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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Italien: Hausbesetzung bei Armut legal Der Oberste Gerichtshof beschließt Straffreiheit von Besetzungen bei erwiesener Armut. Aufschrei der Rechten. Von Rosso Vincenzo* Der folgende Artikel erschien in der „jungen Welt“ vom 2.10.2007 in gekürzter Version. Hier der komplette Artikel zu einem höchstrichterlichen Urteil in Italien, dass – gerade in Zeiten der Hartz-Gesetze – auch in der BRD von gesteigertem Interesse sein sollte: Wolfgang Schäuble und der wachsenden Zahl italienischer „Law and order“-Politiker dürften die Haare zu Berge gestanden haben als die Nachricht bekannt wurde: Der Oberste Gerichtshof Italiens verkündete vor wenigen Tagen, die Besetzung von Wohnraum sei bei erwiesener Armut keine Straftat. Während der Großteil der regierenden Mitte-Linken mitsamt den „Null Toleranz“-Bürgermeistern von Bologna und Florenz, Cofferati und Domenici, zu dem Urteil schwieg, sieht das Berlusconi-Lager die Zivilisation in Gefahr. Da 14,7% der Italiener offiziell als arm gelten und massiver Wohnungsmangel herrscht, könnte das Urteil weit reichende Auswirkungen haben. „Es gibt ein Recht auf Wohnung. Wenn man wirklich arm ist, ist die Besetzung einer Unterkunft keine Straftat.“ Der italienische Kassationsgerichtshof zählt das Recht auf Wohnraum „zu den primären Gütern des Menschen“, die (genau wie Leben und Gesundheit) zu den vom Artikel 2 der Verfassung geschützten Grundrechten gezählt werden müssen. In dem am 26.September veröffentlichten Urteil Nr. 35 580 verkündete die Zweite Kammer des Obersten Gerichts Italiens, dass die Besetzung einer Sozialwohnung durch einen Bedürftigen „im Zustand der Not“ als gerechtfertigt angesehen werden kann und nicht zu einer strafrechtlichen Verurteilung führt. Damit hob es die Verurteilung einer allein stehenden 39jährigen Frau und Mutter eines Kindes auf, die von einem Berufungsgericht in Rom wegen der Besetzung einer zum Fundus des öffentlichen Istituto Autonomo Case Popolari (IACP) gehörenden Wohnung zu 600 Euro Geldstrafe verurteilt worden war. In ihrem Widerspruch hatte Giuseppa D.A. beklagt, dass die Wohnungsbehörde „keinerlei spezifische Prüfung ihrer Notlage“ vorgenommen habe, die so gravierend sei, dass sie auf dem freien Wohnungsmarkt keine Unterkunft finden könne. Außerdem sei nicht berücksichtigt worden, dass sie in „einer Notlage und unter Bezug auf das Recht auf Wohnung und den Schutz ihrer und der Gesundheit des Kindes“ gehandelt habe. Der Kassationsgerichtshof urteilte nun, dass „zum Begriff des schweren Schadens für die Person nicht nur die Verletzung des Lebens oder der physischen Integrität zählt, sondern auch jene Situationen, die einen Angriff auf die Grundrechte darstellen“. Daher gehörten zu dem hier angesprochenen Problemkreis „auch jene Situationen, die nur indirekt die physische Integrität bedrohen, da sie sich auf die Sphäre der mit der Persönlichkeit verbundenen primären Güter beziehen. Darunter ist das Recht auf Wohnung, weil der Anspruch auf eine Wohnung zu den primären Bedürfnissen der Person zählt“. Das Berufungsgericht in Rom muss den Fall nun erneut verhandeln. Darüber hinaus erkennt ein vom Bezirksbürgermeister des 10.Stadtbezirks von Rom und ehemaligen Chefredakteur der kommunistischen Tageszeitung „il manifesto“, Sandro Medici, angekündigtes zweites Urteil desselben Gerichtshofs „den lokalen Verwaltungen das volle Recht zu, leer stehende Wohnungen zu beschlagnahmen, um sie zwangsgeräumten Familien zur Verfügung zu stellen“. Der Kreis der möglichen Nutznießer dieser gelockerten Rechtsauffassung in punkto Besetzung und Beschlagnahmung von Wohnraum ist enorm. In einer jüngst veröffentlichten Untersuchung kam das italienische statistische Bundesamt ISTAT zu dem Ergebnis, dass in Italien 14,7% der Haushalte nur unter Schwierigkeiten das Monatsende erreichen. 9% der Haushalte seien mit der Bezahlung ihrer Rechnungen im Rückstand und 10,9% hätten nicht das Geld, um ihre Wohnung im Herbst und Winter angemessen zu heizen. Gar 28,9% der Haushalte seien nicht in der Lage das Geld für unvorhergesehene Kosten aufzubringen. In Süditalien und Sardinien sowie bei Familien mit drei oder mehr Kindern sind die entsprechenden Werte fast doppelt so hoch („la Repubblica“ 27.9.2007). Ein ganz akutes Problem bilden die Zwangsräumungen, von denen aktuell 10.000 bis 15.000 Familien betroffen sind. Der von der Prodi-Regierung verkündete vorübergehende Räumungsstopp endet am 14.Oktober. Ob es der aus Rifondazione Comunista, dem PdCI, der Demokratischen Linken (SD) und den Grünen bestehenden Regierungslinken gelingt, eine Verlängerung durchzusetzen, ist ebenso ungewiss wie die Zukunft des sozialen Wohnungsbaus. Wie der linke Basisgewerkschafter und bekannte Häuserkampf-Aktivist, Angelo Fascetti (RdB / ASIA), in einem Interview für „il manifesto“ erklärte, ist der Anteil der Sozialwohnungen in Italien auf 3% des gesamten Wohnraums gesunken. Im EU-Durchschnitt beträgt er 20%. 500.000 Familien benötigten derzeit eine Sozialwohnung. Die dafür nötigen 3 Milliarden Euro seien von der Prodi-Regierung allerdings nicht zu erwarten. Auch aufgrund dieser sozialen Situation führte das Urteil des Obersten Gerichtshofs in den letzten Tagen zu heftigen Reaktionen in Politik und Gesellschaft. Während der Vorsitzende des Mieterverbandes SUNIA, Luigi Pallotta, von der Regierung sofortige Beihilfen für diejenigen Familien forderte, die ihre Mieten nicht mehr bezahlen können, blieb die Mitte-Links-Union auffallend wortkarg. Nur die linke Christdemokratin und Familienministerin Rosy Bindi erklärte in sehr allgemeinen Worten, dass sich die Regierung der Probleme bewusst sei und bei ihrer Wohnungspolitik berücksichtigen werde. Sozialminister Paolo Ferrero (Rifondazione Comunista) fand etwas deutlichere Worte und forderte, dass der kommende Haushalt „diesem äußerst bedeutsamen Urteil Rechnung tragen und die entsprechenden Mittel bereitstellen muss“. Aus dem Urteil gehe „eindeutig hervor, dass das primäre Recht auf Wohnung dem Recht auf Eigentum mit Sicherheit nicht untergeordnet werden kann“. Ganz anders die Reaktion der Rechten. Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Berlusconis Forza Italia, Isabella Bertolini, verkündete: „Ein Haus oder eine Wohnung illegal zu besetzen, ist es schweres Verbrechen. Dieses Urteil schafft einen äußerst gefährlichen Präzedenzfall. Es ist eine Anstiftung zur Illegalität.“ Die rechtspopulistische Lega Nord sieht bereits eine Rückkehr zu den militanten Umverteilungsaktionen der 70er Jahre und meint, nun seien wir wieder „bei den proletarischen Enteignungen“. Für die rassistische Ergänzung sorgte die Forza Italia-Politikerin und Dezernentin der Stadt Mailand, Tiziana Maiolo. Ihrer Meinung nach „werden die Sinti und Roma jetzt nichts anderes mehr tun als Häuser zu besetzen“. Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern: Rosso Der Name Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe: http://www.freewebtown.com/antifauni/ Rubrik „Aktuelles“). Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen per Mail an: negroamaro@mymail.ch |