letzte Änderung am 07. Jan 2003 | |
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"Raffarin schleicht um den heißen Brei", titelt die Pariser linksliberale
Tageszeitung Libération am heutigen Dienstag (4. Februar), während
die Boulevardzeitung Le Parisien schlicht kommentiert: "Geschickt". Die Schlagzeilen
gelten der Rede zur Rentenreform, die der konservativ-liberale Premierminister
Jean-Pierre Raffarin am Montag vor dem CES (Conseil économique et social)-
einem Beratergremium der Regierung in wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen,
in dem die zählenmäßig stärksten Gewerkschaftsorganisationen
und die Arbeitgeber vertreten sind - hielt. Daneben wandte sich der Regierungschef
am Abend desselben Tages auch über den (privatisierten) ersten Fernsehkanal
an die Nation. Die beiden Auftritte sollten den Startschuss für die seit
dem Regierungswechsel im Frühsommer 2002 angekündigte, viel erwartete
"große Reform" im Bereich der Renten abgeben.
Viele individuelle Kommentatoren sind sich einig: "Er hat nichts gesagt", oder,
so ein vom Parisien befragter Bürger: "Er ist ein guter Verkäufer,
aber ich weiß nicht so recht, was er mir denn nun verkauft hat." Dennoch
kann der französische Premier sich derzeit auf ein stattliches Vertrauenspolster
stützen. Einerseits, weil der Regierungschef - bisher fast nur den Zeitplan
und die Methoden seiner "Reform" enthüllend - mit seinen wenig konkret
Äußerungen damit auch (noch) keine Hiobsbotschaften verkündet
hat.
Andererseits aber deswegen, weil er das Thema der Rentenreform, das seit zwei
Jahren als "sehr heißes Eisen" der französischen Innenpolitik gilt,
überhaupt anpackt.
Die sozialdemokratisch dominierte Regierung von Lionel Jospin hatte Anfang des
Jahrzehnts - nachdem im Jahr 2000 Untersuchungsberichte im Regierungsauftrag
erstellt worden waren, wie der Rapport Charpin - das Thema vor sich hergeschoben,
aus Angst vor Reaktionen an der Basis der Linksparteien und in den Gewerkschaften.
Schließlich hatte das Jospin-Kabinett Entscheidungen in der Materie für
nach den Wahlen im Frühjahr 2002 angekündigt. Das Vertrauen in die
Regierung war dadurch nicht gerade gewachsen. Denn gleichzeitig wurde von den
durch die Regierung selbst eingesetzten Experten, einem Teil der Presse und
dem Arbeitgeberlager kräftig Panik geschürt. Die umlagefinanzierten
öffentlichen Rentensysteme, die auf dem berühmten "Generationenvertrag"
aufbauen, würden komplett zusammenbrechen, die Altersversorgung sei somit
überhaupt nicht mehr gesichert - so lautete die Befürchtung, die vielerorten
an die Wand gemalt wurde.
Dabei macht der neoliberale Diskus sich eine reale Begebenheit zunutze, die
freilich nur als Vorwand dient, um ein längerfristig verfolgtes gesellschaftspolitisches
Projekt durchzusetzen - nämlich die Einführung einer privaten Altersvorsorge,
und generell die Abwälzung möglichst vieler "sozialer Risiken" auf
das "selbst für sich verantwortliche" Individuum. Realität ist, dass,
bei einem gesetzlichen Rentenalter von (im Prinzip) 60 Jahren, ab 2005 einige
geburtenstarke Jahrgänge in die Rente eintreten: Jene, die in der Aufbauphase
unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bzw. der 1944 erfolgten Befreiung
Frankreichs geboren wurden. Damit wird das Rentensystem zeitweise einen erhöhten
Finanzierungsbedarf aufweisen, der aber auf sehr unterschiedliche Weise gelöst
werden könnte.
Beispielsweise durch eine Verringerung der Zahl der (derzeit knapp 3 Millionen)
Arbeitslosen und der prekären Beschäftigungsverhältnisse, was
die Zahl der Beitragszahler erhöhen würde. Oder durch die "Legalisierung"
des Aufenthaltsstatus (mindestens) mehrerer zehntausend in die "Illegalität"
gedrängter Immigranten, die auf diese Wege gezwungen sind, unter extrem
schlecht bezahlten und sozial nicht abgesicherten Bedingungen für französische
Arbeitgeber zu schuften. Würden diese Arbeitsverhältnisse - die in
einigen Branchen (Bau, Reinigungssektor, Gastronomie) eine hohe wirtschaftliche
Bedeutung aufweisen - "normalisiert", würde auch dies die Beitragsaufkommen
erhöhen. Ferner wäre auch an eine zeitweise Erhöhung der Beiträge
von abhängig Beschäftigten und Arbeitgebern denken, was allerdings
bedeuten würde, der Tendenz zur Senkung der Sozialabgaben und Lohnnebenkosten
für die Unternehmer (die angeblich "Beschäftigung fördert") entgegen
zu steuern.
Diese vorübergehende Zunahme der Zahl von Pensionsberechtigten wird in
den Folgejahren freilich durch eine Gegenbewegung ausgeglichen werden - so steht
ab 2036 die Verrentung extrem geburtenschwacher Jahrgänge ins Haus. Doch
jene, die Panik stiften und die Individualisierung eines Teils des "Alters-Risikos"
durchsetzen wollen, benutzen die Situation, um schwärzeste Prognosen an
die Wand zu malen. Dabei wird die absehbare Entwicklung der nächsten Jahre,
im Zeitraum 2005 bis 2010, einfach auf einen größeren Zeitraum (oftmals
bis 2040) hochgerechnet.
Dabei werden die Tendenzen der kommenden nächsten Periode einfach linear
in die Zukunft verlängert, obwohl - wie ausgeführt - sich die Entwicklungstendenz
etwa ab 2036 in ihr genaues Gegenteil umgekehrt haben dürfte. Auch werden
nur bestimmte Faktoren berücksichtigt, nämlich die Tendenz zur Verlängerung
der Lebenserwartung in der Bevölkerung und die Erhöhung der RentnerInnen-Zahl
in den nächsten Jahren. Andere Faktoren, wie etwa die Steigerung der Arbeitsproduktivität,
die Anzahl der Erwerbslosen, oder die Möglichkeit eines Bevölkerungszuwachses
durch Immigration (die i.d.R. die jüngeren Generationen verstärkt),
bleiben hingegen ausgeblendet. Durch dieses Prozedere kommt man zu extrem pessimistischen
Prognosen für 2040 oder 2050, und erzeugt in Verbindung damit eine reale
Zukunftsangst, was die materielle Absicherung nach dem Arbeitsleben betrifft.
Insofern kann die rechte Regierung derzeit auf eine echte Grundzustimmung bauen,
wenn sie erklärt, dass "die Probleme nur schlimmer werden dadurch, dass
man sie nicht anpackt".
So hat es auch Premierminister Raffarin in seiner Rede vor dem CES ausgedrückt.
Dazu führte er aus: "Ich höre den (Anmerkung: gewerkschaftlichen)
Slogan : <Retten wir das Umverteilungssystem!> Hier, vor Ihnen, unterschreibe
auch ich diese Petition. (Aber) Es ist das Nichtstun, welches das Umverteilungssystem
zu Tode bringt - und es ist die Reform, die es retten kann." Ferner erklärte
er: "Der Aufprall im Jahr 2006 ist vorprogrammiert, aber solange das Schiff
den Eisberg noch nicht gerammt hat, geht die Kreuzfahrt weiter." Worte, mit
denen die Bevölkerung auf Opfer eingestimmt werden soll.
Dass es um Opfer gehen wird, darauf deutet schon seit positiver Bezug auf die
"Balladur-Reform" vom Sommer 1993 hin. (Raffarin sprach in seiner CES-Rede am
Montag von "mutigen Entscheidungen, die 1993 ergriffen wurden" und die "erlaubt
haben, den Niedergang des Rentensystems in Grenzen zu halten".) Damals, die
voraus gegangene schwere Niederlage der Linksparteien bei den Wahlen im März
1993 sowie die Urlaubssaison - denn während der Sommerferien lassen sich
kaum Proteste mobilisieren - ausnutzend, hatte der neokonservative Premierminister
Edouard Balladur die erste größere "Reform" im Rentenbereich durchgesetzt.
Sie betraf zunächst die abhängig Beschäftigten im privaten Sektor,
aber nicht in den öffentlichen Unternehmen oder öffentlichen Diensten.
Dadurch unterbrach sie den bis dahin seit der Nachkriegszeit anhaltenden Prozess,
der die privat Beschäftigten allmählich an das zuvor erreichte Niveau
sozialer Errungenschaften bei den öffentlich Bedienstete heran geführt
hatte, und so zu einer Angleichung der sozialen Bedingungen nach "oben" beitrug.
Für die abhängig Beschäftigten im privaten Wirtschaftssektor
bedeutete dies konkret, dass sie künftig 40 Jahre (statt bisher 37,5 Jahre)
Beitrag zum Rentensystem zahlen mussten, um die volle Pensionshöhe ausschöpfen
zu können. Ferner wurde aber auch eine drastische Senkung der Renten der
Beschäftigten in der Privatwirtschaft eingeleitet, die jetzt in den kommenden
Jahren greifen wird. Denn wenn bisher die Rente in Prozentanteilen gegenüber
dem Durchschnittslohn der zehn "besten" Verdienstjahre berechnet wurde, so sollte
der Bezugszeitraum nunmehr auf den Durchschnitt der "besten" 25 Verdienstjahre
ausgedehnt werden.
Die neue Norm wird, nach einem schrittweisen Anpassungsprozess, nunmehr ab 2008
(für die Zukunft, noch nicht die bereits bestehenden Rentenansprüche)
definitiv greifen. Das aber bedeutet, dass - durch die Veränderung der
Berechnungsgrundlage - der Bezugslohn für die Rente drastisch gesenkt wird.
Damit werden die Beschäftigten im Privatsektor sowohl länger Beitrag
zahlen, als auch (mittelfristig, wenn die Auswirkungen der Reform voll greifen
werden) deutlich geringere Pensionsansprüche haben, als jene im öffentlichen
Sektor. Erstere werden dadurch auf mittlere Frist deutlich benachtteiligt sein,
auch wenn die öffentlich Bediensteten Nachteile anderer Natur in Kauf nehmen
müssen - beispielsweise werden im öffentlichen Dienst zahlreiche Lohnzuschläge
aus der Berechnung der Renten ausgeklammert.
Damit gelingt es nunmehr den Neokonservativen, einen Neid-Diskurs gegen die
"privilegierten" und "zu Unrecht vor den Anforderungen des realen Wirtschaftslebens
geschützten" Beschäftigten öffentlicher Unternehmen oder öffentlicher
Dienste zu schüren. 1995 versuchte die damalige Rechtsregierung unter Alain
Juppé, unter Ausnutzung geschürter Neidgefühle, zu einer brachialen
Offensive gegen die sozialen Rechtspositionen der öffentlich Beschäftigten
anzusetzen. Damals misslang das jedoch gründlich. Das Juppé-Kabinett
hatte zu viele Angriffe gegen verschiedene soziale Bereiche miteinander zu einem
einzigen "Reform"vorhaben vermengt: Den Rückbau des öffentlichen Transportsystems
(die Stillegung von 6.000 "nicht rentablen" Streckenkilometern Bahn), die Angriffe
auf die Rentensysteme in verschiedenen öffentlichen Diensten - etwa bei
den Eisenbahnern -, die "Reform" der Krankenversicherung... Die Reaktionen im
Streikherbst - November und Dezember 1995, auf dem Höhepunkt waren 2 Millionen
Demonstrierende gleichzeitig in ganz Frankreich auf den Beinen - waren so heftig,
dass die Juppé-Regierung vom größeren Teil ihrer Vorhaben
abließ, nachdem sie sich ordentlich die Finger daran verbrannt hatte.
Besonders die Rentensysteme der öffentlich Bediensteten blieben daraufhin
unangetastet.
Die Regierung Raffarin, die den 1995er Albtraum der Neokonservativen natürlich
ebenfalls im Nacken sitzen hat, geht deswegen heute weitaus vorsichtiger und
behutsamer vor. Allerdings durfte auch bei Raffarin am Montag der Fingerzeig
auf die öffentlich Bediensteten nicht fehlen. Zwar führte er aus,
er "akzeptiere nicht, dass pauschale Urteile die öffentlich Bediensteten
als Privilegierte darstellen". Es folgte dann aber dennoch die Beschwörung
einer Situation, in der "ein wirklicher Konflikt zwischen dem (übrigen)
Land und den öffentlich Bediensteten" entstehen könnte, da deren Renten
ja vom Steuerzahler aufgebracht würden. Daher durfte auch der - bisher
sehr im Diffusen bleibende - Appel Raffarins an die "Erfordernisse der Gerechtigtkeit"
nicht fehlen, denen zufolge "die Situationen von Personen, die sich in vergleichbarer
Lage befinden, harmonisiert" - d.h. aneinander angeglichen - werden sollten.
Gleichzeitig rief der Regierungschef die Franzosen (demagogisch) zur "Überwindung
der Egoismen" auf.
Auf jeden Fall sucht die derzeitige Regierung, stärker als ihre Vorgänger
1995, auch die Gewerkschaften einzubinden. Daher hat Premierminister Raffarin
bisher nur den "Kalender", also den Zeitplan seiner so genannten Reform, vorgegeben.
Ab dem heutigen Dienstag, 4. Februar beginnt die "Konsultation" der verschiedenen
Gewerkschaftsorganisationen durch Arbeits- und Sozialminister François
Fillon. Über die Inhalte, die sie dabei letztendlich durchsetzen will,
schweigt die Regierung sich bisher größtenteils aus.
Dabei ist abzusehen, dass es der Regierung gelingen dürfte, eine Art von
Front aus "reformwilligen" Gewerkschafte rund um die sozialliberale und "modernistische"
CFDT, aber auch unter Einbezug der christlichen CFTC und der "unpolitisch-unabhängigen"
UNSA zu errichten. Die CFDT erhebt als Hauptforderung bereits jetzt, dass eine
stärker individualisierte Rente "à la carte" anerkannt werden müsse.
Dabei kehrt sie in der Öffentlichkeit vor allem das Beispiel jener Lohnabhängigen
nach außen, die zwar noch nicht das Rentenalter von 60 Jahren erreicht
haben, aber bereits länger als die (nunmehr) erforderlichen 40 Beitragsjahre
in die Rentenkasse eingezahlt haben, da sie seinerseits bereits im Alter von
14 oder 15 Jahren zu arbeiten begannen. Die Regierung wird sich wahrscheinlich
darauf einlassen. Auch ist die Rede davon, das Eintrittsalter in die Rede nach
Berufsgruppen und jeweiliger "Mühsamkeit" der Arbeit zu differenzieren
- ähnlich wie früher die Bergarbeiter ein früheres Renteneintrittsalter
hatten. Das mag in manchen Fällen ein legitimes Ziel sein, dient aber in
die Regierungsplänen vor allem dazu, die sozialpolitische Front zu zersplittern
und so einheitliche Mobilisierungen zu erschweren.
Im Gegenzug zur Annahme der CFDT-Forderung wird die Regierung jedoch fordern,
dass das Rentenalter in beide Richtungen - nach oben und nach unten hin - flexibilisiert
wird. D.h. ein abhängig Beschäftigter soll mit 55 Jahren in Rente
gehen "dürfen", aber eben auch mit 70 Jahren, wenn er länger zu arbeiten
wünscht. Den Ausschlag wird dann letztendlich die Höhe des Rentenanspruchs
geben. Hier aber liegt der neuralgische Punkt. Denn der öffentliche Diskus
gilt zwar der Beitragsdauer, die verlängert werden müsse - für
die öffentlich Bediensteten auf 40 Jahre, bei den Beschäftigten des
privaten Sektors war (in Testballons) bereits einmal von 41 Jahren die Rede.
(Der Arbeitgeber-Verband MEDEF fordert seit Beginn des Jahrzehnts eine Erhöhung
der Beitragsdauer auf 45 Jahre.) Doch in der Realität sehen die Dinge ohnehin
anders aus. Statt mit 60 Jahren, wie in der Theorie, hören die Lohanbhängigen
im privaten Sektor durchschnittlich mit 57,5 Jahren zu arbeiten auf. Die Differenz
erklärt sich aus der gerade in diesem Alter erhöhten Arbeitslosigkeit,
aus Massenentlassungen und aus Sozialplänen mit Vorruhestands-Regelungen,
die allzu oft vom Staat finanziert werden. Eigentlich auf dem Spiel steht daher
gar nicht unbedingt - jeweils in vielen Bereichen nicht - die reale Dauer des
Erwerbslebens, sondern die Höhe der sozialen Ansprüche, die ein Beschäftigter
am Ausgang seines Arbeitslebens erheben kann. In vielen Fällen tendieren
diese eben dann (oder bereits jetzt) hin zur Arbeitslosen- oder gar Sozialhilfe.
Eine wichtige Frage wird natürlich jene nach der Einführung und die
Rolle privater Rentenfonds sein. Bisher ausgeschlossen wird durch die Regierung,
jedenfalls auf der Diskursebene, die Schaffung börsennotierter Aktienfonds
für die Pensionen, wie sie in den USA gang und gäbe sind (...aber
im Zuge der jüngsten Börsenkrise zahlreiche Renter/innen für
mehrere Jahre ruiniert haben). Sie "sind unserer Sozialgeschichte fremd", erklärte
Raffarin in seiner Rede am Montag. Gedacht wird aber wohl daran, Ähnliches
unter anderen Formen einzuführen - die konservative Mehrheit unter Alain
Juppé hatte im März 1997 bereits ein Gesetz zur Einführung
privater Rentenfonds verabschiedet, das aber durch den Regierungswechsel in
der Schublade verschwand (die Loi Thomas).
Heute ist vor allem daran gedacht, etwa betriebliche "Sparfonds" - die an die
einzelnen Unternehmen gebunden sind - einzuführen (für die bereits
Jospins Finanzminister Laurent Fabius die Tore geöffnet hat). Oder auch
daran, private Rentenfonds ähnlich der oben beschriebenen einzuführen
- aber "unter Kontrolle der Sozialpartner", etwa mit gewerkschaftlichen Vertretern
in den Aufsichtsräten. Manche "modernisierungswillige" Gewerkschafter versprechen
sich davon, eine "ökologische und soziale Orientierung" der Investionen
(die durch die Fonds getätigt würden) zu gewährleisten. Die "offizielle"
CFDT, aber auch der besonders "modernisierungsbewusste" Teil der CGT (um den
Wirtschaftswissenschaftler Jean-Christophe Le Duigou) etwa wären dafür
durchaus zu gewinnen.
Die Gewerkschaften demonstrierten zwar bisher gemeinsam Stärke. Am Samstag,
1. Februar demonstrierten - zum ersten Mal seit langem - die sieben zahlenmäßig
bedeutsamsten Gewerkschaftsorganisationen (CGT, CFDT, FO, CFTC, CGC, die Lehrergewerkschaft
FSU und der <Verband der Unabhängigen> UNSA) gemeinsam hinter einem
Fronttransparent in Paris. Auch die linken Basisgewerkschaften SUD hatten zu
der Demonstration aufgerufen. Neben Paris, wo rund 30.000 Demonstrierende auf
die Straße gingen, fanden in 110 weiteren französischen Städten
Demos statt. Insgesamt nahmen daran rund 350.000 Personen teil. Das ist etwas
mehr als die insgesamt 300.000 TeilnehmerInnen am letzten landesweiten Demonstrationstag
zum Thema "Rettung der Renten", am 25. Januar 2001. Es ist aber bisher "keine
Massenmobilisierung, nur eine Warnung", wie die Wirtschaftszeitung La Tribune
schreibt.
Doch die Fassade der gewerkschaftlichen Einheit dürfte alsbald zerbröckeln,
zumal der gemeinsame Aufruf für Samstag wachsweich gehalten worden war,
um sie nicht vorab in Frage zu stellen. Vor allem die CFDT zeigt sich bereits
deutlich von den Sirenenklängen der Regierung angezogen. Der CFDT-Generalsekretär
François Chérèque etwa sagte am Montag, nach der CES-Rede
des Premierministers : "Der Premier hat gehört, was die Beschäftigten
am Samstag (Anm.: anlässlich der Demos) gesagt haben. (...) Herr Raffarin
ruft zu einem wirklichen <Test für den sozialen Dialog> auf. Wir
stehen bereit." Am Samstag selbst hatte der CFDT-Chef bereits erklärt,
dass er darum gehe, "der Regierung zu zeigen: Hier tun sieben Gewerkschaften
sich zusammen, um zu sagen: -<Man muss eine Rentenreform machen>.
(Anm.: !!) Und um der Regierung zu zeigen, dass sie diese Botschaft hören,
und mit den Gewerkschaften zusammen arbeiten muss."
Radikalere Positionen nehmen derzeit besonders der Dachverband Solidaires (er
umfasst vor allem die linksalternativen SUD-Basisgewerkschaften und einige weitere
Organisationen), die Lehrergewerkschaft FSU und der populistische Gewerkschaftsbund
Force Ouvrière ein. Alle drei fordern derzeit, das Problem der Ungerechtigkeit
zwischen privat und öffentlich Beschäftigten dadurch zu lösen,
dass man die Balladur-Reform zurücknimmt und zu den 37,5 Jahren Beitragsdauer
- wie sie vor 1993 galten - zurückkehrt. (Das war damals noch die Positionen
aller Gewerkschaften, die 1993 die Reform ablehnten...) Auch die CFDT-Linke
teilt diese Position, in schroffem Gegensatz zum Dachverband CFDT, der davon
absolut nichts hören will.
Hingegen sind die Dachverbände CFDT (sozialdemokratisch, die Spitze ist
klar neoliberal orientiert), UNSA ("unpolitisch-unabhängig", aber normalerweise
den Orientierungen der CFDT folgend) und CGC (die Gewerkschaft der höheren
Angestellten) im Prinzip offen für eine Verlängerung der Beitragsdauer
im öffentlichen Dienst und den öffentlichen Betrieben. Derzeit fordern
sie lediglich bestimmte Gegenleistungen dafür, etwa die Einbeziehung bestimmter
Lohnzuschläge in die Bemessungsgrundlage der Rente.
Irgendwo in der Mitte steht die CGT, die derzeit eine eher undefinierbare Position
einnimmt. Einerseits sucht sie, um fast jeden Preis an der "gewerkschaftlichen
Einheit" mit der ungefähr gleich starken CFDT - die beiden bilden zusammen
die zahlenmäßig stärksten Dachverbände - festzuhalten.
Andererseits stellen in ihrem Inneren einige Sektionen und Branchenorganisationen
spürbar radikalere inhaltliche Forderungen auf, namentlich auch nach einer
Rückkehr zu den "37,5 Jahren" (eine Forderung, die allgemein durch Nennen
der bloßen Zahl verstanden wird). Dort, wo die CGT-Verbände sich
entsprechend posioniert hatten, findet sich die Forderung nach den "37,5" übrigens
mitunter auch in den gemeinsamen Aufrufen zu den lokalen und regionalen Demonstrationen
vom Samstag wieder - im Gegensatz zum Pariser Aufruf zum 1. Februar.
Die Regierung selbst lässt bisher offen, wie stark sie auf die Gewerkschaften
bei der Reform zugehen wird. Am vorigen Samstag (1. Februar) hieß es am
Regierungssitz gegenüber der Presse (Le Monde), von "Verhandlung" könne
keine Rede sein, da letztendlich das Parlament entscheide - wohl aber von "vertiefter
Konzertierung". Arbeitgeber-Präsident Ernerst-Antoine Seillière
stellte aus Sicht seines Lagers klar, dass das Wort "Verhandlung" gar nicht
in Frage komme, da das letzte Wort bei der Regierung liegen müsse, und
wollte nur eine "Konsultierung" gelten lassen. Dagegen unterstrich Sozialminister
François Fillon - der um Glättung der Wogen bemüht sein muss
- später am Samstag abend, doch doch, es handele sich um Verhandlungen
: "Wir verhandeln mit den Gewerkschaften, dann stimmt das Parlament ab" - was
ja irgendwie auch bedeutet, dass die Regierungsmehrheit im Parlament das letzte
Wort behält. Die Gewerkschaften seien aber auf jeden Fall "nicht bloße
Zuschauer".
Berater des Premierministers bemühten am Samstag die Formel von der "gemeinsamen
Reise", wobei auch klar sein müsse : "Wenn die Gewerkschaften uns nach
Nizza (in Südostfrankreich) bringen wollen, wir aber nach Perpignan (im
Südwesten) wollen, dann wird es ein Problem geben." Am Montag sprach Premierminister
Raffarin dann von "Dialog".
Der Zeitpunkt, zu dem die Regierung die "Rentenreform" (siehe 1. Teil) - wie angekündigt - lanciert, wird allerdings von einigen Ereignissen an der sozial- und wirtschaftspolitischen "Front" überschattet, die der Regierung gerade in dem Moment kaum in den Kram passen können. Auch wenn Premierminister Jean-Pierre Raffarin sich Anfang Februar noch auf positiven Umfragewerten von 55 bis 60 Prozent der Befragten ausruhen konnte - denn die Regierung ist bisher bei den schmerzhaften "Reformen" sehr zurückhaltend vorgegangen, und hat deswegen die sozial- und wirtschaftspolitischen Themen ein halbes Jahr lang hintangestellt -, droht die Idylle doch, nicht von Dauer zu sein.
Das erste Mal richtig in die Suppe der Regierung gespuckt wurde am 9.. Januar
2003. An jenem Tag stimmten die 138.000 Mitarbeiter der beiden, bisher noch
öffentlichen, Energieversorgungsbetriebe EDF (Elektrizität, 113.000
Mitarbeiter) und GDF (Gas, 25.000 Beschäftigte) über die Zukunft ihres
spezifischen Rentensystems ab. Dabei ging es vor allem darum, die Privatisierung
der beiden Versorgungsbetriebe - die 1946 als einheitliches Unternehmen, EDF-GDF,
begründet und vor wenigen Jahren erst in zwei autonome Einheiten aufgetrennt
wurden - einzuleiten. Der Staatsanteil an den Unternehmen soll unter die 50-Prozent-Marke
gedrückt werden. Um aber für Investoren attraktiv erscheinen zu können,
sollen die Renten aus dem betrieblichen Rechnungssystem von EDF ausgeklammert,
und in die allgemeine Rentenkasse eingegliedert werden. Bisher genossen die
EDF- und GDF-Beschäftigten ein spezifisches Rentensystem, das relativ vorteilhaft
war (der Renteneintritt ist im Prinzip ab dem Alter von 55 Jahren möglich,
wobei die volle Rentenhöhe - 75 Prozent des Endgehalts - beim Erreichen
von 37,5 Beitragsjahren ausgeschöpft werden kann) und integraler Bestandteil
der Unternehmensfinanzen. Im Übrigen spricht man im EDF-Jargon nicht von
"Beschäftigten und Rentnern", sondern von "aktiven und inaktiven Beschäftigten".
Die EDF-Leitung - die sich bereits in den letzten Jahren wie ein privater Konzern
verhalten hatte, u.a. durch eine extensive Politik des Aufkaufs von Unternehmen
in Ländern von Italien bis Argentinien - und die Regierung wollten nunmehr
dieses "Gewicht" aus den Rechnungsbüchern des Privatisierungskandidaten
entfernen. Im Gegenzug garantierten sie den, bisher (also vor der "Reform")
bei EDF beschäftigten, Lohnabhängigen die Beibehaltung ihrer Rentenhöhe
und -konditionen. Die Pension als "gesondertes Regime" in die allgemeine Rentenkesse
eingegliedert werden. (Für die künftig eingestellten Beschäftigten
allerdings könnten sich die Konditionen dann ändern.)
Ein entsprechendes Abkommen mit den Gewerkschaften wurde am 9. Dezember von
vier Organisationen unterzeichnet - der ehemals KP-nahen (und bei EDF bisher
dominierenden) CGT, der sozialdemokratischen CFDT, der christlichen CFTC und
der Gewerkschaft der höheren Angestellten, CGG. Hingegen lehnte der populistische
Gewerkschaftsbund FO das Abkommen rundheraus ab. Im Gegenzug zur Beibehaltung
der Konditionen ihrer Rente für die bisherigen Beschäftigten stimmten
die Gewerkschaften einer Erhöhung der Rentenbeiträge der abhängig
Beschäftigten - die bisher bei den Versorgungsbetrieben relativ niedrig
lagen - von 7,85 % auf 11 % zu.
Doch innerhalb der Gewerkschaften kam es zu heftigen Konflikten. Die CFDT-Branchengewerkschaft
unterzeichnete das Abkommen, aber dem Vernehmen nach waren 80 Prozent ihrer
Einzelgewerkschaften gegen die Unterschrift. Die CGT-Energie, die bisher bei
EDF die - sehr korporatistisch geprägte, und stark mit dem Nuklearfilz
verflochtene - Mehrheitsgewerkschaft bildete, war zwar an der Spitze für
das Abkommen. Aber in ihrem Inneren blieb die CGT dermaßen gespalten,
dass sie unter der Bedingung unterschrieb, dass eine Urabstimmung der Beschäftigten
anberaumt werde. Dies war zu Zwecken der besseren Legitimation gedacht; zu dem
Zeitpunkt dachte niemand ernsthaft an eine mehrheitliche Ablehnung durch die
Beschäftigten. Zwei Tage vor der Abstimmung vom 9. Januar sprach sich Denis
Cohen, der Vorsitzende der Branchensektion CGT Energie, in Le Monde zugunsten
der Annahme der Reform aus.
Doch dann kam die Überraschung: 53,42 Prozent der Abstimmenden votierten
mit "Nein". Dabei war die Ablehnung unter den aktiven Beschäftigten (ihre
Wahlbeteiligung betrug 75,7 Prozent) noch deutlich stärker, denn zunächst
wurden Ablehnungswerte nahe der 60-Prozent-Marke bekannt gegeben. Das Ergebnis
fiel durch das Votum der "inaktiven Beschäftigten", also der Rentner (von
ihnen stimmten "nur" 45,8 Prozent ab), gemäßigter aus.
Für die Regierung bedeutete dies einen deutlichen Rückschlag, auch
wenn sie sich nicht an das Votum gebunden wissen will - aus ihrer Sicht stellt
dieses (das durch die CGT verlangt worden war) lediglich ein Meinungsbild dar.
In seiner Rede vom Montag, 3. Februar zur Rentenreform bezog sich Premierminister
Raffarin nochmals auf die "Reform" bei EDF, als positives Beispiel für
eine vernünftige Regelung, "welche die Regierung unterstützt".
Am 14. Januar 2003 dann nahm Premier Jean-Pierre Raffarin an der jährlichen
Generalversammlung des Arbeitgeberverbands MEDEF ("Bewegung der Unternehmen
Frankreichs") teil, wo er sich im Applaus sonnte. Dies war eine Premiere: Zum
ersten Mal - seit Jahrzehnten zumindest - ließ ein amtierender
Regierungschef sich auf solch demonstrative Nähe mit dem MEDEF, der vor
1998 noch CNPF (Nationalrat des französischen Patronats) hieß, ein.
Auf die wohlgesonnenen Vorhaltungen von MEDEF-Boss Ernest-Antoine (Baron) de
Seillière, das "Reform"tempo der Regierung sei nicht schnell und entschieden
genug, entgegnete Raffarin: "Ich gehe nicht moderato vor, sondern allegro."
Das bedeutete mit anderen Worten: Ich betreibe keine "gemäßigte"
Politik, aber ich bin gewillt, sie "gemächlich" umzusetzen - ein Hinweis
auf die methodischen Zwänge, denen sich das Regierunghandeln aufgrund möglicher
sozialer Widerstände ausgesetzt sieht.
Dieser demonstrative Nähebeweis zum MEDEF könnte ein politischer Fehler
gewesen sein, wie sich vielleicht erst später herausstellen wird. Hinzu
kam, dass am 28. Januar in der Fragestunde der Nationalversammlung durch die
(sozialdemokratische) Opposition auf die geplante Senkung der Vermögenssteuer
ISF - die nur durch Bestverdienende bezahlt wird - insistiert wurde. Tatsächlich
enthält das Gesetz zur "Förderung der wirtschaftlichen Initiative"
- das Unternehmen Anreize geben soll - vier Bestimmungen zur Absenkung der ISF-Steuer
auf große Vermögen, die Unternehmenseinlagen stärker davon ausnehmen
sollen, im Namen der "Förderung von Beschäftigung". Dieses Gesetz
wird seit dem 4. Februar in der Nationalversammlung diskutiert. Die entsprechenden
Passagen wurden durch die Umgebung des ultraliberalen Politikers und französischen
Berlusconi-Fans Alain Madelin (der 1994/95 kurzzeitig Wirtschaftsminister war)
eingebracht. Da zu diesem Zeitpunkt bereits die Affäre um die Massenkündigungen
- aufgrund des Metaleurop-Skandals - aufgebrochen war, ließ es sich der
sozialdemokratische Parteichef François Hollande nicht nehmen, die Regierung
an dieser Stelle zu sticheln : Monsieur Raffarin habe "(lediglich) Mitgefühl
für die Entlassenen, und (Anmerkung: aber) Großzügigkeit für
die Inhaber von Großvermögen übrig". Dieser Satz dürfte
ein Stück weit in das kollektive Gedächtnis eingegangen sein, was
sich irgendwann noch einmal rächen könnte.
"Die Zeit der Ganoven in Unternehmergestalt", mit dieser Schlagzeile machte
die Pariser Libération am 21. Februar auf. Nicht deswegen, weil die linksliberale
Tageszeitung einen klassenkämpferischen Linienwechsel vollzogen hätte.
Denn auch die konservativ-liberale Umweltministerin Roselyne Bachelot sprach
wenige Tage später von "industriellen Ganoven" und fügte hinzu: "Man
findet dieselben Namen, wenn es um Menschenhandel geht, um Drogengeschäfte,
um die Meeresverschmutzung" - eine Anspielung auf die Ölpest, die vor einigen
Wochen durch dasTankerunglück der Prestige ausgelöst wurde - oder
eben "um die Industrie-Ganoven". Die Rede war konkret vom Schweizer Metallhändler
Glencore, der seit seiner Gründung 1994 im Kanton Zug ansässig ist
- weil dieser eine "Steueroase" bilde, wie die Pariser Abendzeitung Le Monde
präzisiert.
Glencore war 1994 aus einem vorstandsinternene Streit beim Unternehmen des belgischstämmigen
US-Finanzmagnaten Marc Rich heraus entstanden. Das Management hatte sich gegen
den Versuch des Vorstandschefs gesträubt, seinen Vize - den Deutschen Willy
Strothotte - zu entlassen, und hatte unter Führung des Letztgenannten daraufhin
eine eigene Firma gegründet, eben Glencore. Das Unternehmen spezialisierte
sich auf die Förderung von und den Handel mit Metallen und investierte
etwa in den Alumiumsektor in den USA, den Blei- und Zink-Abbau in Peru und Kasachstan
oder die Kohleförderung in Südafrika. Wegen ihrer geschäftlichen
Erfolge kürte die Londoner Fachzeitschrift Metals Business die Firma im
Jahr 2002 zum "besten Metallhändler" des Jahres, auch wenn "dubiose Praktiken
in afrikanischen Ländern" - so wiederum Le Monde - ihrem Ansehen
in der Londoner City geschadet hätten. Marc Rich - der in den 80ern die
USA fluchtartig wegen Steuerbetrugs verlassen hatte müssen, aber kurz vor
dem Amtswechsel im US-Präsidentenamt 2000/01 durch den scheidenden Amtsinhaber
Bill Clinton amnestiert wurde, da er dessen Demokratischer Partei eine Million
Dollar gespendet hatte - seinerseits versuchte, 2001 seine Investmentfirma
MRI an die russische Gesellschaft Crown Resources zu verscherbeln, die ihren
Sitz ebenfalls in Zug hat und die tief in das Prestige-Tankerunglück verwickelt
ist. Die Übernahme scheiterte daran, dass die Geldmittel der russischen
Firma ein wenig zu offenkundig aus kriminellen Geschäften herrührten.
In Frankreich ist Glencore der wichtigste Aktionär der seit den 1890er
Jahren im Betrieb befindllichen Firma Metaleurop in Noyelles-Godault,
in der alten Kohle- und Stahlregion Pas de Calais unweit der belgischen Grenze.
Der Betrieb verarbeitet vor allem Blei und Zink für Batterien, in jüngerer
Zeit wird auch Recycling betrieben. Er gehört einem europäischen Konzern,
(dem Groupe européen des métaux) der 1988 aus der Fusion
spanischer und deutscher Metallfirmen hervorging. Obwohl seine Schwermetall-Emissionen
in die Luft seit den 1970er Jahren zurückgingen - von damals zwei Tonnen
pro Tag, auf jetzt 50 bis 80 Kilogramm täglich - bleibt der Betrieb der
grösste Blei- und Kadmium-Verschmutzer in ganz Frankreich. Über 10
Prozent der Kinder in der Umgebung leiden an Bleivergiftung. Seit 1996 hat die
Firma deswegen 4 Millionen Euro seitens der EU-Kommission in Brüssel einkassiert,
die der Sanierung des Produktionsstandorts dienen sollten.
Aber der Aktionär "kassierte, verschmutzte und ging", wie Libération
kurz und treffend zusammenfasste. Glencore beauftragte zwar im letzten Jahr
ein Büro von Fachanwälten für Umweltrecht mit Verhandlungen über
die Entseuchung. Doch diese bildeten nur eine Fassade. Denn seit mindestens
einem Jahr, so schätzen nunmehr Regierungsbeamte, bereitete der Investor
die Zerlegung des Konzers vor. Ziel: Die finanzielle Austrocknung der Filiale
im Norden Frankreichs - um seinen umweltrechtlichen ebenso wie sozialen Verpflichtungen
zu umgehen. Das betrifft einerseits einen Sozialplan vom Juli 2002 für
250 der insgesamt 830 Beschäftigten, der bisher nicht umgesetzt worden
war, andererseits aber auch die seit 2002 geführten Verhandlungen mit der
im Umweltschutz tätigen Anwohnerinitiative DEA bezüglich der Entseuchung
des Geländes. (Davor hatten 60 Anwohner wegen Bleivergiftung gegen den
Betrieb geklagt.)
Als Metaleurope am 27. Januar 03 den Konkurs beim Amtsgericht im nordfranzösischen
Béthune beantragte, war längst kein Geld mehr in der Kasse, um den
gesetzlichen Verpflichtungen der Firma nachzukommen. Weder für einen alten
oder neuen Sozialplan - die 1,2 Millionen in der Firmakasse genügen nicht
einmal, um die Löhne für den Monat Januar zu bezahlen, geschweige
denn zur Einhaltung gesetzlicher Kündigungsfristen - noch für die
obligatorische Entseuchung. Der Konzern Glencore selbst macht unterdessen einen
Jahresumsatz von 70 Milliarden Schweizer Franken. Die 830 Beschäftigten
stehen buchstäblich auf der Straße, in einem Bezirk, in dem die Arbeitslosigkeit
ohnehin - je nach umliegendem Stadtteil - 23 bis 25 Prozent beträgt. Seit
dem 1. Februar sind sie nunmehr allesamt in die technische Arbeitslosigkeit
geschickt worden. In der Region dürfen sich nunmehr die zurück gebliebenen
Anwohner darüber zerstreiten, welches von beiden legitimen Anliegen - der
Umweltschutz oder der Erhalt von Beschäftigung - Vorrang haben müsse,
da das Vorgehen des Unternehmens nunmehr beide Interessen scheinbar gegeneinander
gestellt hat.
Das Handelsgericht in Béthune, bei dem der Konkurs für Metaleurope
beantragt worden war, lehnte die Auflösung der Rechtsperson des Betriebes
jedoch zunächst ab. (Dass das Handelsgericht in Béthune für
zuständig erklärt wurde, und nicht jenes - deutlich stärker wirtschaftsliberal
orientierte - von Paris, ist bereits als kleiner Erfolg zu bezeichnen.) Zunächst
soll der Sozialplan vom Vorjahr umgesetzt, und drei Monate lang die Suche nach
potenziellen Investoren fortgesetzt werden. Die Pariser Regierung ihrerseits
kündigte an, bei der beruflichen Umorientierung der 830 Beschäftigten
zwecks Einstellung bei anderen Unternehmen behilflich zu sein. (Im landesweiten
Durchschnitt finden bei solchen Massenentlassungen jedoch 60 Prozent der betroffenen
Beschäftigten nach einem Jahr, und 36 Prozent auch nach 5 Jahren noch keinen
Job.) Die Regierung geht in ihren Hypothesen von einer Aufgabe des Standorts
durch den bisherigen Betrieb aus. Ab 2004 sollen durch steuerliche Erleichterungen
Neuinvestoren an den Standort gelockt werden, für dessen Entseuchung Paris
eine Million Euro locker machen wird. Der Investor hatte seit 1996 bereits vier
Millionen Euro der EU-Kommission zu Entseuchungsmassnahmen einkassiert, die
in die eigene Tasche flossen.
Am vorigen Samstag (1. Februar) demonstrierten zwischen 3.500 und 5.000 Menschen
aus der Region in der Kleinstadt Noyelles-Delevoye, wo Metaleurop liegt, für
Zukunftschancen der Region. Schulen und Geschäfte blieben aus Solidarität
geschlossen. Dazu reisten auch die KP-Sekretärin Marie-George Buffet und
die sozialdemokratische Politikerin Marie-Noëlle Lienemann (zweitere hatte
im Vorjahr vergeblich im Wahlkreis kandidiert) aus dem Pariser Raum an.
Rechtliche Schritte gegen die "Piraten der Ökonomie" hat Frankreichs Arbeits-
und Sozialminister François Fillon in der Sonntagszeitung JDD vom 2.
Februar angekündigt. So sollen grenzüberschreitende Ermittlungen gegen
den Schweizer Aktionär Glencore eingeleitet werden. Doch zugleich ist seine
Regierung nicht eben "unschuldig" an der Fülle sozialer Hiobsbotschaften,
denen derzeit Beschäftigte an verschiedenen Enden des Landes ausgesetzt
sind.
Seit ungefähr drei Wochen häufen sich in Frankreich die Fälle
von Massenentlassungen, oft unter Einsatz brutaler Methoden. Beim nordfranzösischen
Parfumhersteller Palace Parfum wurde die Fabrik während des Weihnachtsurlaubs
ohne Vorwarnung leergeräumt, die Beschäftigten fanden sie am 3. Januar
abrupt geschlossen vor. Die Betriebssetzung durch die 650, auf die Straße
gesetzten Beschäftigten beim Chipkarten-Hersteller ACT im westfranzösischen
Angers - die Firma war zuvor vom Elektronikriesen Bull an US-Investoren verkauft
worden, die Pleite gemacht hatten, weshalb die Entlassenen beim benachbarten
Bull-Werk besetzen gingen - wurde am 24. Januar durch ein Großaufgebot
Bereitschaftspolizei beendet.
Eine Elektronikfabrik des südkoreanischen Konzerns Daewoo in Lothringen
mit rund 600 Beschäftigten, die geschlossen werden sollte, brannte in der
Nacht davor "praktischerweise" nieder - das Werk unbekannter Brandstifter. Der
Daewoo-Konzern, der zuvor in dem Werk Elektronikröhren für den polnischen
Markt hergestellt hatte, will sich aus Frankreich zurückziehen ; seine
beiden letzten Produktionsstandorte in Frankreich waren das ausgebrannte Orion-Werk
und ein weiterer Standort in Lothringen, dessen Stillegung ebenfalls eingeleitet
wurde.
Neben diesen (wahrscheinlichen) Brutalo-Methoden setzen auch renommierte Konzerne
derzeit massiv auf die Straße. Der Stahlriese Arcelor - hervor gegangen
aus eine transnationalen europäischen Fusion, an welcher der französische
Stahlkonzern Usinor führend beteiligt war - gab Ende Januar bekannt, bis
im Jahr 2010 mehrere europäische Produktionsstandorte (Eisenhüttenstadt
und Bremen in der BRD, Liège in Belgien, Florange in Lothingen) sukzessive
zu schließen und dabei 8.000 Stellen abzubauen. Die gesamte europäische
Stahlproduktion soll auf die beiden französischen Standorte Fos-sur-Mer
und Dunkerque konzentriert werden, da durch deren Küstennähe (zum
Mittelmeer bzw. Ärmelkanal) die Transportkosten drastisch reduziert werden,
weil die Rohstoffe für die Stahlproduktion längst nicht mehr aus den
benachbarten (ehemaligen) Kohlerevieren kommen.
Der französische Usinor- bzw. der nachfolgende europäische Arcelor-Konzern
hatte erst anlässlich der Fusion im Jahr 1998 den belgischen Produktionsstandort
Liège übernommen. Die Belgier sehen sich nunmehr verschaukelt, da
es Usinor aus ihrer Sicht nur darum gegangen sei, die am "Traditions"-Standort
Liège gehaltenen Patente einzusacken und den belgischen Betrieb auszuschlachten,
um ihn jetzt inšs Aus zu stoßen. Die belgische Region Wallonei hat bereits
gerichtliche Klagen und andere Aktionen angekündigt, unter anderem eine
"Guerilla" als Minderheiten-Aktionär (die wallonische Regionalregierung
hält 4,25 Prozent der Anteile am europäischen Konzern Arcelor).
Die Tatsache, dass der jetzige französische Wirtschaftsminister Francis
Mer der ehemalige Unternehmensführer von Usinor ist (wo er in den 80er
Jahren Massenentlassungen im lohtringischen Stahl- und Kohlebecken managte)
trägt wohl nicht unbedingt zur Förderung seines Images in diesem Zusammenhang
bei. Die Tatsache, dass die Pariser Abendzeitung "Le Monde" am 30. Januar 03
berichtete, Francis Mer besitze 225.000 Arcelor-Aktien mit Vorzugsausschüttung
(stock options), auch nicht.
Der Zeitpunkt ist kein Zufall, denn kurz vor der Weihnachtspause - am 19. Dezember
02 -beschloss die Regierungsmehrheit im Parlament die "Suspendierung" der Vorschriften
zum Kündigungsschutz, die im Juni 2001 - nach den börsenbedingten
Massenkündigungen bei Danone - verschärft worden waren. Die damaligen
Maßnahmen der Jospin-Regierung hatten zwar eher nur symbolischen Wert.
So sieht das so genannte "Gesetz zur sozialen Modenisierung" (ein Kraut- und
Rübengesetz zu arbeitsrechtlichen Themen), das nach seiner Eindämpfung
durch das Verfassungsgericht am 17. Januar 2002 in Kraft trat, folgende Punkte
vor. Erstens, dass die Abfindungszahlungen im Fall betriebsbedingter Entlassungen
von 5 % auf nunmehr 10 % eines Monatsgehalts pro Jahr Betriebszugehörigkeit
erhöht werden. Das ist reine Augenwischerei, denn in fast allen Fällen
sehen Betriebsvereinbarungen und Sozialpläne ohnehin deutlich mehr als
dieses (alte oder neue) gesetzliche Minimum vor.
Zweitens, dass der Betriebsrat ein Vorschlagsrecht für alternative Optionen
- anstatt des geplanten Stellenabbaus - erhalten soll. Der Arbeitgeber ist aber
letztlich nur verpflichtet, die Vorschläge anzuhören und zu antworten.
Der Betriebsrat erhält das Recht, in einem Eilverfahren vor dem Richter
eine Feststellungsklage zu erheben, um sicherzustellen, dass die Anhörung
seiner Vorschläge stattgefunden hat. (Diese - an sich eher symbolische
- Vorschrift hätte allerdings einen Vorzug gehabt: Die Argumentation des
Arbeitgebers in diesem Kontext hätte die Vorlage für einen eventuellen
späteren Streit vor Gericht liefern solle. Falls die Argumente de Arbeitgebers
also nichts taugen, hätte dies zur besseren Anfechtbarkeit nicht
gerechtfertigter Kündigungen beitragen können.) Drittens erhielt der
Betriebsrat eine Art Vetorecht, das einen Entlassungs- oder Sozialplan allerdings
nur für die Dauer maximal eines Monats zu blockieren vermag. In dieser
Phase hat der Betriebsrecht lediglich das Recht, einen "Vermittler" anzurufen
; zu diesem Zweck sollte eine offizielle Liste möglicher "Vermittler" vom
Arbeitsministerium erstellt werden. Im Gespräch waren - so schrieb Le Monde
im Juni 2001 - "Betriebsberater, ehemalige Unternehmensführer und Beamte
im gehobenen Dienst, die in der Lage sind, eine (betriebswirtschaftliche, B.S.)
Diagnose zu erstellen". Real ist es nie dazu gekommen, denn die Ausführungsbestimmungen
für dieses Gesetz - das zu Anfang des "Superwahljahrs" 2002 in Kraft trat
- sind nie vom Ministerium erlassen worden. Es hat also nie Anwendung gefunden.
Mit einer sozialen Revolution hatte diese Gesetz also offenkundig nichts zu
tun. Dennoch wurde es durch die Arbeitgeber als "lästig" betrachtet, da
es die Fristen im Falle betriebsbedingter Kündigungen zu verlängern
drohte. Aber ihre "Einfrierung" für 18 Monate durch die neue rechte
Mehrheit hatten Teile des Arbeitgeberlagers wie ein Freibrief interpretiert.
Minister Fillon kritisiert zwar die skrupellosesten Vertreter des Kapitals,
wie im Fall Metaleurop. Zugleich erklärte er jedoch in der letzten Januarwoche:
"Man hat viel zu lange glauben lassen, der Staat könnte die Unternehmen
darin hindern, zu entlassen." Und : "Das wäre, als wollte man Krankheit
einfach verbieten." (Stattdessen soll die Angebotspolitik verbessert werden,
d.h. den Unternehmern soll das Investieren wieder einmal schmackhafter gemacht
werden...)
Auch öffentliche Unternehmen wie EDF und die Post kündigten in den
letzten Tagen Stellenstreichungen an. Die letzte Hiobsbotschaft kam am 6. Februar:
Die Verhandlungen mit einem potenziellen niederländischen Investor für
die Übernahme der Fluglinie Air Lib waren gescheitert. Damit verlor die
seit knapp zwei Jahren schwer gebeutelte Luftfahrgesellschaft ihre Flugerlaubnis.
Air Lib war zum Teil Opfer des "Bosses der Bosse", des Barons Seillière,
geworden. Tatsächlich hatte der MEDEF-Präsident davor seinen Namen
in einer Unternehmensallianz, in der er 50 Prozent der Anteile hielt, für
die Schweizer Luftfahrgesellschaft SwissAir hergegeben. Die SwissAir als Unternehmen
eines Nicht-EU-Staats hätte sonst nämlich nicht in Frankreich als
Fluggesellschaft aktiv werden können. Als die SwissAir aufgrund finanzieller
Probleme jedoch im März 2001 ihren Rückzug vom französischen
Markt bekannt gab, ließ Ernest-Antoine Seillière seinen Anteil
fallen wie eine heiße Kartoffel. Air Lib sitzt seitdem in der Tinte. Seit
dem 7. Februar sehen die insgesamt 3.200 Beschäftigten nunmehr ihrer Entlassung
entgegen.
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