LabourNet Germany Dies ist das LabourNet Archiv!!! Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany |
||||
Home | Über uns | Suchen | Termine |
Die extreme Rechte bleibt präsent
Chirac und Jospin: Kampf um die bürgerliche Mitte
Seit Donnerstag, den 4. April 02 ist es jetzt amtlich: 16 Kandidaten und Kandidatinnen
können zur französischen Präsidentschaftswahl am 21. April antreten.
Die beiden bestplazierten unter ihnen werden dann am 5. Mai in die Stichwahl
gehen, die vermutlich inhaltlich recht öde werden dürfte, zumal die
Namen der beiden mutmaßlichen Kontrahenten längst bekannt sind :
Der bürgerliche Präsident Jacques Chirac und der sozialdemokratische
Premierminister Lionel Jospin. Der Trend zur "ideologiefreien" und inhaltsleeren
Politik als Personality-Show hat längst auch die großen Parteien
in Frankreich erfasst. Doch zum Glück gibt es hier noch einige andere politische
Akteure, die den Protagonisten der verordneten Langeweile in die Suppe spucken
können, so beispielsweise linksradikale Parteien auf europaweit einmaligem
Niveau.
Die schlechte Nachricht zuerst: Jener Kandidat, der einige Wochen lang die
Medien mit der Frage beschäftigt hatte, ob er nun die Voraussetzungen für
eine Präsidentschaftskandidatur erfüllen könne oder nicht, wird
nun ebenfalls dabei sein. Jean-Marie Le Pen, der Altfaschist und Chef des rechtsextremen
Front National (FN), hatte zuvor Zeter und Mordio geschrieen, da er die erforderlichen
500 Unterstützungs-Unterschriften von Mandatsträgern der Republik
zunächst nicht zusammenbrachte. (Volksstimme berichtete.) Am Ende hat es
dann doch auch für ihn gereicht. Bürgermeister kleinerer Kommunen
geben ihre "Wahlpatenschaft" oft im Namen der Demokratie und des Parteienpluralismus
Kandidaten (deren Parteien nicht über genug eigene Mandatsträger verfügen),
auch ohne deren politische Überzeugungen zu teilen. Davon hat anscheinend
auch Le Pen letztendlich profitiert.
Seitdem der Front National sich vor drei Jahren gespalten hat und ein Drittel
seiner Mitglieder, aber eine deutliche Mehrheit seiner Kader und Strategen in
die aktivistische Splitterpartei seines geschaßten Chefideologen Bruno
Mégret - den 1999 gegründeten Mouvement National Républicain
(MNR) - gewechselt sind, ist der Front National nicht mehr die gleiche faschistische
Bewegungspartei wie davor. Nunmehr ist die Basis zum - tendenziell passiven
- Fanclub des starken Manns an der Spitze reduziert, der sein persönliches
Spiel betreibt und im Moment sogar demonstrativ viel Kreide geschluckt hat.
Altersweisheit vortäuschend, sucht Le Pen sich seit Anfang des Jahres gar
als im Grunde gemäßigten "Mitte-Rechts-Politiker" (sic) zu verkaufen,
wenngleich der ebenso rassistische wie antisemitische Urgrund seiner Programmatik
unweigerlich bei jedem inhaltlichen Beitrag zum Vorschein kommt. Le Pen - der
älteste unter den 16 Präsidentschaftskandidaten - kommt freilich in
die Jahr, und er hat jeden Gedanken an eine Nachfolge, die das Überleben
der Partei über seinen eigenen Abgang hinaus garantieren könnte, mit
dem Hinauswurf Mégrets erstickt. Daher arbeitet der Gründervater
des Front National heute weit mehr an seinem eigenen Nachruf denn für ein
auf lange Sicht hin angelegtes, politisches Projekt.
Das mag trösten, wenn man zugleich feststellen muss, dass dem politischen
Auslaufmodell Jean-Marie Le Pen zugleich auch in diesem Jahr bedeutender Erfolg
beschert sein dürfte. Denn seit dem Aufruhr, den Le Pen rund um die (ihm
zeitweise fehlenden) "Wahlpaten" veranstaltet hat, stand der Chef des
Front National schließlich doch wieder im Mittelpunkt der Medien. Zum
ersten Mal seit 1984 war er aus deren Blickfeld während der letzten zwei
Jahre weitgehend verschwunden. Jetzt konnte Le Pen einmal mehr seine Lieblinsrolle
spielen, jene des "Opfers des Systems". Prompt ist auch sein weiterer Aufstieg
in den Vorwahlumfragen zu verzeichnen: Am Ende der ersten Aprilwoche verzeichnete
die Pariser Tageszeitung Libération ihn in ihren Prognosen bei 13 Prozent.
Damit ist nicht auszuschließen, dass die extreme Rechte ihr hohes Wahlergebnis
von 1995 (15 Prozent), trotz ihrer Spaltung, wiederholt.
Neben Le Pen kann auch sein Erzrivale Bruno Mégret kandidieren. Er scheint
weniger Schwierigkeiten beim Zusammentragen der 500 Unterstützungs-Unterschriften
gehabt zu haben, jedenfalls hat er bei weitem nicht so viel Lärm darum
veranstaltet. Doch hat er dies allem Anschein nach zum Teil einer bewussten
Strategie der Konservativen zu verdanken. Schenkt man der Satire- und Enthüllungszeitung
Le Canard enchaîné (vom 27. März 02) Glauben, dann hat die
Umgebung des Kandidaten Chirac mindestens 150 Bürgermeister aus ihrem Lager
gezielt für Mégret unterschreiben lassen. Ziel der Operation wäre
natürlich - trifft die Information zu -, eine gewissermaßen institutionalisierte
Variante des Rechtsextremismus aufzubauen, die dem bündnisunfähigen
Le Pen ein wenig Konkurrenz macht. Bruno Mégret trat im Herbst 2001 bei
einer durch die rechtextreme Zeitschrift Zur Zeit veranstalteten Konferenz der
europäischen Rechtsextremen in Österreich auf. Er tritt seit Jahren
offensiv für eine Regierungskoalition nach österreichischem, italienischem
und jetzt auch dänischem Muster ein. Und er hat längst angekündigt,
im zweiten Wahlgang zur Unterstützung des Konservativen Chirac gegen den
sozialdemokratischen Challenger Jospin aufzurufen. Genau dies ist von Le Pen
mit Bestimmtheit nicht zu erwarten. Doch es würde sich um ein Spiel mit
dem Feuer seitens der Konservativen handeln. Denn nach dem absehbaren (politischen
oder physischen) Ableben von Jean-Marie Le Pen könnte die neofaschistische
Kraft Mégrets anwachsen. Und vor allem verfügt diese über ein
Kader- und Aktivistenpotenzial, das sowohl die karrierehungrigen und gut ausgebildeten
Vierzigjährigen, die es an die Fleischtöpfe der Macht drängt,
als auch eine gehörige Anzahl militanter Neonazis umfasst. Denn beide fühlten
sich von Le Pen zu sehr zur Passivität verdammt, beide traten deswegen
in Opposition zum FN-Chef.. Die wahrscheinliche geringe Stimmenzahl Mégrets
bei der Präsidentschaftswahl gibt im Moment noch Hoffnung, dass die Träume
dieser Aktivisten sich nicht so schnell erfüllen dürften.
Was die mit Abstand aussichtsreichsten Kandidaten betrifft, so verströmt
das absehbare Duell zwischen Jacques Chirac und Lionel Jospin - in der Stichwahl
am 5. Mai - hauptsächlich politische Langeweile. Einer Umfrage der
Tageszeitung Libération von Mitte März zufolge erkennen 75 Prozent
der Franzosen und Französinnen "keine" oder "nicht viele" Unterschiede
zwischen den Programmen der beiden Kandidaten, die sich die berühmte politische
Mitte streitig zu machen suchen.
Das war noch im Vorfeld des letzten Regierungswechsels, der im Juni 1997 stattfand,
ziemlich anders. Damals konnte Jospin von der Welle gesellschaftlicher Protestbewegungen,
die sich in den Jahren 1995 - 97 gegen die neokonservative Politik des (kurzlebigen)
Kabinetts von Alain Juppé formiert hatten, profitieren und sich von ihr
ins Hôtel Matignon - so heißt der Amtssitz des Premierministers
- tragen lassen. Freilich hatte auch damals Jospin bereits den "linken Realismus"
gepredigt und die Mehrzahl seiner sozialen Reformversprechen unter Finanzierungsvorbehalt
gestellt. Denn er wollte nicht die Erfahrung der brutalen Enttäuschung,
Desillusionierung und Frustration der Linkswählerschaft, die unter der
ersten sozialistisch-kommunistischen Regierungskoalition (unter François
Mitterrand) in den Jahren 1981 bis 1984 stattgefunden hatte, wiederholen. Dennoch
war der Tonfall damals ein deutlich anderer, und zwei erkennbare politische
Blöcke standen sich gegenüber. Auf der einen Seite predigte die konservative
und wirtschaftsliberale Rechte hinter Chirac und Juppé die gesellschaftliche
Resignation als "Einsicht in die objektiven wirtschaftlichen Notwendigkeiten"
und einen eisernen Sparkurs. Auf der andereren verkörperte Jospin so etwas
wie einen politischen Voluntarismus, der sich trotz allem Gestaltungsspielräume
schaffe. Das war vor fünf Jahren, bevor die Koalition der "pluralen Linken"
an der Regierung die "wirtschaftspolitischen Zwänge" und EU-Rücksichtnahmen
zu verwalten hatte.
Heute legt Jospin Wert darauf, dass er - wie er anlässlich seines ersten
Fernsehauftritts als Kandidat am 21. Februar betonte - kein sozialistisches
Programm präsentiere : "Ich (selbst) bin sozialistisch inspiriert, aber
das Projekt, das ich dem Land vorschlage, ist kein sozialistisches Projekt".
In seiner TV-Rede stellte Jospin vor allem den "modernen" Charakter seines Programms
heraus. Als Beleg dafür diente ihm das Vorhaben, das öffentliche Energieunternehmen
EDF privatem Kapital zu öffnen, und eine - im Konsens der Sozialpartner
zu vereinbarende - mögliche Einführung einer Dosis privater Altersvorsorge
neben den öffentlichen Rentensystemen.
Was verspricht Jospin in der Sache? Zunächst war wohl geplant, das Ziel
der Vollbeschäftigung bis 2007 (dem Ende der künftigen Amtszeit des
Präsidenten) herauszustellen. Entsprechende Dokumente hatten Jospins wirtschaftspolitische
Berater in den Jahren 2000 und 2001 veröffentlicht, etwa den Rapport Pisani
(Untersuchungsbericht von Jean Pisani). Darin war die Rede von "Vollbeschäftigung
am Horizont des Jahres 2010". Dieses Versprechen kam Jospin und seinen Leuten
dann aber wohl nicht realistisch genug vor, um es den WählerInnen zu präsentieren.
Als spektakulärste Maßnahme herausgestrichen wurde deswegen der Slogan:
"Keinen Obdachlosen bis 2007". Dafür sorgen soll eine Art Wohnraum-Versicherung,
die Couverture Logement Universelle, die im Falle finanzieller Engpässe
für Mietzahlungen einspringen und zugleich dem Vermieter sein Mieteinkommen
garantieren soll. Genauer gesagt, verspricht Jospin, unter seiner Präsidentschaft
³die Regierung aufzufordern, die Möglichkeit der Einrichtung (einer solchen
Unterstützung) zu untersuchen². Derzeit gibt es in Frankreich 86.000 offiziell
registrierte Obdachlose, daneben dürfte noch eine gewisse Dunkelziffer
bestehen.
Die Hilfsorganisationen für Obdachlose erklärten freilich, der "zu
einfache" Slogan sei nicht auf diesem Wege zu realisieren. Denn die in Aussicht
gestellte Maßnahme verspreche zwar, einigen aktuellen MieterInnen in prekärer
Situation zu Hilfe zu kommen. Jene aber, die wegen eines radikalen Sturzes oder
Verlustes ihrer Einkommen in einer sozialen Extremsituation stecken und dauerhaft
aus ihrer Wohnung geflogen sind, könnte auch diese Reform keine Abhilfe
schaffen. Im Fernsehen räumte Jospin denn auch ein, nun gut, "ein paar
hundert Personen" könnten auch am Ende seiner Präsidentschaft noch
auf der Straße verbleiben.
In Sachen Beschäftigungspolitik verspricht Jospin "900.000 Arbeitslose
weniger bis 2007", während Jacques Chirac seinerseits "mindestens 460.000
Arbeitsplätze mehr" verspricht. Bei genauerem Hinsehen besteht allerdings
- etwa nach Ansicht der Tageszeitung Libération - so gut wie kein Unterschied
zwischen beiden Versprechen, denn implizit setzt Jospin dabei auf die ab 2004/05
anstehenden, altersbedingten Abgänge. Hunderttausende Arbeitsplätze
werden durch den so genannten Papy-Boom (wörtlich "Opa-Boom", unter Anspielung
auf den "Baby-Boom" der Siebziger Jahre) freiwerden. Angesichts des absehbaren
Arbeitskräftemangels setzen sowohl der Kandidat Chirac als auch der Kandidat
Jospin in ihren Programm auf eine Verbesserung der Berufsausbildung, und darunter
auch die Weiterbildung im Erwachsenenalter. Bei beiden ist allerdings vorgesehen,
dass der abhängig Beschäftigte einen Teil seines Jahresurlaubs in
qualifizierende Weiterbildungsmaßnahmen investieren solle.
Ferner verspricht Jospin die Subventionierung von circa 200.000 befristeten
Stellen, um ältere Beschäftigte ab 50 im Arbeitsleben zu halten. Von
weiterer Arbeitszeitverkürzung (nachdem die 35-Stunden-Woche in der vorangegangene
Legislaturperiode eingeführt wurde, freilich in der Praxis häufig
gekoppelt an die Durchsetzung flexibler Arbeitszeiten, die je nach Bedarf des
Unternehmens variieren können) oder anderen Interventionen seitens der
Politik in das ³freie Spiel der Marktkräfte² ist allerdings keine Rede.
Hauptsächlich scheint Jospin für die Realisierung seines Versprechens
auf das Wirtschaftswachstum zu setzen, das beide "großen" Kandidaten in
ihrem Programmdokument jeweis bei durchschnittlich 3 Prozent pro Jahr ansetzen.
Wenn das mal nicht zu optimistisch ist...
Jospin setzt also vor allem auf das ³natürliche² Wachstum der kapitalistischen
Wirtschft setzt und darauf, die Beschäftigungspolitik werde von den vorangegangenen
halb-keynesianischen Reformen profitieren. Namentlich der 35-Stunden-Reform
unter Arbeitsministerin Martine Aubry, deren Beschäftigungseffekte jedoch
sehr begrenzt sind - von circa 1,4 Millionen Arbeitsplätzen, die bei guter
Konjunkturlage seit 1997 im privaten Wirtschfatssekor geschaffen wurden, gehen
nur maximal 250.000 auf den "Eingriff" in Gestalt der Aubry-Reform zurück.
Dessen Beschäftigungseffekte wurden unter anderem dadurch konterkariert,
dass die Reform - um Teil eines vermeintlichen sozialpartnerschaftlichen "Deals"
mit dem Arbeitgeberlager zu sein - in den Betrieben häufig an die Flexibilität
der Arbeitszeiten und -organisation gekoppelt wurde. Eine andere Maßnahme
bestand in der Subventionierung von rund 300.000 Arbeitsplätzen für
junge Arbeitssuchende (zwischen 18 und 26 bzw., falls es sich um den ersten
Arbeitsplatz handelte, 30 Jahren). Doch diese Stellen, die gewöhnlich gering
entlohnt sind - häufig nach dem gesetzlichen Mindestlohn SMIC (5,27 Euro
netto pro Stunde) - sind auf fünf Jahre befristet, und am Ende finden zwei
von drei Betroffenen sich als Erwerbslose auf dem Arbeitsmarkt wieder.
Der Bürgerliche Chirac hingegen setzt vor allem auf eine Fortsetzung der
Senkung der Lohnnebenkosten, insbesondere der durch den Arbeitgeber abzuführenden
Sozialabgaben, wie die früheren bürgerlichen Regierungen sie 1993
und 1995 betrieben hatten. Auch die sozialistisch geführte Regierung Jospin
hatte diese Abgabensenkung im Rahmen der 35-Stunden-Reform von Arbeitsministerin
Aubry, als ³Gegenleistung² für die Unternehmen, fortgesetzt. Unter den
Bürgerlichen waren die solchermaßen indirekt subventionierten Arbeitsplätze
jene im Niedriglohnsektor gewesen, die bis zum 1,3-fachen SMIC entlohnt waren.
Im Rahmen der Aubry-Reform wurde der Geltungsbereich bis zum 1,8-fachen des
gesetzlichen Mindestlohns ausgedehnt, und umfasst damit heute gut die Hälfte
der Beschäftigten insgesamt.
Doch beide Politikmodelle dürften ihre Wirkung für die nächste
Amtszeit des Präsidenten (2002 bis 2007), die mit der kommenden Legislaturperiode
des Parlaments - das im Juni ebenfalls neu gewählt wird - zusammenfällt,
erschöpft haben. Denn die Beschäftigungseffekte der 35-Stunden-Woche
in ihrer aktuellen Form dürften bereits weitgehend ausgereizt sein. Ein
politischer Wille zu weitergehenden, radikalen Maßnahmen, etwa in Gestalt
der (im Wahlprogramm der grünen Partei geforderten) 32-Stunden-Woche, ist
bei Jospin ausdrücklich nicht vorhanden. Umgekehrt dürften auch die
beschäftigungsfördernden Wirkungen der Politik einer Abgabensekung
für die Unternehmen, falls sie denn überhaupt je existiert haben -
wie der Kandidat Chirac - behauptet, heute erschöpft sein. Denn viel mehr
Effekte, als diese Politik bereits erbracht hat, dürften nicht zu erwarten
sein, nachdem heute bereits circa 50 Prozent der Beschäftigten von dieser
Politik der Senkung der Lohnnebenkosten für niedrige (und mittlere) Löhne
betroffen sind. Daher drohen dem künftigen Staatschef im Falle eines Umschlagens
der wirtschaftlichen Konjunktur, die von 1997 bis 2000 ausgesprochen gut war
und seit 2001 eher stagniert, und bei ausbleibendem Wachstum, die Rezepte auszugehen.
In den später Achtziger Jahren hatte der damalige Präsident François
Mitterand einmal erklärt : "Wir haben bereits alles gegen die Arbeitslosigkeit
ausprobiert, es gibt kein Rezept mehr." Im Falle geringen Wirtschaftswachstums
dürfte ein künftiger Präsident Chirac oder ein Präsident
Jospin sich unter Umständen in der gleichen Situation wiederfinden.
In Sachen Steuerpolitik verspricht Jospin ebenfalls Senkungen, aber in gemäßigterer
Form als Chirac - der glatt ein Drittel der Einkommenssteuern, die im EU-Durchschnitt
relativ niedrig ausfallen, weg haben will. Jospin verspricht eine Senkung der
Einkommenssteuer (die in Frankreich nur von 50 Prozent der Haushalte, den einkommensstärkeren,
bezahlt wird) um 10 Prozent. Allerdings sollen zugleich einige Kapitaleinkünfte
etwas stärker besteuert werden.
Und in Sachen Rente verspricht Jospin, die öffentlichen Rentensysteme "abzusichern".
Der von ihm gewählte aktive Begriff (nicht "bewahren" oder "sichern", sondern
sécuriser, was eine Handlung voraussetzt) schließt jedoch "Reformen"
wie bspw. die Einführung einer Dosis privater Altersvorsorge, oder auch
eine Verlängerung der Beitragszeiten - eventuell auf freiwilliger Basis
- nicht aus. Die Wirtschaftszeitung La Tribune vom 6. März jedenfalls zitiert
Jospin mit den Worten, eine aus demographischen Gründen zu erfolgende Reform
der Renten könne "nicht schmerzlos ausfallen". Das äußerst heiße
Eisen der Einführung privater Rentenfonds - die bspw. in den USA ein Rückgrat
des Finanzkapitalismus bilden - , das handfesten Ärger mit einem Teil der
Gewerkschaften verspricht, will Jospin vor der Wahl nicht anfassen. Derzeit
verspricht er Entscheidungen "bis im Juni 2003" und "nach Verhandlung mit den
Sozialpartnern". Jacques Chirac drückt sich in dieser Frage öffentlich
nicht viel klarer aus. Allerdings ist ein offenes Geheimnis, dass im Falle seiner
Wiederwahl die Einführung der privater Pensionsfons - ein entsprechendes
Gesetz hatte die bürgerliche Mehrheit unter Chirac/Juppé kurz vor
dem Regierungswechsel 1997 bereits verabschiedet - nicht auf sich warten lassen
dürfte.
Daneben gibt es noch eine gehörige Portion von Law & Order, die aber
auch die meisten anderen Kandidaten - und nicht zu knapp - im Programm
stehen haben: Beschleunigung der Strafverfahren, geschlossene Erziehungsheime
für jugendliche Straftäter... Auf diesem Gebiet, erklärte Jospin,
sei tatsächlich "die Imitation (von Programmen) am stärksten verbreitet",
doch beschuldigte er die konservative Rechte, ihrerseits bei ihm abgeschrieben
zu haben. So soll es ein großes "Ministerium für Innere Sicherheit"
- das Innenministerium genügt anscheinend nicht mehr - geben, das aber
auch der Neogaullist Chirac, der Christdemokrat François Bayrou und der
nationalistische Ex-Sozialdemokrat Jean-Pierre Chevènement im Programm
stehen haben.
Und Chirac? Nun, dessen Programm nimmt ohnehin so gut wie niemand wirklich ernst.
Nicht nur, dass er die Einkommenssteuern um glatte 33 Prozent senken will. (Steuersenkungen
hatte Chirac aber auch 1995 versprochen, um sie daraufhin allerdings zu erhöhen,
da seinerzeit die Sozialkassen - aufgrund damals extrem hoher Arbeitslosigkeit
- anhaltende Defizite aufwiesen und sie vom Staat aufgefüllt werden mussten.
Daher hatte Chirac auch in bürgerlichen und mittelständischen Kreisen
damals rasch an Unterstützung verloren.) Nein, er will auch die "soziale
Ausgrenzung" verschärft bekämpft wissen, und die Staatsdefizite sollen
gleichzeitig nicht anwachsen, sondern gesenkt werden. Dabei erklärte er
auch noch öffentlich, er wolle die jährlichen Militärausgaben
um 30 Prozent erhöhen und bei 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts fixieren.
Das hätte Mehrkosten von 14 Milliarden Euro jährlich im Rüstungsbereich
verursacht. Nachdem man ihn auf Glaubwürdigkeitslücken seines Programms
aufmerksam gemacht hatte, verspricht Chirac jetzt nur noch 1,5 Milliarden zusätzlicher
jährlicher Militärausgaben.
Die sehr populäre Polit-Satiresendung Les Guignols de l¹info - eine Puppenshow
nach dem Vorbild der Muppets - lässt Chirac, um all diese Versprechen unter
einen Hut zu bekommen, im Superman-Kostüm auftreten. Dieses trägt
eine Aufschrift, die allerdings von Superman in Supermenteur (Superlügner)
abgewandelt ist. Ein Begriff, der inzwischen zum Selbstläufer geworden
ist : Vor allem anlässlich der Besuche Chiracs in den Banlieues - den Trabantenstädten,
in denen sich die sozialen Probleme konzentrieren - schallt ihm regelmäßig
Supermenteur, supervoleur (Superlügner, Superdieb) entgegen, seitdem sein
Besuch im Val-Fourré, der größten Hochhaussiedlung des Landes,
sich am 4. März zu einem unglaublichen Fiasko entwickelte.
Die EU-Institutionen ihrerseits haben Chirac bereits öffentlich ermahnt,
er solle die auf EU-Ebene fixierten Kriterien der Stabilitätspolitik nicht
gefährden. Tatsächlich haben beide Spitzenvertreter der französischen
Exekutive, Chirac wie Jospin, auf dem EU-Gipfel in Barcelona der Reduzierung
der Haushaltsdefizite auf Null bis zum Jahr 2004 zugestimmt. In seinem Wahlprogramm
sieht Jospin eine solche Senkung der Verschuldung der öffentlichen Hand
bis 2004 - und damit verbundene Sparkriterien - auch vor. Bei Chirac hingegen
ist im Programm von der Erreichung des anvisierten Null-Defizits bis zum Jahr
2007 die Rede. Der Vorsitzende der Europäischen Zentralbank (EZB), der
Niederländer Wim Duisenberg, hat Jacques Chirac deswegen vorige Woche öffentlich
ermahnt.
Chiracs Programm nimmt heute zwar so gut niemand für bare Münze. Dafür
hat er zwei Vorteile gegenüber Jospin geltend zu machen. Erstens : Er kommt
vor allem bei einer ent- oder nicht politisierten Wählerschaft als politische
Figur besser an als der kalt und autoritär wirkende Technokrat Lionel Jospin.
Chirac hat zwar keine inhaltliche Glaubwürdigkeit anzubieten, dafür
aber seinen persönlichen "Enthousiasmus" - den Begriff benutzte er mehrfach
anlässlich seiner Kandidatur-Erklärung vom 11. Februar - in die Waagschale
zu werfen. Und zum zweiten : Nicht Chirac, sondern Jospin hat sehr viel an Unterstützung
in den sozialen Unterschichten und im veränderungwilligen Teil der Gesellschaft
zu verlieren. Und an dieser Flanke, also auf seiner Linken, wird Jospin voraussichtlich
massiv verlieren. Ein wachsender Teil der Wählerschaft der großen
Linksparteien wendet sich von der Regierungskoalition ab, wobei vor allem die
KP schwer gebeutelt wird. Und wählt entweder gar nicht, oder stimmt "für
Arlette" (siehe nebenstehenden Text) im ersten Wahlgang und ungültig in
der Stichwahl.
In Schwierigkeiten befindet sich vor allem die französische KP: Sie hat
einerseits mit Enttäuschungen vor allem an der Mitgliederbasis, aber auch
in der Wählerschaft bezüglich der Bilanz der Regierungskoalition unter
Lionel Jospin zu kämpfen. Zumal das Wahlprogramm Jospins und die Namen
der aussichtsreichsten Kandidaten auf den Posten des Premierministers, unter
einem künftigen Präsidenten Jospin, wenig Hoffnung auf eine in Zukunft
linkere Regierungspolitik erwecken können.
Zudem aber sieht die KP sich zwischen zwei politischen Kräften, die derzeit
(relativen) Rückenwind genießen, eingekeilt. Auf der einen Seite
steht der Linksnationalist Jean-Pierre Chevènement. Der ehemalige Sozialdemokrat
hatte seine Partei 1992/93, aus Protest gegen den Maastrichter Vertrag über
die EU, verlassen. Damals hatte er die Kleinpartei Mouvement des Citoyens (MDC,
Bewegung der Staatsbürger) gegründet. Er profiliert sich heute als
Kandidat eines politischen Voluntarismus, der sich gegen die aus supranationalen
Einbindungen - EU-Integration oder "weltpolitische Unterordnung unter die USA"
- erwachsenden Zwänge richtet. Dabei spricht er sowohl die auf primär
nationalistischen Motiven beruhende EU-Gegnerschaft auf der Rechten, als auch
eine aus sozialen Gründen gegen die neoliberale Politik der EU-Institutionen
oder des IWF und der Weltbank protestierende Linkswählerschaft an. In gewissermaßen
bonapartistischer Tradition präsentierte er im September 2001 seine Kandidatur
als "Mann der Nation", der jenseits von Links und Rechts stehe und Frankreich
vor dem Zugriff supranationaler Interessen und Institutionen bewahre.
In der frustrierten uind desorientierten Wählerschaft von Sozialisten und
KP umwirbt Chevènement damit zum Teil erfolgreich Anhänger und Wähler.
So gibt er sich auch in sozialer Hinsicht ein voluntaristisches Profil ; beispielsweise
spricht er einer Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns SMIC (5,27 Euro
netto pro Stunde) um 25 Prozent binnen fünf Jahren das Wort. Allerdings
fällt auf, dass solche sozialen Forderungen bei ihm an die Förderung
von Leistung und Arbeitssinn, im Sinne durchaus konservativer Werte, gekoppelt
sind. So kritisiert er die Politik einer Verkürzung der Arbeitszeit - im
vorigen Oktober hatte er dafür die ironischen Worte übrig: "Demnächst
wird man dann wohl auch noch das Recht auf Faulheit in der Verfassung festschreiben
wollen." Als Gegenmaßnahme zur Einführung der 35-Stunden-Woche tritt
er, genauso wie die Rechte aller politischen Schattierungen, für die gesetzliche
Erleichterung und die Kostensenkung von Überstunden ein. Und zwar fordert
Chevènement die Anhebung des SMIC un der niedrigen Löhne - allerdings
nicht jene der Lohnersatzleistungen wie Arbeitslosengeld, und der Sozialhilfe.
(Schließlich sollen die Leute wieder an die Arbeit gebracht werden, anstatt
die faulen Arbeitslosen zu spielen...) Hingegen fordert die französische
KP die Erhöhung sowohl des gesetzlichen Mindestlohns als auch der Lohnersatz-
und Sozialleistungen um 300 Euro monatlich. Wobei diese Forderungen erfahrungsgemäß
bei Koalitionsverhandlungen mit den Sozialisten reichlich heruntergekocht werden...
Auf der andere Seite wächst auch der Spielraum für Kandidaturen linksradikaler
Parteien, die ihrerseits stärker denn je in das Wählerpotenzial der
KP einbrechen und sie mitterweile in den Wahlprognosen überholt haben.
So stehen die Wahlvorhersagen für KP-Kandidat Robert Hue derzeit zwischen
4,5 und 6 Prozent. Hingegen vereinigen die drei linksradikalen Kandidaten derzeit
in den Prognosen 10 bis 11 Prozent der Stimmen auf sich. Allerdings muss sich
dieser Trend aus den Vorwahlumfragen erst noch in den Urnen bestätigen.
Den Löwenanteil der Stimmen auf der radikalen Linken dürfte dabei
die Kandidatin der Partei Lutte Ouvrière (LO, Arbeiterkampf - der Name
wird ohne Artikel benutzt), Arlette Laguiller, einfahren. Mitte März hatte
sie in den Vorwahlumfragen die Zehn-Prozent-Marke erreicht, und die Pariser
Tageszeitung Libération berichtete am 21. März über die Sorgen,
die dieses Phänomen in den Führungsetagen des regierenden Parti Socialiste
(PS) hervorrufe.. Die Sozialdemokraten haben mittlerweile auf zweierlei Weise
auf es reagiert. Mitte März machte Pierre Mauroy, der unter der ersten
sozialistisch-kommunistischen Koalition (1981 bis 84) Premierminister gewesen
war, Jospin darauf aufmerksam, neben dem erfolgreichen Frankreich gebe es auch
"jenes zweite Frankreich, das leidet und dem es schlecht geht". Der Kandidat
reagierte darauf, indem er mit einem gewissen Aha-Effekt feststellte, ja, das
stimme schon, und müsse die beiden besser miteinander "versöhnen".
Anfang April erklärte Mauroy ferner in einem Inrterview mit der Boulevardzeitung
Le Parisien: "Die Arbeiterklasse exisitiert", für jene, die es vergessen
haben sollten, und weiter : "Die Worte Arbeiter und Lohnabhängige sind
keine Schimpfworte." (Le Parisien vom 5. Apri : Pierre Mauroy : "La classe ouvrière
existe".) Die Notwendigkeit, solche tiefschürfenden Erkenntnisse extra
zu betonen, lässt recht tief blicken. Zum gleichen Zeitpunkt allerdings
erklärte Jospin bei einem Kandidatenauftritt über Arlette Laguiller,
deren Politik sei für ihre Wähler nur in begrenztem Maße nützlich,
da sie sich wie eine "Supergewerkschafterin" aufführe. Das war in dem Sinne
(negativ) gemeint, dass sie nur ständig mehr Forderungen stelle. Auf der
Linken dürfte dieses Statement allerdings nicht überall gut angekommen
sein, und "Arlette" fiel es auf diese Äußerung hin leicht, sich über
Jospins mutmaßliches Verständnis von Gewerkschaftsaktivität
lustig zu machen.
Die Kandidatin tritt zu jeder Wahl des Staatschefs seit 1974 an. Damals erzielte
sie einen Achtungserfolg als erste weibliche Kandidatin für das höchste
Staatsamt, aber auch als Galionsfigur des Bankenstreiks im Frühjahr 1974,
in dem sich die junge Angestellte des Crédit Lyonnais ein prominentes
Gesicht erworben hatte. Die einzige Politikerin, die spontan vom Publikum beim
Vornamen genannt wird, hat sich einen Namen als populäre "Passionnaria"
machen können, die "den kleinen Leuten nahe steht". Selbst in manchen bürgerlichen
Kreisen wird sie heute als eine Art Maskottchenfigur geschätzt, der zugute
gehalten wird, dass sie ihre politischen Slogans in den letzten 25 Jahren kaum
verändert hat. Dies, während fast alle anderen prominenten Kandidaten
ihre Ideen im Namen der notwendigen "Anpassung an die wirtschaftlichen Notwendigkeiten
und die Realität der Globalisierung" eingedampft haben und ständig
angebliche Sachzwänge bemühen. Ihr tatsächlich seit 30 Jahren
so gut wie unabänderlicher Diskurs (der mit dem berühmt gewordenen
"Arbeiter, Arbeiterinnen, man belügt Euch, man beutet Euch aus" beginnt)
ist zweifelsohne simpel, zu simpel. Er erklärt nicht das Funktionieren
des kapitalistischen Systems, sondern basiert auf einem starken Subjektivismus
und Moralismus - die Bosse, die Kapitalisten sind bösartig -, doch angesichts
der Realpolitik der regiernden Linksparteien entfaltet er eine wachsende Anziehungskraft
auf deren frühere Wähler. Freilich bestehen bisher keine konkreten
Anzeichen dafür, dass ihre Partei Lutte Ouvrière (LO, Arbeiterkampf
- der Name wird ohne Artikel benutzt), die zweifellos eine effiziente Wahlkampfmaschine
darstellt, die Stimmabgabe für ihre prominente Vorzeigefrau auch in konkreten
gesellschaftlichen Einfluss umsetzen würde. Bisher jedenfalls bleibt LO
einer ziemlich abgeschotteten Funktionsweise verhaftet, die sie aus Zeiten des
politischen Überwinterns im Kalten Krieg der 50er Jahre ererbt hat, und
aus den meisten sozialen Bewegungen konsequent abwesend. So begründete
sie die Abwesenheit ihrer Organisation anlässlich der Demonstrationen gegen
den G8-Gipfel in Genua im Vorjahr in der Presse damit, dass "die Arbeiter" aus
Zeit- und Geldgründen ohnehin nicht zu solchen Anlässen unterwegs
seien. Und dass man sich lieber auf den Klassenkampf zu Hause konzentieren möge.
Es existieren noch andere Varianten des französischen Trotzkismus, der
insgesamt mit drei Parteien bei der Präsidentschaftswahl vertreten ist.
Die unbedeutendste ist der Parti des travailleurs (PT, Partei der Arbeiter)
von Pierre Lambert. Es handelt sich um eine streng autoritäre Politsekte,
die etwa Homosexualität bis heute als "kleinbürgerliche Ausschweifung"
geißelt. Die "Lambertisten", wie sie auf der übrigen Linken
genannt werden, setzen vor allem auf eine Art Verschwörungsdiskurs, dem
zufolge der Maastrichter Vertrag über die EU eine Art Generalkomplott darstellt,
mit dessen Hilfe alle, aber auch alle Reste bürgerlicher Demokratie und
sozialer Errungenschaft in einem Streich ausgehebelt werden sollen. Ein geringes
Wahlergebnis stellt für diese Organisation kein Hindernis dar, denn sie
hält sich regelmäßig die Wahlenthaltung als Resultat ihrer Agitation
zugute und rechnet daher die Partei der Nichtwähler mit den Ergebnissen
ihrer eigenen Organisation zusammen. Ein geringerer Trost für den PT ist
hingegen, dass der mögliche Gewinner des Rennens am 5. Mai seine Lehrjahre
in seinen Reihen verbracht hat, bzw. in jenen seiner Vorgängerorganisation,
der Organisation Communiste Internationaliste (OCI). Tatsächlich hat der
machtbewusste Organisationskenner Lionel Jospin sein Handwerkszeug während
der 60er und eines Gutteils der 70er Jahre bei den "Lambertisten" erworben,
die sich damals eine Spezialität aus dem Entrismus bei den Sozialdemokraten
sowie auf dem rechten Flügel der Gewerkschaftslandschaft (in Gestalt des
Dachverbands Force Ouvrièr) gemacht hatten. Dabei hat die Organisation
freilich die meisten ihrer Kader, die - wie Jospin in den frühen Siebzigern
- als U-Boote eingesetzt waren, an die vermeintlich von ihr unterwanderten Organisationen
verloren.
Hingegen zeichnet sich die LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire) durch
eine viel differenziertere Realitätswahrnehmung und größere
intellektuelle Kapazitäten aus. Die kleine Partei wurde direkt aus der
Bewegung des Pariser Mai 1968 heraus gegründet, zwei ihrer führenden
Köpfe - Alain Krivine und der Philisophieprofessor Daniel Bensaïd
- zählten zu den Sprechern der Maibewegung. Im Gegensatz zu den anderen
beiden linksradikalen Parteien ist sie in hohem Maße in sozialen Bewegungen
wie Antirassismus-, Internationalismus- und "Antiglobalisierungs"initiativen
aktiv, aber auch im gewerkschaftlichen Bereich, wo sie eine weniger sektierische
Praxis als LO oder PT aufweist. Doch ihr langjähriger Sprecher Alain Krivine,
der 1969 sowie 1974 zu den damaligen Präsidentschaftswahlen angetreten
war, wünschte in diesem Jahr nicht zu kandidieren, da er einen Generationswechsel
auch auf der radikalen Linken für dringend geboten hielt. Die LCR war so
in diesem Jahr durch den Benjamin unter den Präsidentschaftsbewerbern vertreten
: Mit 27 Jahren war Olivier Besancenot, im Zivilleben Postangesteller und Briefträger,
mit Abstand der jüngste und unkonventionellste Kandidat. Die LCR präsentierte
den, der Öffentlichkeit bis dahin unbekannten, Aktivisten der linksalternativen
Basisgewerkschaft SUD offensiv als eine Art voice of the voiceless.
Doch zweifellos wird das wahlpolitische Schwergewicht "Arlette", mit ihrem hohen
Bekanntheitsgrad, in diesem Jahr auf der radikalen Linken mit Abstand die Nase
vorn behalten. Neben ihr werden für Olivier Besancenot rund ein bis anderthalb
Prozent, für den PT-Kandidaten Daniel Glückstein unter 0,5 Prozent
der Stimmen vorausgesagt. Doch ist noch nicht erkennbar, zu welchen Umgruppierungen
auf der Linken die sich fortsetztende Krise der KP und der wahlpolitische Erfolg
linksradikaler Kandidaturen in naher Zukunft führen wird. Und auch das
Phänomen "Arlette" wird seine Abnutzungserscheinungen zeigen.
Einen Faktor sollte man im diesjährigen Wahlkampf nicht übersehen,
auch wenn seine Repräsentanten nicht auf der Kandidatenliste stehen. Nicht
unberücksichtigt bleiben darf der erhebliche Druck, den der Arbeitgeberverband
MEDEF (Mouvement des entreprises de France / Bewegung der Unternehmen Frankreichs),
wie seit 1998 der ehemalige CNPF heißt, entfaltet.
Der MEDEF hat es der Jospin-Regierung nicht wirklich verziehen, dass sie mit
der 35-Stunden-Reform einen durch die Politik inspirierten Reformschritt einleitete.
Auch wenn diese Maßnahme letztendlich dem privaten Kapital, aufgrund des
durch die Jospin-Regierung erdachten sozialpartnerschaftlichen Deals "Arbeitszeitverkürzung
gegen Hinnahme von Flexibilität, bspw. variabler Arbeitszeiten" unter dem
Strich genutzt hat. So übertitelt die Wirtschaftszeitung La Tribune vom
12. März 02 einen Bericht : "Die Arbeitgeber erkennen der 35-Studen-Reform
positive Auswirkungen zu" - nämlich in Form ihrer Türöffnerfunktion
für eine so genannte "Modernisierung der Arbeitsorganisation". Dennoch
konnte bzw. wollte der MEDEF nicht hinnehmen, dass die Politik ihm durch die
Gesetze zur 35-Stunden-Woche vom Juni 1998 und Januar 2000 in "seine" Angelegenheiten
hineinzureden suchte.
Bereits seit Oktober 1999 hat der MEDEF es geschafft, die Unternehmer und Teile
der Mittelständler zu einer - stark ideologisch motivierten - Gegenoffensive
gegen die "politische Bevormundung" zu mobilisieren. Der MEDEF verhandelt seitdem
mit den Gewerkschaftsverbänden, von denen ein Teil - namentlich die an
der Spitze sozialliberale CFDT, deren Führungskern zunehmend neoliberal
ausgerichtet ist, sowie die katholische CFTC - sich auf das Vorhaben des Arbeitgeberlagers
einlässt, über eine "Neugründung der sozialen Beziehungen". Ziel
ist, die kollektiven Arbeitsbeziehungen endlich zu entpolitisieren und
sie auf eine neue Grundlage zu stellen. Nämlich jene einer Vertragspolitik
zwischen einander akzeptierenden, und "verantwortungsbewusst" handelnden, sozialpartschaflichen
Akteuren. Drei Grundsatzabkommen (von acht, die der MEDEF anvisierte) sind bisher
mit jeweils einem Teil der Gewerkschaftsverbänden geschlossen worden, auf
anderen Gebieten stecken die Verhandlungen bisher fest.
Am 15. Januar 02 gelang es dem MEDEF erneut, 2000 Unternehmer zu einer Großveranstaltung
in Lyon zu mobilisieren, von der Druck auf die Politik ausgehen sollte. Tatsächlich
haben die Parteien der bürgerlichen Rechten - RPR, UDF und Démocatie
libérale - seitdem einen bedeutenden Teil der Forderungen, aber auch
der Philosophie des MEDEF in ihre Programme übernommen. Aber auch beim
Parti Socialiste (PS) gibt es mittlerweile programmatische Überschneidungen.
Und anlässlich der Vorstellung seines offiziellen Programms Présider
autrement (Anders Präsident sein) am 18. März gab Jospin die "feierliche
Verpflichtung" ab, "der Verhandlung und dem Vertrag größeren Platz
einzuräumen". Im aktuell vorherrschenden Kontext bedeutet dies, der politischen
Offensive des MEDEF und seiner Verbündeten entgegenzukommen.
Auch im Falle eines Wahlsiegs Jospins dürfte es daher möglich sein,
einen Block gesellschaftlicher Kräfte zu formen, der die Regierung der
künftigen Regierung unterstützt und zugleich das Arbeitgeberlager
integriert. Beispielsweise für den - wahrscheinlichen - Fall, dass unter
einem künftigen Präsidenten Jospin dessen ehemaliger Wirtschaftsminister
Dominique Strauss-Kahn (1997 bis 1999), der Ende 1999 wegen einer - mittlerweile
beerdigten - Korruptionsaffäre hatte zurücktreten müssen, zum
Premierminister ernannt wird. "DSK", der sich in seiner Oppositionszeit ab 1993
mit seinem Cercle de l¹industrie als Lobbyist der französischen Privatindustrie
bei den EU-Gremien in Brüssel betätigt hatte, gilt als Hauptautor
des derzeitigen Programms des Kandidaten Lionel Jospin. Daneben spricht er sich
in einer Buchveröffentlichung zu Jahresanfang dafür aus, dass die
Linke endlich "modern" und europatauglich sein müsse. (Während zugleich
der amtierende Wirtschaftsminister Laurent Fabius, sein Nachfolger und ein neoliberaler
Hardliner, in seiner am 6. Februar 02 publizierten Denkschrift "Entwürfe
für eine moderne Linke" - ein effizientes Brechmittel - vor allem Steuersenkungen
und Teilprivatisierungen fordert.)
In einem Gastbeitrag für die konservative Tageszeitung Le Figaro vom 20.
Februar 02 fordert beispielsweise die neoliberale Gewerkschaftssekretärin
Nicole Notat - derzeitige Chefin des Dachverbands CFDT, die im Mai dieses Jahres
aus dem Amt scheidet, um möglicherweise auf einen Posten bei der EU-Kommission
zu wechseln - eine Entdogmatisierung der Linken und spricht sich dafür
aus, "an die Stelle des sozialen Jakobinertums (...) einen authentischen Gesellschaftsvertrag
zu setzen", im Sinne der von ihr an maßgeblicher Stelle betriebenen refondation
sociale mit dem MEDEF. An gleicher Stelle spricht sich Notat - der allerdings
auch ein Wahlsieg der konservativ-liberalen Opposition nicht Unrecht sein dürfte
- lobend über "die Bücher von Dominique Strauss-Kahn und (von Jospins
Ex-Bildungsminister) Claude Allègre" aus, die "innovierende und wachrüttelnde
Antworten geben, das sozialistische Denken gründlich neu gestalten und
von denen ich hoffe, dass sie Teil der kommenden Wahldebatte sein werden".
Freilich muss jedem und jeder klar sein, dass es auch in der gewerkschaftlichen
Landschaft andere Kräfte gibt, die eine solche Orientierung bestimmt nicht
teilen.
LabourNet Germany: http://www.labournet.de/
LabourNet Germany: Treffpunkt für Ungehorsame, mit und ohne Job, basisnah, gesellschaftskritisch The virtual meeting place of the left in the unions and in the workplace |
||
Datei: | ||
Datum: |