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Updated: 18.12.2012 15:51
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Die lange Auseinandersetzung im öffentlichen Dienst - lenkt Berlusconi ein?

Seit fast anderthalb Jahren ist der öffentliche Dienst Italiens im "tariflosen Zustand" - und um diesen Tarif spitzt sich die Auseinandersetzung so weit zu, dass die Regierung Berlusconi Anfang Mai 2005 erste Anzeichen eines "Nachgebens" zeigte. Über die Situation vor und nach Streik und Demonstrationen im März 2005 und die Reaktion der Regierung Anfang Mai eine Zusammenstellung von Materialien in deutscher Übersetzung der Antifa-AG der Uni Hannover und Gewerkschaftsforum Hannover.

1.Interview mit Carlo Podda (CGIL) vor dem Streik

Vorbermekungen der ÜbersetzerInnen:

Nicht nur in der Bundesrepublik findet derzeit eine harte Tarifauseinandersetzung im Öffentlichen Dienst (gegen die Versuche der Bundesländer eine Verlängerung der Arbeitszeit durchzusetzen etc.) statt. Auch im Öffentlichen Dienst Italiens (einschließlich des öffentlichen Gesundheitswesens) weht den Beschäftigten ein ziemlich rauer Wind entgegen. Dort ist der Tarifvertrag mittlerweile seit 16 Monaten abgelaufen, trotzdem hat die Berlusconi-Regierung bis zu den Regionalwahlen Anfang April alle gewerkschaftlichen Forderungen an sich abprallen lassen und es – wie schon bei anderen Gelegenheiten (Renten, Haushaltspolitik etc.) – nicht einmal für nötig befunden, halbwegs ernsthafte Gespräche mit den Gewerkschaften zu führen. Selbst den voll auf Sozialpartnerschaft ausgerichteten Bünden CISL (christdemokratisch) und UIL (ehemals PSI-nah, heute ihrem Selbstverständnis zufolge eine „Bürgergewerkschaft“) wurde insbesondere von Berlusconis Partei Forza Italia und der rechtspopulistischen Lega Nord diese „Partnerschaft“ einseitig aufgekündigt, während die ehemaligen Neofaschisten der Alleanza Nazionale (AN) und die rechten Christdemokraten der UDC mehrheitlich für einen softeren Kurs eintreten, sich damit bis zur schweren Niederlage der Rechtsbündnisses bei den Regionalwahlen, allerdings nicht durchsetzen konnten. Zur Lage kurz vor dem landesweiten Streik Mitte März befragte PAOLO ANDRUCCIOLI für die linksunabhängige italienische Tageszeitung „il manifesto“ vom 17.3.2005 den Chef der Branchengewerkschaft des Gewerkschaftsbundes CGIL, Carlo Podda.

Carlo Podda (CGIL): „Ich erkläre Euch die kleinen Tricks der Regierung bei der Erneuerung des Tarifvertrages“

Carlo Podda (Generalsekretär der CGIL-Branchengewerkschaft Funzione Pubblica – FP) war einer der ersten Gewerkschafter, die am Dienstagabend den Streik und die Demonstration, die morgen stattfinden werden, bestätigten. Wir baten ihn, den Krimi der Zahlen in Sachen Lohnerhöhungen im Öffentlichen Dienst und die politische Auseinandersetzung zu erklären, die innerhalb der Regierung stattfinden.

Podda, was ist im Palazzo Chigi <dem italienischen Regierungssitz> (<> sind Anmerkung der Üb.) geschehen? Gab es eine Intervention Berlusconis, um alles abzukühlen?

„Bei dem Gipfeltreffen gestern Abend war kein Minister von Alleanza Nazionale (AN) vertreten, während Brunetta <Forza Italia> und Maroni <Lega Nord>, die die harte Linie gegen die Staatsbeschäftigten repräsentieren, anwesend waren. Ehrlich gesagt haben wir den Grund für die Einberufung <dieser Runde> wenige Stunden vor dem Streik und ohne einen wirklich neuen Vorschlag nicht verstanden. Um sich aus der Verlegenheit zu befreien, haben sie uns technische Verhandlungen vorgeschlagen, was im Allgemeinen dazu dient, bei den Verhandlungen Zeit zu gewinnen. Wir haben jedoch keinen Bedarf an technischen Verhandlungen, sondern am Beginn echter Verhandlungen.“

Worüber kann man, angesichts der mitgeteilten Zahlen, denn verhandeln?

„Zuallererst ist der Schwindel bei den Zahlen zu klären. Die Regierung spricht von durchschnittlichen Erhöhungen um 210 Euro. Das ist allerdings eine völlig verzerrte Berechnung auf der Grundlage eines nicht existenten gewichteten Durchschnitts. Sie haben, um ein Beispiel zu geben, das Gesundheitswesen nicht mit eingerechnet. In Wahrheit müssten die im halbstaatlichen Bereich Beschäftigten, wenn man die Zahlen nimmt, die sie uns gegeben haben, viermal so hohe Lohn- und Gehaltssteigerungen bekommen wie die angegebenen, um den genannten Durchschnitt zu erreichen. Unsere Berechnungen besagen vielmehr, dass die in den Ministerien Beschäftigten in dem Zwei-Jahres-Zeitraum eine Gehaltserhöhung von 86 Euro bekämen, die Lehrer an den Schulen 89 Euro, die im halbstaatlichen Bereich Beschäftigten 103 Euro und alle Beschäftigten der lokalen Einrichtungen und Behörden 76 Euro. Das sind diejenigen, auf denen praktisch die gesamte konkrete sozialstaatliche Versorgung beruht. Urteilt selbst, ob diese Zahlen akzeptabel sind!“

Kannst Du uns, da nur von Differenzen bei den Prozentsätzen zwischen Euch und der Regierung gesprochen wurde, die Distanz in absoluten Zahlen erläutern?

„Das ist einfach. Wir fordern – nur um bei dem Beispiel der Ministeriumsangestellten zu bleiben – eine Erhöhung um 130 Euro. Die Regierung will uns davon 86 Euro gewähren.“

Es gibt jedoch – selbstverständlich – nicht nur die technischen Aspekte. Ist es nicht das Interesse der Regierung zuerst die Regionalwahlen hinter sich zu bringen?

„Zu guter letzt bekräftige ich, dass es absolut nicht stimmt, dass die Positionen nahe beieinander liegen, wie der Minister Baccini erklärt hat. Und dann denke ich, dass wir unsere Analysen aktualisieren könnten. Es stimmt, dass es einen Teil der Regierung gibt, der einen positiven Abschluss bei den Staatsangestellten in Wählerstimmen ummünzen möchte. Es gibt aber auch einen Teil, der darauf drängt, nicht abzuschließen. Es gibt einen Teil der Parlamentsmehrheit, der meint, von uns bei den Wahlen zu profitieren, wenn er gegen die ‚verhassten’ Staatsangestellten Muskeln zeigt und keinen Tarifvertrag abschließt.“

Wie kommt man da raus?

„Ich hoffe, dass die Stärke des Streiks und der Demonstration, die wir morgen in Rom machen werden, die Regierung zur Einsicht bringt. Und dass sie uns nach dem Streik andere Vorschläge machen, über die man reden kann.“

2.Bericht von der Demonstration in Rom

Vorbemerkungen der ÜbersetzerInnen

Über den von den drei großen Gewerkschaftszentralen CGIL, CISL und UIL organisierten landesweiten Streik und die zentrale Demonstration der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst Italiens für einen angemessenen Tarifvertrag berichtet die linke Tageszeitung „il manifesto“ vom 19.3.2005. Streik und Demonstration waren von der Mobilisierung her ohne Frage ein Erfolg. Dennoch ist die auch in anderen Zeitungen genannte Zahl von 200.000 Demonstranten wie so oft eine „italienische Zahl“, d.h. weit übertrieben. CGIL-Linke aus Genua, die an der Demonstration teilnahmen und sie auch zählten, um sich selbst ein Bild zu machen, kamen auf real 7.000 bis 8.000 Teilnehmer.

Erwähnt werden sollte auch, dass die kleinen linken Basisgewerkschaft des Öffentlichen Dienstes zeitgleich ebenfalls streikten, allerdings für deutlich höhere Tarifforderungen und verbunden mit einer klaren Stellungnahme gegen den Krieg und für den sofortigen Rückzug des italienischen Truppenkontingents aus dem Irak.

„Tarifvertrag sofort! Wir warten nicht länger!“

Große Demonstration in Rom. Mehr als 200.000 öffentlich Bedienstete auf der Straße, um von der Regierung die Erneuerung des Tarifvertrages zu fordern. <CISL-Generalsekretär> Pezzotta: „Die Geduld ist zu Ende.“ <CGIL-Generalsekretär> Epifani: „Wenn wir keine Antworten bekommen, wird der Kampf generalisiert.“

Von ANTONIO SCIOTTO – ROM

„Berlusconi respektiere den Pakt. Wir wollen unseren Tarifvertrag!“ „Olelè, Olelà, laß’ den Tarifvertrag sehen, mach ihn greifbar…“ Und vor allem: „Unterschreib’ ihn und stell’ die Gelder zur Verfügung!“ Pfiffe, Parolen, rote, grüne und blaue Luftballons und vielfarbige Spruchbänder. Rentner und Jugendliche, „fest“ angestellte und prekäre Arbeiter. Feuerwehrleute, Krankenpfleger, Ärzte und Studenten. In den Ministerien und den Museen, den Finanzämtern, bei den Kommunen, Regionen und Provinzen Beschäftigte. 200.000 Menschen aus ganz Italien überschwemmten gestern die Straßen Roms, um die Erneuerung des Tarifvertrages des Öffentlichen Dienstes zu fordern sowie die Respektierung der Würde derjenigen, die für den Staat, die lokalen Einrichtungen, das Gesundheitswesen und für die Bürger arbeiten, die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen, die die Regierung Berlusconi abbaut. Die Erwartungen von CGIL, CISL und UIL wurden nicht enttäuscht und sicherlich haben die letzten, von der Regierung und der <Industriellenvereinigung> Confindustria gestarteten – äußerst heftigen – Attacken „geholfen“. Zweien, die sich verbündet haben, um zu verkünden, dass die Forderungen <der Beschäftigten> dieses Sektors zu hoch sind und verglichen mit denen der Beschäftigten der Privatunternehmen „wenig konkurrenzfähig“. Messina, Teramo, Vercelli, Taranto, Turin, Arezzo, Sondrio und Gorizia. Vibo Valentia, Sassari und sehr viele – selbstverständlich – aus Rom. Es gelingt uns nicht, alle Städte aufzuzählen, die wir beim Überfliegen der Transparente gesehen haben, als wir uns vom Ende <der Demonstration> wegbewegten, das sich noch auf der Piazza della Repubblica befand als die Spitze bereits in die Via Merulana einbog.

Enrico Foderà (47 Jahre) arbeitet seit 27 Jahren bei der Kommune von Caltanissetta <Sizilien>. Als Mitglied der UIL ist er zusammen mit seinem 17jährigen Sohn Aurelio nach Rom gekommen: „Wir sind auf der Straße, weil wir ein Recht auf den Tarifvertrag haben“, sagt er uns. „Der ist seit nunmehr 15 Monaten abgelaufen und die Kaufkraft geht schnell verloren. Mein ältester Sohn geht auf die Universität, aber ich glaube nicht, dass ich es mir erlauben kann, die Anderen auch dahin zu schicken.“ Enricos Frau hat ein kleines Geschäft. Sie müssen an allem sparen. Aurelio erklärt uns, dass er schwerlich – genau wie sein Vater – Beschäftigter im Öffentlichen Dienst werden wird: „Wenn das die Perspektiven sind…“ Im Demoblock aus der Lombardei marschiert Angelo Sangiovanni (RSU-Delegierter der <christdemokratischen> CISL des Lokalen Gesundheitsbetriebes (ASL) von Legnano): „Ich arbeite seit 22 Jahren im Krankenhaus“ – erklärt er uns – „aber jetzt hat sich alles geändert. Es gibt immer weniger Personal. Sie sparen soviel wie nur geht und die Qualität der Dienstleistungen sinkt. Sie fordern uns auf, alles ganz schnell zu machen. Es gibt keine Beziehung zu den Patienten mehr. Die Neueingestellten sind prekär und <auch> ich verzichte auf Tausend Dinge, um das Monatsende zu erreichen. Viele meiner Kollegen werden von den Schulden erdrückt.“

Auf der Piazza San Giovannio laufen wir einer großen Gruppe Feuerwehrleute in Arbeitskleidung über den Weg: „Wir sind wegen des Tarifvertrages hier“, erklären uns Edmondo Bucchionio und Davide Maccioni (CGIL-Delegierte aus la Spezia <im südlichen Ligurien>). Und wir kämpfen gegen die von der Regierung betriebene Militarisierung der Feuerwehr. Die Hierarchien nehmen immer größere Bedeutung ein. Sie benutzen uns für die Zwangsräumungen und möchten uns in eine Polizeieinheit verwandeln. Es herrscht Personalmangel und es gelingt uns nicht, Fortbildungskurse zu besuchen.“ Zahlreich sind die Schüler der <CGIL-nahen, linkssozialdemokratischen Schülergewerkschaft> UDS (Unione degli Studenti / Schülerunion) vertreten – in Rom ebenso wie in den 60 Städten, in denen die Gewerkschaften demonstrierten. Paolo Nerozzi <aus dem Nationalen Sekretariat der> (CGIL) stellt fest, dass „Lehrer, Schüler und öffentlich Bedienstete die Rolle des Öffentlichen schätzen und verteidigen“.

Im Demonstrationszug findet sich aber nicht nur der Öffentliche Dienst. Ihre Unterstützung bekunden auch die Sekretäre der <CGIL-Metallarbeitergewerkschaft> FIOM, Gianni Rinaldini und Giorgio Cremaschi. Und das ist nicht bloß eine formale Teilnahme. Was die Gewerkschaften der <industriellen> Arbeiter auf die piazza getrieben haben, waren sicherlich die jüngsten Attacken von Regierung und Confindustria: „Die Äußerungen der stellvertretenden Vorsitzenden der Industriellen, Bombassei und Pininfarina, waren de facto darauf ausgerichtet die tarifpolitische Blockade aller Verhandlungen zu erklären, einschließlich der der Metallarbeiter“, erläutert Rinaldini. „Wir fordern, genau wie der Öffentliche Dienst, eine Lohnerhöhung von 8% und die Gegenseite bietet 4% an. Das Abkommen der Bankangestellten und die <tarifpolitische> Plattform der Beschäftigten der Lebensmittelindustrie bestätigen, dass es keinen Sinn mehr hat, auf die von der Regierung veranschlagte Inflation zu schauen.“ Cremaschi spricht seinerseits von einem regelrechten „Tauschhandel zwischen Unternehmen und Regierung: Die Regierung hat zu dem Plan in Sachen Konkurrenzfähigkeit Ja gesagt. Einem Plan, der den Unternehmen überhaupt nicht helfen wird. Während die Exekutive die Tarifverträge des Öffentlichen Dienstes blockiert, um es <dem Metallindustriellenverband> Federmeccanica zu ermöglichen, unangemessene Zahlen anzubieten.“

Von der Bühne herunter spricht als Erster Luigi Angeletti (<Generalsekretär der> UIL): „Dies ist die größte Demonstration des Öffentlichen Dienstes in der italienischen Geschichte“, beginnt er. „Und das deshalb, weil die Beschäftigten aufgebracht sind. Sie fordern den Tarifvertrag, auf den sie ein Recht haben. Das wirkliche italienische Wunder?“, fragt er. „Das vollbringen die öffentlich Bediensteten, um das Monatsende zu erreichen.“ Angeletti kritisiert auch die Confindustria, „eine schlechte Ratgeberin“ der Regierung: „Sie wollen die Ziele der Exekutive festlegen, um ihren Beschäftigten dieselbe Entlohnung zuteil werden zu lassen.“ Auch Savino Pezzotta (<Generalsekretär der> CISL) ist wütend: „Wir sind nicht bereit, noch länger zu warten. Es ist nicht akzeptabel 15 Monate lang auf einen Tarifvertrag warten zu müssen. Oder mehr als 3 Jahre lang, wie es bei den Ärzten und beim wissenschaftlichen Forschungspersonal an den Universitäten der Fall ist. Man spricht soviel von Konkurrenzfähigkeit, aber wie erreicht man die ohne eine qualifizierte Verwaltung? Die Regierung betrachtet die Staatsangestellten als Klotz am Bein und mit einer verfehlten Steuerreform tut sie so als würde sie etwas geben. Aber in Wirklichkeit steigen die Kosten für Dienstleistungen und Gebühren. Wir werden hier nicht halt machen“, lautet die Schlussfolgerung. „Wir werden weitermachen bis wir die Tarifverträge unterschrieben haben.“ Dem Führer der CGIL, Guglielmo Epifani zufolge „bewegt sich die Regierung wie die Krebse“. Von dem <Lega Nord-Arbeits-> Minister Maroni fordert Epifani klar und deutlich, damit „aufzuhören, die Unterzeichnung der Tarifverträge zu behindern“. „In seiner Rolle“ – fügt er hinzu – „sollte er im Gegenteil zu ihrer Erneuerung beitragen.“ Und auch die Confindustria bekommt ihr Fett weg: „Sie muss aufhören, sich in diese Tarifverträge einzumischen und zu versuchen, sie zu verhindern. Sie sollte lieber daran denken, ihre eigenen abzuschließen – zuallererst denjenigen der Metallarbeiter.“ „Wenn die Regierung keine echten Angebote macht“ – schließt Epifani – „werden wir unsere Mobilisierung fortsetzen und ausweiten und dafür sorgen, dass sie genereller wird.“

3.Öffnungsgeste der Regierung

Vorbemerkung der ÜbersetzerInnen

Anfang Mai 2005 zeigte die Regierung Berlusconi zum ersten Mal Bereitschaft zu ernsthaften Verhandlungen mit den Gewerkschaften über einen neuen Tarifvertrag für den italienischen Öffentlichen Dienst (der alte war seit da bereits seit 16 Monaten abgelaufen!). Grund für dieses Einlenken war allerdings weniger der Druck vonseiten der Gewerkschaften, die zuletzt Mitte März mit einem eintägigen landesweiten Streik im gesamten Öffentlichen Dienst und einer zentralen Großdemonstration in Rom ihre Forderungen untermauert hatten, sondern die schwere Niederlage des von Berlusconi geführten Rechtsbündnisses bei den Regionalwahlen Anfang April, das zu einer kompletten Umbildung der Regierung führte und zunächst den kompromissbereiteren Kräften der von Gianfranco Fini geführten Alleanza Nazionale (AN) und der rechtschristdemokratischen UDC Aufwind verschaffte. Diese monierten, dass die harte Haltung in diesem Bereich wahlkampftaktisch ein folgenschwerer Fehler gewesen sei. Tatsächlich hatte die (nach dem großen Schmiergeldskandal „Tangentopoli“ 1993/94 in verschiedene rechte und mitte-linke Kleinparteien zersplitterte) Democrazia Cristiana zusammen mit Craxis (ebenfalls zerfallener) PSI bis Anfang der 90er Jahre Tarifverträge für die im öffentlichen Sektor Beschäftigten stets kurz vor den Wahlen, in sozialpartnerschaftlicher Eintracht mit den großen Gewerkschaftszentralen, abgeschlossen und bei den Urnengängen in der Regel davon profitiert. Im Zuge der „knappen Kassen“, d.h. der haushaltspolitischen Forderungen der EU und der verschärften Umverteilung zugunsten der Bourgeoisie, sowie der neoliberalen Offensivstrategie der Kapitalistenverbände (in Italien vor allem der Confindustria) und der Neuen Mitte hat sich dies grundlegend geändert und den Gewerkschaften fehlt mit ihren vorwiegend demonstrativen Ein-Tages-Aktionen die Waffe, um darauf wirkungsvoll zu antworten. So ist denn bereits wieder fraglich, ob die erneuerte Berlusconi-Regierung tatsächlich zu einem tarifpolitischen Kompromiss bereit ist. Am 13. Mai erklärte Berlusconi zumindest: „Die Forderungen der Gewerkschaften würden eine Milliarde Euro kosten. Ich habe nicht die Absicht, dafür einen Wechsel auszustellen, aber ich fordere alle sozialen Parteien zur Mitverantwortung auf.“ (il manifesto 14.5.2005)

Lohnerhöhungen für die Staatsbeschäftigten. Die Öffnung der Regierung

(Mario Sensini im Corriere della Sera vom 7.Mai 2005)

Baccini: Bereitschaft über 95 Euro hinauszugehen. Aber der Ministerpräsident: Das muss man alles noch sehen. Fini für ein sofortiges Abkommen. Montezemolo: Das Defizit beachten!

ROM – Die Regierung versucht einen Schrittwechsel und probiert einen Ausfall in Sachen Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes. Der Ministerrat erteilte gestern dem für den Öffentlichen Dienst zuständigen Minister Mario Baccini <UDC>, dem Wirtschaftsminister Domenico Siniscalco <parteiloser „Techniker“> und dem Staatssekretär des Ministerpräsidenten <in der BRD: dem „Kanzleramtsminister“> Gianni Letta <Forza Italia> „vollständig und einmütig“ das Mandat, die Gewerkschaften einzuladen und umgehend Verhandlungen zu beginnen. Diese sollen im <italienischen Regierungssitz> Palazzo Chigi stattfinden und bis ins Letzte geführt werden – mit der Absicht, die Auseinandersetzung im Laufe weniger Tage (möglichst innerhalb einer Woche) abzuschließen.

„Der Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes ist eine Priorität dieser Regierung und bei der nächsten Sitzung des Ministerrates soll die Frage vom Tisch sein“, sagte der stellvertretende Ministerpräsident Gianfranco Fini <AN> während der Sitzung klar und deutlich und traf dabei auf die volle Bereitschaft Baccinis und vor allem Silvio Berlusconis <so zu verfahren>. „Er ist in dem Regierungsprogramm enthalten, für das uns vom Parlament das Vertrauen ausgesprochen wurde. Nun reicht es. Wir müssen uns bewegen“, fügte der Ministerpräsident hinzu, der später sein „persönliches Engagement“ bestätigte, um die Tarifverträge des Öffentlichen Dienstes und des Gesundheitswesens in der kürzestmöglichen Zeit abzuschließen.“

Baccini selbst nahm gestern Kontakt zu den Gewerkschaften auf, die seit 16 Monaten auf die Erneuerung des Tarifvertrages warten und dabei sind, endgültig die Geduld zu verlieren. Das Treffen könnte bereits am kommenden Montag <den 9.Mai 2005> stattfinden. Zuvor wird Baccini jedoch mit Siniscalco zusammenkommen, um dasCGIL, CISL und UIL (die die von der Exekutive angebotenen 95 Euro brutto bereits abgelehnt hatten) zu unterbreitende neue Angebot finanziell auszuloten. „Siniscalco ist sicherlich bereit, über diese Ziffer hinauszugehen. Und wenn es die politische Bereitschaft zum Abkommen gibt, bedeutet das, dass auch die finanzielle Bereitschaft vorhanden ist“, sagte Baccini. Siniscalco gerät jedoch nicht aus dem Gleichgewicht und für Berlusconi muss man in Bezug auf die finanzielle Problematik „alles noch sehen“.

Müheloser wird den Gewerkschaften eine Bandbreite an Optionen unterbreitet werden, inklusive derjenigen, einen Teil der Belastung durch die Tarifverträge auf den Staatshaushalt 2006 zu verschieben. Damit wird auf die Gliederung der Lohnerhöhungen nach Tranchen, auf die Fristen und auf eine Einmalzahlung gesetzt, ohne von vornherein die Möglichkeit auszuschließen, ab jetzt die Erneuerung der Tarifverträge für den nächsten Zwei-Jahres-Zeitraum (2006-2007) zu versuchen und diese mit der laufenden Auseinandersetzung zu verbinden, die die Jahre 2004-2005 betrifft.

Die Regierung ist außerdem bereit, auch der <Industriellenvereinigung> Confindustria ein Signal zu senden, die wegen der Entwicklung der öffentlichen Haushalte besorgt ist, wie ihr Präsident <und FIAT-Aufsichtsratschef> Luca di Montezemolo bekräftigte, aber auch aufgrund der Rückwirkungen, die der Tarifvertrag der öffentlich Bediensteten auf diejenigen des Privatsektors haben könnte. Der stellvertretende Ministerpräsident Giulio Tremonti <Forza Italia> mahnte die Regierung, auch diesen Aspekt zu berücksichtigen. Und es ist wahrscheinlich, dass der Wohlfahrtsminister Roberto Maroni <Lega Nord> im Laufe weniger Tage die allgemeinere Auseinandersetzung um die Arbeitskosten wiederbeleben wird, die durch die geplante Reduzierung der Wertschöpfungsabgabe IRAP neue Anstöße erfahren dürfte, die geeignet ist den Steuer- und Beitragskeil zu beeinflussen.

„Wir konnten es uns nicht erlauben, weitere Zeit zu verlieren. Wir haben sowohl in der Sache, bei der es darum geht so schnell wie möglich zu einem Abschluss zu kommen, als auch in der Methode der Auseinandersetzung eine politische Entscheidung getroffen“, erklärt der AN-Minister <und einer der beiden Führer des rechten AN-Flügels „Destra Sociale“ (Soziale Rechte)> Gianni Alemanno. „Wir wollen rasche Verhandlungen“ – fügt er hinzu – „um sie sehr schnell abzuschließen. Die Regierung ist bereit, jeden Moment darüber zu diskutieren. Die Forderungen der Gewerkschaften sind übertrieben, aber wir müssen sie auch in punkto Konkretheit und Verantwortungsgefühl herausfordern.“


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