschüsse nun nur noch an Unternehmen gezahlt werden, die die 35-Stunde-Woche installieren, ohne gleichzeitig Stellenabbau zu betreiben. Unklar bleibt weiterhin, wie die staatlichen Zuschüsse finanziert werden sollen, nachdem die Unternehmerverbände den Austritt aus der Sozialversicherung für den Fall ankündigen, dass die Arbeitslosenversicherung zur Finanzierung herbeigezogen wird.
Seit die Regierung Jospin direkt nach ihrem Amtsantritt die Einführung der 35-Stunden-Woche zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit auf einen vorderen Platz innerhalb ihres Programmes gesetzt hatte, ziehen sich die Probleme ihrer Umsetzung wie ein roter Faden durch die Tagespolitik. Dies betraf zum einen die Unklarheit darüber, ob und inweiweit An- und Umkleidepausen sowie Essens- und kleinere Erholpausen zur Arbeitszeit zählen sollten oder nicht. Während damals die Unternehmerorganisationen den Dirigismus der Regierung beklagten und die Finanzierung des Projekts für nicht realisierbar hielten, ging für viele Gewerkschaften und linke Parteien die Form der Umsetzung in die falsche Richtung: Die CGT kritisierte vor allem die indirekten Lohnabschläge für die Arbeitszeitverkürzung, die sich aufgrund der Selbstverpflichtung aller Gewerkschaften zu mäßigen Lohnforderungen innerhalb der nächsten drei Jahre ergaben. In der "Groupe de 10", einem Zusammenschluss kleinerer linker Basisgewerkschaften (u.a. SUD, Tous Ensemble und die Lehrergewerkschaft FSU), gab es darüber hinaus große Bedenken gegen die gleichzeitig ermöglichten Arbeitszeitflexibilisierungen (z.B. Jahresarbeitszeitmodelle), die im ersten Gesetz vorgesehene Kürzung der Überstundenzuschläge und den Verzicht auf die Einbeziehung des Öffentlichen Dienstes in die 35-Stunden-Woche. Der Protest der kleinen Gewerkschaften gegen diese Politik wird umso verständlicher, wenn man bedenkt, dass ihre Mitglieder mehrheitlich im Öffentlichen Dienst arbeiten. Damit wird aber auch die Chance vertan, Präzedenzfälle für Arbeitszeitverkürzungen in einem Bereich zu schaffen, in dem die Kompensation von Arbeitszeitverkürzungen durch Neueinstellungen besonders gut zu realisieren wären.
In der Tendenz zeichnet sich wenn auch leicht abgeschwächt eine Fortsetzung der Politik von Arbeitsministerin Martine Aubry ab, die den Unternehmen immer noch zahlreiche Ausnahmeklauseln, Arbeitszeitflexibilisierungen, Sonderkonditionen sowie finanzielle Zusagen gewährt (s. Kasten). Erste Pilotabschlüsse in größeren Unternehmen (wie z.B. bei der Bahn, s. express 9/99) zeigen, dass der Anspruch, qua Arbeitszeitverkürzung neue Stellen zu schaffen, bei weitem nicht erreicht wird. Einer der umstrittensten Punkte innerhalb der gegenwärtigen Diskussion ist die Frage, ob überhaupt von einer tatsächlichen Arbeitszeit von 35 Stunden pro Woche ausgegangen werden kann. Schon in der Vergangenheit bestanden enorme Unterschiede zwischen der Regelarbeitszeit und der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit. Eine Reduzierung der Regelarbeitszeit auf 35 Stunden ist für die Unternehmen insbesondere im Hinblick auf das von ihnen geforderte Jahresarbeitszeitmodell attraktiv, allerdings nur dann, wenn sie ihrerseits durchsetzen, dass die Überstundenzuschläge minmiert werden.
Die sogenannte "Gauche plurielle" an der Regierung, die auch kleinere trotzkistische Parteien und die kommunistische PCF sowie die Grünen und die LR (Radikalliberale) umfasst, ist sich über den Kurs bei der Umsetzung der 35-Stunden-Woche nicht einig und steht überdies unter dem Druck ihrer außerparlamentarischen UnterstützerInnen und einiger sozialer Bewegungen.
Die PCF konnte bislang neben der Sozialistischen Partei (PS) wenig Profil entwickeln. Obwohl sie drei MinisterInnen in der Regierung stellt, versucht sie daher derzeit, sich von oben an die Spitze einer von ihr heraufbeschworenen sozialen Bewegung zu setzen. In diesem Zusammenhang steht auch der Aktionstag am 16. Oktober, mit dem die PS unter Druck gesetzt werden sollte, die Verhandlungen mit den Unternehmerverbänden schärfer zu führen. Obwohl in den letzten Jahren der politische Kurs der reformkommunistisch orientierten CGT immer häufiger von dem der PCF abwich, war es doch ein politischer Eklat, als CGT-Chef Bernard Thibault verkündete, seine Gewerkschaft wolle diesem Aufruf nicht folgen. Auch die anderen Linksparteien innerhalb der Regierung sprachen sich mehrheitlich gegen eine Teilnahme an der Demonstration aus. Daraufhin sah sich PCF-Chef Robert Hue gezwungen, die Stoßrichtung der Demonstration zu ändern. Man wolle so die "Klarstellung" nicht gegen Jospin und dessen Partei, sondern für die gemeinsam beschlossene Politik kämpfen. Unter diesen Umständen waren nun auch Einzelvertreter anderer Parteien aus dem Regierungslager zur Teilnahme an der Demonstration bereit. Ca. 50.000 TeilnehmerInnen (die Zahlen schwanken zwischen 32.000 seitens der Polizei und 70.000 seitens der PCF) zogen schließlich am 16. Oktober durch die Straßen von Paris. Fast gleichzeitig protestierten knapp 1.000 Leute aus VertreterInnen der "Groupe de 10" und führenden Gruppen aus den sozialen Bewegungen (u.a. Verband der Erwerbsloseninitiativen: AC!, Mouvement Nationale des Chomeurs et Precairs MNCP, Frauenorganisation für Gleichberechtigung Droit Devant sowie Initiative für die Beschlagnahmung leerstehenden Wohnraums Droit au Logement/Recht auf Wohnung) gegen die Politik der Regierung Jospin, gegen die Einführung der 35-Stunden-Woche in der vorgeschlagenen Form, insbesondere in Kombination mit Arbeitszeitflexibilisierungsmodellen, sowie für die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes (SMIC) und die Anhebung des Sozialhilfesatzes (RMI).
Die oben genannten Zahlen sagen einiges über den Zustand und die gegenwärtige Stärke der sozialen Bewegungen aus. Ein beträchtlicher Teil glaubt ähnlich wie dies auch in Deutschland und anderen Ländern der Fall ist an die "Magie" des Regierungswechsels, daran, dass nicht nur ein Personalaustausch, sondern auch Politikwechsel stattgefunden habe. Im Dickicht der Regierungsbürokratie und des Pragmatismus der Verhandlungen, und nicht zuletzt auch aufgrund einer diffusen Loyalität, einer linken Regierung nicht noch zusätzliche Schwierigkeiten machen zu wollen, ist zwar nicht der Elan der sozialen Bewegungen, dafür aber ihre Mobilisierungsfähigkeit gegenwärtig ein wenig abhanden gekommen.
1. Dem Nichtstun eine Galgenfrist
Die gesetzliche Arbeitszeit wird für Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten ab dem 1.1.2000, für alle anderen Unternehmen ab dem Jahr 2002 auf 35 Wochenstunden herabgesetzt. Für alle Unternehmen gilt eine zusätzliche Frist von einem Jahr, in der der Zuschlag für die 36. bis 39. Stunde anstatt der üblichen 25 Prozent nur noch 10 Prozent beträgt. Die Beibehaltung der 39-Stunden-Woche wird mit Zusatzkosten von knapp 1 Prozent der Lohnsumme also kaum sanktioniert.
2. Die Hydraulik des gesetzlichen Mindestlohns (SMIC)
Zur Sicherung der Kaufkraft von Niedriglöhnen sollte der SMIC eigentlich um 11,4 Prozent ansteigen. Doch anstatt den bisher bei 45,35 Franc liegenden Stundenlohn zu erhöhen, hat die Regierung eine entsprechende staatliche Ausgleichszahlung beschlossen. Dieser "differenzielle Zusatzlohn" wird gezahlt, bis die schrittweise Anhebung des SMIC die 11,4 Prozent erreicht hat. Die Regelung gilt nur für Neueinstellungen, deren "Arbeitsplatzbeschreibung mit dem Profil bestehender Arbeitsplätze übereinstimmt". Neu geschaffene Arbeitsplätze könnten sich dieser Vergleichbarkeit entziehen, die entsprechenden Löhne also unter dem Niveau des SMIC liegen.
3. Billigere Überstunden
Die gesetzlich zugelassene Höchstzahl an Überstunden liegt unverändert bei 130 Stunden. Hätte die Regierung das derzeitige Verhältnis von Normalarbeitszeit und Überstunden beibehalten, so hätte sie die Zahl letzterer auf 117 herabsetzen müssen. Anstatt den Anteil jener Überstunden zu vergrößern, die mit einem Aufschlag von 50 Prozent entlohnt werden, vergrößerte die Regierung den Anteil der 25-prozentigen Überstunden. Dieselbe Überstundenmenge wird die Arbeitgeber billiger zu stehen kommen als bisher.
4. Begrenzung der Jahresarbeitszeit und Flexibilisierung
Die Jahresarbeitszeit darf 1.600 Stunden nicht überschreiten. Unter Berücksichtigung des fünf-wöchigen bezahlten Urlaubs und der zwölf gesetzlichen Feiertage entspricht dies einer Wochenarbeitszeit von 35 Stunden. Die Bestimmungen zur Anpassungsflexibilität, die Schwankungen der wöchentlichen Arbeitszeit (bis zu 48 Stunden) erlauben, werden vereinfacht. Als Fortschritt ist zu verbuchen, dass die entsprechenden Änderungen mindestens sieben Tage vorher angekündigt werden müssen.
5. Kaum Verbesserungen bei der Teilzeit
Der Gesetzesentwurf schreibt die bestehenden Bestimmungen zur Teilzeitarbeit fort. Leichte Veränderungen gibt es nur bei der Vereinbarung von Jahresarbeitszeiten. Hier wird eine mehrheitlich beschlossene Betriebsvereinbarung nötig, um die Modalitäten und Grenzen der Arbeitszeitschwankungen festzulegen. Arbeitnehmer mit Kindern können zu bestimmten Zeiten, wie etwa während der Schulferien, eine individuelle Ausgestaltung ihrer Arbeitszeit verlangen.
6. Fortbildung während der Erholungszeit
Der Gesetzesentwurf unterscheidet zwischen Trainingsprogrammen, die auf Grund sich wandelnder Arbeitsplatzprofile nötig werden, und Fortbildungsmaßnahmen, die der persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung des Arbeitnehmers dienen. Erstere fallen in die Arbeitszeit, für letztere muss der Arbeitnehmer seine Freizeit aufwenden, wobei die Kosten in beiden Fällen der Arbeitgeber trägt.
7. Führungskräfte kommen schlecht weg
Die Führungskräfte finden Eingang ins Arbeitsrecht. Doch die allgemeinen Regeln gelten nur für diejenigen, die in eine Arbeitsgruppe eingebunden sind. Alle anderen haben unter dem Vorwand, eine Feststellung ihrer effektiven Arbeitszeit sei äußerst schwierig nur auf fünf zusätzliche Erholungstage pro Jahr Anspruch. Abgesehen von eventuell vorteilhafteren Branchen- und Betriebsvereinbarungen liegt der gesetzliche Urlaubsanspruch damit nur bei 21 oder 22 Tagen im Jahr.
8. Unternehmensbeihilfen bei Niedriglöhnen
Bei den Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung wird ein neues System gestraffter Nachlässe wirksam. Bei Zahlung des SMIC liegt die jährliche Beihilfe je Arbeitnehmer bei 21.000 Francs, bis zum 1,3-fachen des SMIC bei 11.900 Francs und ab dem 1,8-fachen des SMIC bei 4.000 Francs. Die Kumulation mit anderen Beihilfen ist zulässig.
9. Die Vereinbarungen bedürfen der demokratischen Zustimmung
Eine positive Neuerung ist, dass Betriebs- oder Branchenvereinbarungen nicht mehr durchgedrückt werden können, wenn die zustimmenden Gewerkschaften nur eine Minderheit von Beschäftigten repräsentieren. Erhielten die zustimmenden Gewerkschaften bei den letztenWahlen weniger als die Hälfte der Stimmen, muss die Vereinbarung den Beschäftigten zur Abstimmung vorgelegt werden. Damit diese Regelung nicht zur Umgehung der Gewerkschaften missbraucht wird, sind die Voraussetzungen für die Durchführung eines Referendums aber noch genauer zu bestimmen. Das allgemeine Mandat wird beibehalten.
10. Hohe Kosten ohne Gegenleistung
Die staatlichen Beihilfen fließen sofort nach Unterzeichnung einer Vereinbarung zur 35-Stunden-Woche. Die im ersten Gesetz noch vorhandene Bindung an die Schaffung von Arbeitsplätzen findet sich im vorliegenden Gesetzesentwurf nicht mehr. Die Gesamtkosten sollen sich auf rund 120 Milliarden Francs jährlich belaufen. Finanziert werden die Ausgaben durch eine Gewinnsteuer, durch Einführung einer Ökosteuer sowie durch Zuschüsse aus der Arbeitslosenversicherung (obwohl jetzt schon über die Hälfte aller Arbeitslosen keinerlei Unterstützung erhält). Die bestehenden Unternehmensbeihilfen Anreize zur Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen, Prämien für die Einstellung von Jugendlichen, duale Ausbildungsverträge usw. , die sich dadurch auszeichnen, dass sie mit jährlich rund 50 Milliarden Francs hohe Kosten verursachen und nie auf ihre Berechtigung hin überprüft werden, bleiben in Kraft.
(Quelle: Martine Bulard, Le Monde Diplomatique, 9/99 Übersetzung: Bodo Schulze)
Dieser Artikel ist erschienen in: express Nr. 10/1999
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