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Updated: 18.12.2012 15:51
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Ethischer Ungehorsam: Neue Formen des Widerstands gegen »Reformen« im Öffentlichen Dienst Frankreichs

Von Marc Zitzmann

»Der kommende Aufstand« und das »Empört Euch!« von Stéphane Hessel werden seit einiger Zeit auch hier in Deutschland bis in die bürgerlichen Medien hinein diskutiert. Weniger hört man hierzulande von berufsspezifischen Widerstands- und Empörungsformen aus Frankreich. Marc Zitzmann hat einen Überblick über die Formen »Ethischen Ungehorsams« geschrieben, den wir hier gerne dokumentieren.*

Frankreich gilt seit je als ein streikfreudiges Land. Erst letzten Herbst demonstrierten wieder Millionen von Menschen über Wochen hinweg gegen eine tiefgreifende Änderung des Rentensystems. Diese wurde letzten Endes aber doch vom Parlament verabschiedet – und ähnlich ergeht es in jüngerer Zeit vielen Streikbewegungen: viel Lärm um Nichts (oder jedenfalls bloß wenig Konkretes). So experimentiert der Widerstand gegen »Reformen« neben dem zunehmend wirkungslosen Ritual der Massen- und Straßenumzüge vermehrt mit alternativen Formen. (Das Wort »Reform« meint eigentlich eine Veränderung zum Besseren hin, Kritiker werfen vielen »Reformen« aber gerade das Gegenteil vor, weshalb der Begriff hier – ohne Parteinahme für die eine oder andere Seite – in Anführungszeichen gesetzt sei.)

Insbesondere die hiesigen Forscher haben sich in einem über zweijährigen Konflikt mit dem Forschungsministerium zwischen 2007 bis 2009 mit einer Fülle von maliziösen Aktionen hervorgetan: Sie bewarfen das Ministerium symbolisch mit »Hirnen«, gaben kostenlos Unterricht auf dem Trottoir vor der Sorbonne, veranstalteten wissenschaftliche Vorführungen in Bahnhofshallen, öffentliche Lesungen des (Präsident Sarkozy verhassten) Romans »La Princesse de Clèves« [1] und fiktive Abschiedszeremonien für falsche Forscher mit Pappkarton-Koffern vor dem Eurostar in der Pariser Gare du Nord, um den Braindrain in Richtung London (sprich: das englischsprachige Ausland) zu geißeln. Ihre symbolträchtigste, sprechendste Aktion war jedoch die stumme »Ronde infinie des obstinés« (Unendliche Runde der Hartnäckigen, Red. express), die im Frühling 2009 auf dem Pariser Rathausplatz (früher »Place de Grève« genannt – »grève« heißt heute unter anderem »Streik«) 42 Tage und Nächte lang ohne Unterbrechung ihre unendlich sturen Kreise drehte.

Doch auch solche Initiativen haben ihre Grenzen: Die betreffende Universitäts-»Reform« (die sogenannte »Loi LRU« oder »Loi Pécresse«) wurde in ihren Hauptzügen trotz allem eingeführt. So hat sich in den letzten Jahren eine Form von Widerstand gegen »Reformen« verbreitet, die hierzulande wo nicht unbekannt, so zumindest ungewohnt ist. Ihre Entstehung lässt sich symbolisch datieren: Am 6. November 2008 schickte der Grundschullehrer Alain Refalo aus dem Städtchen Colomiers bei Toulouse einen Brief an den zuständigen Schulinspektor, der so begann: »Ich schreibe Ihnen diesen Brief, weil ich aus Gewissensgründen heute nicht mehr schweigen kann. Aus Gewissensgründen weigere ich mich zu gehorchen«. Diese Form des Widerstands nannte die Publizistin Elisabeth Weissman in ihrer gleichnamigen Studie zum Thema »désobéissance éthique«.

Der »ethische Ungehorsam« trägt zwar einen etwas anderen Namen, ist aber ein klassischer ziviler Ungehorsam, der sich – völlig orthodox – auf Henry David Thoreau, John Rawls und Jürgen Habermas, auf Mahatma Gandhi und Martin Luther King beruft. Ziel ist, durch einen öffentlichen Akt des Ungehorsams auf eine Unrechtssituation aufmerksam zu machen und so deren Beseitigung zu bewirken. Etwaige Strafen werden bewusst in Kauf genommen. Zwar gab es auch hierzulande schon ein paar (wenige) Präzedenzfälle – etwa das 1971 von Simone de Beauvoir verfasste »Manifeste des 343«, auch als »Manifest der 343 Schlampen« bekannt, in dem 343 prominente Frauen bekannten, abgetrieben zu haben, und sich so strafrechtlichen Verfolgungen aussetzten. Doch ging es damals darum, einen Fortschritt zu erwirken, während heute die Verhinderung von Regressionen das Ziel ist.

Da Refalos Brief von vielen »Ungehorsamen« als eine Art Gründungsmanifest angesehen wird, will ich hier etwas näher auf ihn eingehen. Der Grundschullehrer legt in seinem Schreiben auseinander, weshalb er sich weigert, die »Reformen« des damaligen Erziehungsministers (aber dessen Nachfolger liegt heute genau auf derselben Linie) zu applizieren. Erstens stellten die »neuen« Lehrprogramme von 2008, von denen man nicht wisse, wer sie entworfen und verfasst habe, einen beispiellosen Rückschritt dar. Mit ihrer Schwerpunktsetzung auf Büffeln und Auswendiglernen seien sie geprägt von einer »mechanischen und rückständigen Vision des Unterrichtens«: Sie wendeten sich von einer Pädagogik des Projekts ab, welche es den Schülern ermögliche, beim Lernen motiviert zu sein und ihrem Tun einen Sinn abzugewinnen. Einziges Ziel dieser Programme sei es, »quantifizierbare, leicht publizierbare und miteinander vergleichbare« Ergebnisse hervorzubringen.

Auch weigere er sich, so Refalo, eine »›moralische und staatsbürgerliche Unterweisung‹ mit vorgestrigem Beigeschmack« zu dispensieren. Es sei eine Beleidigung für die Lehrer wie für die Schüler zu glauben, man könne das Verhalten von Letzteren auch nur irgendwie dadurch beeinflussen, dass man ihnen eine Morallehre auf die Tafel schreibe und sie diese dann auswendig lernen lasse. Was es brauche, sei vielmehr eine das Verantwortungsgefühl fördernde Pädagogik, die es den Schülern ermögliche, im Dienste eines besseren Zusammenlebens ihr kreatives und emotionales Potenzial zu entdecken.

Zweitens seien die neuen Maßnahmen zur angeblichen Förderung von »Lernschwachen« nichts als demagogische Feigenblätter, die in Tat und Wahrheit einen realen Leistungsabbau kaschierten. So wird für alle Grundschüler die Zahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden von 26 auf 24 reduziert, mit zwei zusätzlichen Stunden für Kinder mit Lernschwierigkeiten. Für Refalo – und viele seiner Kollegen – ist das ein »Vergehen gegen den Geist und die Pädagogik«. Nicht nur bildeten die spezifischen Zusatzstunden für »Lernschwache« eine gleichsam medizinische Herangehensweise an das solcherweise aus seinem Kontext herausgelöste Problem – wo es doch gelte, dieses im Rahmen der Klasse als Ganzes zu beheben. Die Dispensierung dieser Zusatzstunden durch das gewöhnliche Lehrpersonal statt wie bisher durch die auf »Lernschwache« spezialisierten Kräfte der »réseaux d’aides spécialisées aux élèves en difficulté« (Netzwerk für spezialisierte Hilfen für Schüler in Schwierigkeiten, Red. express) sei überdies eine schwere Regression. Diese Kräfte werden nämlich schlicht und einfach abgeschafft: Von den 3000 betreffenden Posten existiert die eine Hälfte bereits nicht mehr, das Verschwinden der anderen ist vorprogrammiert.

Seit 2008 wurden im öffentlichen Schulwesen hierzulande 40000 (!) Stellen abgebaut. Die durchschnittliche Schülerzahl in den Klassen steigt, kleinere Klassen und sogar Schulen sollen dagegen geschlossen werden. Erfahrene, vollamtliche Lehrer werden immer häufiger durch Hilfskräfte, wo nicht gar durch Studenten ersetzt: »Die Nicht-Titulare bilden eine flexiblere Ressource, deren Ertrag an die 100 Prozent heranreicht«, heißt es im Jargon des Ministeriums. Verständlich, dass sich viele Lehrer gegen einen »Reformprozess« wehren, den sie als eine systematische Zerschlagung der Schule und ihres eigenen Berufs empfinden. Etliche sind den gleichen Weg gegangen wie Bastien Cazals, ein ehemaliger Ingenieur, dem das Streben nach Rentabilität der Unternehmenswelt zuwider wurde und der deshalb in den Lehrerberuf überwechselte.

In seiner Broschüre »Je suis prof et je désobéis« [2] schreibt Cazals über die »Schulreformen«: »Ich sehe, wie unter dem Mantel der Modernisierung dieselben Wirtschaftsprinzipien und Management-Werkzeuge Einzug halten wie in der Unternehmenswelt, aus der ich ausgestiegen bin, angewidert durch die Vorstellung, dass menschliche Leben weniger zählen als finanzielle Interessen. Ich habe die Unternehmenswelt verlassen, um in jene der Schule überzuwechseln – und muss jetzt miterleben, wie die Schule sich in ein Unternehmen verwandelt. Indem man die Schule abbaut, zerstört man meine Berufung. Anfang November 2008 wurde diese Realität für mich unerträglich. Ich nahm Kontakt mit einer Gewerkschaft auf, um zu wissen, ob ich von heute auf morgen kündigen könne. Die Antwort lautete: ›Nein‹... Was konnte ich da noch tun? Dies: aus Gewissensgründen den Gehorsam verweigern!« Die Entdeckung von Refalos Brief Ende November 2008 wirkte auf Cazals wie eine Befreiung. Ähnlich erging es über 3000 Lehrern, die ihren Widerstand publik machten – und knapp 3000 weiteren, die im Internet eine »Charte de la résistance pédagogique« (Charta des pädagogischen Widerstands, Red. express) unterzeichneten.

Viele, die dafür bestraft wurden, wurden es weniger für ihren Ungehorsam als dafür, dass sie diesen öffentlich gemacht hatten. »Seien wir nicht naiv, es gibt seit je Lehrer, die den Gehorsam verweigert haben«, erklärt eine Schulpsychologin. »Nur haben sie es nicht gesagt ... Den Schulinspektoren sind diese maskierten Befehlsverweigerungen nicht entgangen; viele jedoch schlossen die Augen ... Was vor allem zählte, war, die Illusion aufrechtzuerhalten, die Obrigkeit sei mächtig genug, um von ihren Untergebenen eine dienstbeflissene Ausführung ihrer Weisungen zu erwirken.« Die »désobéisseurs« (Die Ungehorsamen, Red. express) – eine Wortschöpfung der jüngsten Zeit, die zeigt, dass das Phänomen hierzulande relativ neu ist – machten dieses Lügengebäude einstürzen. Und wurden dafür wie Refalo mit einer Herabstufung ihres Dienstgrads – und also einem niedrigeren Gehalt – bestraft oder wie Cazals mit einer Abberufung von ihrem Direktorenposten.

»Ethischer Ungehorsam« findet sich allerdings nicht nur im Erziehungssektor, auch wenn er dort am stärksten strukturiert ist. Mit Hilfe von Weissmans Buch möchte ich im Folgenden ein paar Beispiele aus sehr verschiedenen Berufszweigen anführen, die veranschaulichen, wie einschneidend Sarkozys »Reformen« in den diversesten Bereichen sind und was für einen entschiedenen Widerstand sie jeweils hervorrufen. Am 2. Dezember 2008 hielt Frankreichs Präsident eine Rede über die stationäre Behandlung von psychisch Kranken. Diese wurde im betreffenden Milieu mit Bestürzung aufgenommen und zeitigte als Gegenreaktion den »Appel des 39«, der die Prinzipien einer Psychiatrie mit menschlichem Antlitz bekräftigte. Aufhänger beziehungsweise Vorwand der präsidentiellen Rede war, wie so oft bei Sarkozys »sekuritären« Initiativen, ein Fait divers: Ein Geisteskranker war aus einer psychiatrischen Anstalt entflohen und hatte einen Mord begangen. Daraufhin stigmatisierte der Präsident alle Geisteskranken als potenzielle Verbrecher, die es nach Möglichkeit vom (gesunden) Rest der Bevölkerung abzusondern gelte. 70 Millionen Euro wurden seitdem in die »Sicherung« von spezialisierten Spitälern und in die Schaffung von »Unités pour malades difficiles« (Einheiten für schwierige Kranke, Red. express) investiert. Parallel dazu wurden Hunderte von Pfleger-Stellen abgebaut.

Ein älterer Pfleger beschreibt die Entwicklung in seinem Berufszweig wie folgt: »Das Gros der Ausbildung eines psychiatrischen Pflegers betrifft unserer Tage die Isolierung. Also gewöhnen sich die jungen Pfleger an diese, sie sind standardisiert, durch den vorherrschenden Diskurs formatiert und davon überzeugt, dass ein unruhiger Patient potenziell aggressiv oder gar gefährlich ist, also notwendigerweise weggesperrt werden muss, um sich vor ihm zu schützen. Wo es doch darum ginge, Worte zu finden, um ihn zu öffnen, und nicht darum, ihn zu frustrieren! Wo es doch Pfleger an seiner Seite brauchte!« »Ungehorsame« Pfleger weigern sich, ihre Patienten systematisch mit Medikamenten ruhigzustellen; sie sprechen mit ihnen, erlauben ihnen, eine Zigarette zu rauchen, behandeln sie wie vollgültige Menschen – in Frankreichs psychiatrischen Anstalten sind das heute bereits Akte des Widerstands.

Ein anderes Beispiel betrifft Pôle Emploi. Dieses für die Arbeitsverwaltung zuständige Etablissement ist Ende 2008 aus der Fusion der Strukturen hervorgegangen, die vordem für die Auszahlung der Arbeitslosengelder und die Eintreibung der betreffenden Sozialabgaben beziehungsweise für die Unterstützung der Arbeitslosen bei ihrer Suche nach einer Anstellung zuständig waren. Die Fusion hat ein kafkaeskes Durcheinander bewirkt – zumal die beiden fusionierten Einheiten sehr heterogene Statuten aufwiesen und ihre Mitarbeiter nur eine drei- bis fünftägige Schulung erhielten, um den jeweils anderen Beruf zu erlernen, den sie nun zusätzlich zu ihrem ursprünglichen ausüben müssen. Die für 2011 angekündigte Streichung von 1800 (von insgesamt 49000) Posten dürfte dem Organisations- und Kompetenzenwirrwarr sowie der chronischen Überlastung der Mitarbeiter schwerlich abhelfen.

Eine Beraterin zählt die «Sechs Gebote des Ungehorsams» auf, die sie sich selbst auferlegt hat: »1) Entscheide ich nicht bloß nach einem Telefongespräch, ob ein Bittsteller ein Anrecht auf Arbeitslosenhilfe hat oder nicht. 2) Empfange ich weiterhin Leute in meinem Büro. 3) Mache ich keine ›Karteikarten-Putzaktio-nen‹. 4) Spiele ich nicht die Polizistin, indem ich Sans-Papiers denunziere. 5) Verirre ich Arbeitssuchende nicht absichtlich im Wald, wie die Eltern von Hänsel und Gretel ihre Sprösslinge. 6) Werfe ich Arbeitssuchende nicht aus der Kartei, um die Arbeitslosenstatistiken sinken zu machen.« Der Umkehrschluss lässt erahnen, wie die »Norm« bei Pôle Emploi aussieht...

Doch auch in der Polizei regt sich Widerstand. Im Rahmen der seit der Machtübernahme des rechten Lagers 2002 gewaltig angekurbelten Ausschaffungspolitik (die Zahl der sogenannten »reconduites à la frontière« (Abschiebungen, Red. express) hat sich auf durchschnittlich 30000 im Jahr verdreifacht) stehen die Ordnungshüter zunehmend unter Druck. Ein unlängst pensionierter Polizist aus Metz klagt über ein Rundschreiben des Zentraldirektors der Police de l’air et des frontières (Flughafen- und Grenzpolizei, Red. express): »Dieser schrieb schwarz auf weiß, wir würden nicht genug leisten. Wir waren schon bei 1100 Festnahmen [von Sans-Papiers] im Jahr, aber nun sollten wir deren 2000 machen, einfach so, wie durch Zauberhand ... Wir wussten schon gar nicht mehr, wohin mit all den Leuten. Sie sollten einmal die Räumlichkeiten [für die »administrative Verwahrung« von Sans-Papiers über einen Zeitraum von maximal 32 Tagen hinweg] in Metz sehen: Die sind für 12 Personen gedacht, aber wir steckten da deren 40 hinein, Frauen, manchmal Kinder, ohne Dusche, total verdreckt. Eine Schande!«

Ab 2004 mussten sich die Polizisten auf Weisung des damaligen Innenministers, Nicolas Sarkozy, auf die Festnahme ganzer Familien verlegen. »Sich eine ganze Familie ›machen‹, das ist gut für die Statistiken, das können sechs Personen auf einen Schlag sein und ebenso viele Kreuzchen in den Registern. Das war gut für Sarkozy, der schon damals hinter den Stimmen von Le Pen her war [dem Führer des rechtsextremen Front national].« Für den pensionierten Polizisten bildete diese Weisung den Auslöser für seinen Eintritt in den Widerstand. »Oft benachrichtigte ich die Familien am Vorabend. Ich wollte sie nicht um vier Uhr morgens überraschen, unmöglich, das erinnert mich zu stark an die ›rafles‹ [die Judenrazzien während der Besatzungszeit] ... Wir diskutierten miteinander, ich erklärte ihnen die Lage, oft diente der Bub als Übersetzer. Dann ließ ich ihnen ihre Chance: Sie hatten die ganze Nacht, um sich auf ihre Festnahme vorzubereiten oder um zu fliehen, wenn sie das wollten.«

»Ich erinnere mich an eine Familie aus Jugoslawien [sic], als ich denen sagte, sie müssten gehen, sie müssten alles verlassen, sah ich den Buben seine Tasche packen. Und wissen Sie, was er mitgenommen hat? Seine Schulhefte. Er hat alles dagelassen: seine Spielkonsole, seinen Fußball – aber er hat seine Bücher und seine Schulhefte mitgenommen! Als ich nach Hause zurückgekehrt bin, habe ich zu meiner Frau gesagt: ›Was für ein Scheißjob!‹ Wissen Sie, solche Sachen, das kann man nicht vergessen, das kann einen nicht unberührt lassen, andernfalls ist man kein Mensch mehr! Wenn ich Sarkozy höre, dass er die Leute integrieren will – und da sind welche, die haben ihrem Buben beigebracht, er solle alles daransetzen, in der Schule möglichst gut zu arbeiten, das macht mich verrückt!«

Widerständler findet man auch unter den Mitarbeitern des Elektrizitätsunternehmens EDF: Die sogenannten »Robin Hoods« stellen zahlungsunfähigen Menschen den Strom wieder an, wenn dieser abgeschaltet wird. Man findet welche in der Post, wo sie sich weigern, den Nutzern (der Begriff »Kunden« ist ihnen ein Gräuel) stets die teuersten Dienste als Erstes anzubieten oder sie direkt an den Automaten zu schicken. Und man findet welche im Office national des forêts (Staatliches Forstamt, Red. express), die der Politik der Direktion, Frankreichs Wälder aus Gründen der Geldbeschaffung über ihre Erneuerungsfähigkeit hinaus abzuholzen, Knüppel zwischen die Beine zu werfen suchen.

Gemein ist all diesen Widerständlern, dass sie nicht für ihre Statute, ihre Arbeitszeiten, Renten oder sonst-was kämpfen, was man für »Privilegien« halten könnte. Sondern für ihre Berufsethik. Und auffällig ist, dass sie sich alle in einstmals starken Services publics (Öffentlicher Dienst, Red. express) finden, die mehr oder weniger schleichend, wo nicht gar heimlich, (teil)privatisiert werden sollen. Hohe und höchste Staatsvertreter hegen solche Hintergedanken ja sogar für Kernkompetenzen der öffentlichen Hand wie das Gesundheitswesen oder die Polizei. Über deren Sinn oder Unsinn zu diskutieren, ist hier nicht der Ort. Festgehalten sei jedenfalls, dass diese »Services publics« aus dem im März 1944 aufgesetzten Regierungsprogramm des Conseil national de la Résistance (Nationaler Widerstandsrat, Red. express) hervorgegangen sind. Ein Programm, auf das sich die Nummer Zwei des Arbeitgeberverbands Medef kurz nach Sarkozys Wahl 2007 in einem Interview zum Thema »Reformen« bezog: »Die Liste der Reformen? Ganz einfach: Nehmen Sie alles, was zwischen 1944 und 1952 eingeführt wurde, alles ohne Ausnahme. Da haben Sie die Liste. Es geht heute darum, ... das Programm des Conseil national de la Résistance methodisch aufzulösen.«

Vor dem Hintergrund dieses »Reformprogramms«, das man deutlicher nicht darlegen könnte, wird der reißende Absatz einer Broschüre mit dem Titel »Indignez-vous!« (Empört Euch!, Red. express) verständlicher, die der 93-jährige Résistant Stéphane Hessel im Oktober veröffentlichte. Hessels Verlegerin, Sylvie Crosman, schrieb mir am Freitag, die Erstauflage von 8000 Exemplaren sei, von Nachdruck zu Nachdruck, auf stattliche 950000 Exemplare gestiegen (mit einem weiteren, im Gang befindlichen Nachdruck von 300000 Exemplaren). Die Verkaufszahl betrage mindestens 700000 Exemplare. Und aus fast allen europäischen Ländern sowie aus Japan, Südkorea, der Türkei und den USA seien Anfragen für die Übersetzungsrechte eingetroffen ...

Hessels Aufruf zur Empörung ist nicht weiter revolutionär – er rennt großteils sogar offene Türen ein. Aber anscheinend ist das Textchen mit dem im ganzen Land wachsenden Widerstandsgeist in Resonanz getreten. Die Zahl der erklärten »Ungehorsamen« liegt eher in der Größenordnung von Tausenden als von Hunderttausenden. Doch der beispiellose Erfolg von Hessels Appel zum kreativen Widerstand legt nahe, dass die »désobéisseurs« bloß die Spitze des Eisbergs bilden...

* Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Zürcher Zeitung, wo der Text am 11. Januar 2011 erschienen ist, siehe: NZZ-Blog »Leben wie zit. in Frankreich«: »Ethischer Ungehorsam in Frankreich«, vgl. www.nzz.ch externer Link

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 02/11
express im Netz unter: www.express-afp.info externer Link, www.labournet.de/express externer Link


1) »Die Prinzessin von Clèves« ist ein historischer Roman von Marie-Madeleine de La Fayette. Er wurde 1678 in Paris anonym veröffentlicht und gilt als eine der Grundlagen des modernen, psychologischen Romans. (Red. express)

2) Ich bin Lehrer und verweigere den Gehorsam. (Red. express)


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