Home > Internationales > Frankreich > Arbeit > Streiks im Transportwesen > ustke6
Updated: 18.12.2012 15:51
Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Frankreichs "Überseegebiet" Neukaledonien : Die Klassen- & Kolonialjustiz hat wieder zugeschlagen

Gewerkschaftsvorsitzender und weitere Aktivisten bleiben in Haft. Urteile in zweiter Instanz bestätigt, obwohl leicht "abgemildert"

Es war gegen Mitternacht in Paris, als in 22.000 Kilometern Entfernung das Urteil "im Namen des französischen Volkes" gegen 28 gewerkschaftliche Aktivisten fiel. Aufgrund der Zeitverschiebung war es tiefe Nacht in der französischen Hauptstadt, doch bereits helllichter Tag auf Neukaledonien, dem Archipel im Westpazifik, dessen Hauptinsel Grande-Terre auch als "der Kiesel" im Ozean ( le caillou ) bezeichnet wird.

Dort wurde von ausschließlich weißen Richtern das Urteil gegen die - überwiegend "farbigen" - Gewerkschaftsaktivisten gefällt, die von ausschließlich weißen Anwältinnen und Anwälten verteidigt wurden. Anwältinnen und Anwälte, die zwar fachlich gut und auch in der Sache guten Willens sind, aber von denen keine einzige zur ursprünglich ansässigen melanesischen Bevölkerung des Archipels - die sich selbst als Kanaken (Menschen) bezeichnet - gehört. Kein Wunder, denn 150 Jahre "kolonialer Schule" (die den Kanaken angeblich "Zivilisation und Bildung" bringen sollte) haben zum Ergebnis, dass es bis heute keine einzige Anwältin und keinen Anwalt kanakischer Herkunft gibt.

Die Inselgruppe ist ein französisches "Überseegebiet", das in den Jahren zwischen 2013 und 2018 endlich über seine Unabhängigkeit abstimmen wird. Eine Unabhängigkeit, die freilich ausbleiben könnte, da der französische Staat seit Jahren alle Anstrengungen unternimmt, um die ozeanische Ursprungsbevölkerung der Kanaken zahlenmäßig in die Minderheit zu drängen. Und dies erfolgreich, denn die Kanaken bilden heute nur noch 45 Prozent der Inselbevölkerung. Nach wie vor werden (begünstigt durch günstige Flugpreise aus der europäischen "Metropole" Frankreichs) Jahr für Jahr im Durchschnitt zwischen 800 und 1.200 "weiße" Neueinwohner zusätzlich angesiedelt - für eine Inselgruppe, die insgesamt knapp 250.000 Einwohner/innen aufweist. Es handelt sich durchaus um eine systematisch betriebene Bevölkerungspolitik: Der damalige Premierminister (und zuvorige langjährige Kriegsminister sowie Kolonialminister) Pierre Messmer hatte sie im Jahr 1972 in einem berühmt gewordenen Brief an die französischen Behörden auf Neukaledonien ausdrücklich skizziert: Nur so lasse sich die "Gefahr" von Unabhängigkeitsbestrebungen auf den Inseln abwenden.

Das Interesse Frankreichs daran, die Kontrolle über Neukaledonien zu behalten, liegt auf der Hand: Neben strategischen Motiven - seine Präsenz in Neukaledonien erlaubt es Frankreich, noch immer die zweitstärkste Marinepräsenz einer Großmacht weltweit beizubehalten - beruht es vorwiegend auf den immensen Nickelvorkommen. Deren Abbau trägt zu einer brachialen Umweltzerstörung v.a. im Süden der Hauptinsel bei, gegen die sich eine Reihe von Organisationen zu wehren versuchen. Die Insel, obwohl juristisch zu Frankreich gehörend, ist von der Anwendung des Kyoto-Protokolls zurVerminderung von CO2-Emissionen ausgenommen. Die Bergbauprojekte auf der Insel verschmutzen die Umwelt weitaus stärker, als es vergleichbaren Unternehmungen in Frankreich oder Europa jemals erlaubt wäre. Sieben Tonnen Säure aus dem Nickel-Abbau wurden in die paradiesähnliche "große Lagune" der Hauptinsel geschüttet.

Die Kanaken bilden zwar noch eine starke Minderheit in der Inselbevölkerung, aber nur rund 20 % der Einwohner in der Hauptstadt(-Agglomeration), Nouméa. Hingegen stellen sie laut Statistik rund 65 % der ,squatteurs' , also der Einwohner/innen der "illegal" entlang der Ausfallstraßen errichteten Elendssiedlungen am Rande des Einzugsgebiets von Nouméa.

In diesem kolonialen Kontext rührt sich eine äußerst aktive Gewerkschaft, die radikale soziale Forderungen mit der Unabhängigkeitsidee sowie dem Anprangern des kolonialen Rassismus verbindet: die USTKE ("Gewerkschaftliche Union der kanakischen Arbeiter/Werktätigen und der Ausgebeuteten"). In Wirklichkeit versteht sie sich alle Plattform für alle Ausgebeuteten und nicht allein für die kanakische Bevölkerung, die freilich in die schlechteste soziale Situation abgedrängt wurde, nachdem historisch ihre Vorfahren durch die kolonialen Siedler ihres Bodens enteignet worden waren. Ihr Vorsitzender, Gérard Jodar, ist ein "Weißer" französisch-europäischer Herkunft, während eine deutliche Mehrheit ihrer Mitgliederbasis zur ozeanischen Bevölkerungsgruppe zählen. Die USTKE, mit 5.000 Mitgliedern, bildet die mit Abstand stärkste Gewerkschaft auf der Inselgruppe. (Hingegen nehmen die Ableger französischer "Metropolen"gewerkschaften, insbesondere die lokale CFDT sowie der Ableger der Bildungsgewerkschaft FSU, auf dem Archipel oft ausgesprochen pro-koloniale Positionen ein. Ihrerseits unterstützt die CGT auf dem französischen Festland die USTKE gegen die Repression des französischen Staatsapparats.)

Ende 2007 lancierten führende Angehörige der USTKE zudem die Gründung einer eigenen politischen Partei, die des ,Parti travailliste' (ungefähr: Werktätigenpartei), um über eine eigene Vertretung im politischen Raum zu verfügen. Voraus ging die Abkehr der in den 80er Jahren erstarkenden, dereinst antikolonialen "Kanakischen sozialistischen Befreiungsfront" FLNKS, von ihren früheren Positionen und ihren Übergang zu Positionen eines "anerkannten und vernünftigen Verhandlungspartners" der französischen Staatsmacht. Insbesondere in den letzten zwei Jahren, seit dem Gründungsprozess dieser neuen politischen Plattform, hat die Repression des französischen Kolonialstaats gegen die Aktionen der USTKE erheblich zugenommen.

Am 29. Juni 2009 wurden 28 Aktivisten, und unter ihnen führende Mitglieder, der USTKE in Nouméa abgeurteilt. Vorgeworfen wurde ihnen der Straftatbestand des "Eingriffs in den Luftverkehr". Voraus ging einen Monat zuvor - am 28. Mai dieses Jahres - eine Kundgebung auf dem Flughafen von Magenta-Nouméa, die durch die zusammengezogenen Polizeikräfte mit Tränengas, Gummigeschossen und Blendgranaten angegriffen wurde. Um vor den Auswirkungen der polizeilichen Repression zu flüchten, hatten sich um die zwanzig Teilnehmer der Kundgebung in zu dem Zeitpunkt leer stehende Flugzeuge der Luftfahrtgesellschaft Air Calédonie geflüchtet. Von einem "Eingriff in deren Verkehr" konnte insofern gar keine Rede sein, als diese nicht zum Start bereit standen und gar kein Abheben vorgesehen war. Denjenigen Demoteilnehmern, die an der Aktion teilgenommen hatten und sich in die beiden Flieger gerettet hatten, sowie den Köpfen der USTKE wurde dennoch daraufhin dennoch - unter diesem relativ gravierenden Vorwurf (in Deutschland zählt der Straftatbestand des "gefährlichen Eingriffs in den Luftverkehr" zur Anti-Terrorismus-Gesetzgebung) - der Prozess gemacht.

Die Richter übertrafen dabei noch die Staatsanwaltschaft; für Angeklagte, bei denen Letztere eine Geldstrafe gefordert hatten, verhängten sie am 29. Juni eine Haftstrafe von vier Monaten auf Bewährung. In mehreren Fällen sprachen sie aber auch Haftstrafen ohne jegliche Bewährungsfrist aus. Sechs Hauptangeklagte aus den Reihen der USTKE, unter ihnen ihr Vorsitzender Gérard Jodar, wurden direkt aus der Verhandlung weg in die Haftanstalt (Camp-Est, in Nouméa) abtransportiert. Im August 09 konnte Gérard Jodar von dort aus eine Interview in der französischen linksliberalen Tageszeitung ,Libération' publizieren. Daraufhin wurden ihm jedoch sämtliche Bezugsrechte, inklusive für seine Ehefrau und seine Kinder, entzogen.

Am 25. August 2009 fand die Berufungsverhandlung statt. Zuvor lancierte, Anfang August, die USTKE einen einwöchigen Generalstreik, an dessen Rande es zu heftigen Zusammenstößen zwischen radikalisierten Jugendlichen und den staatlichen Ordnungskräften kam - den heftigsten seit den großen Unruhen von 1984, zumindest jedoch seit den damaligen Abkommen zwischen FLNKS und französischem Staat von 1988. Daraufhin mobilisierte die europäischstämmige Bevölkerung der Hauptinsel wiederum ihre eigene "weiße" Basis zu einer Großdemo "gegen Gewalt", an der (laut relativ übereinstimmenden Angaben von beiden Seiten) circa 26.000 Personen teilnahmen. Die Verkündung des Urteilsspruchs, in der Berufungsinstanz, wurde nunmehr mit hoher Anspannung erwartet.

Heute Nacht nun fiel das Urteil. Es lautet folgendermaßen: Die sechs Hauptangeklagten bleiben in Haft, aber das Strafmaß wurde leicht "abgemildert". Im Falle des Gewerkschaftsvorsitzenden Gérard Jodar wurde es von zuvor 12 auf nunmehr 9 Monate o-h-n-e Bewährung heruntergesetzt; er bleibt damit jedoch im Gefängnis. Die AnwältInnen haben angekündigt, nunmehr mit den Haftrichtern über die Modalitäten des Strafvollzugs (bei relativ geringfügigen Haftstrafen kann etwa ein zeitweiliger Freigang zwecks Arbeitsaufnahme ausgehandelt werden) zu verhandeln. Allerdings steht Gérard Jodar noch unter dem Urteilsspruch aus einer anderen Prozesssache, die ihm im vorigen Jahr zwölf Monate Haft (wegen Auseinandersetzungen am Rande eines Verkehrsstreiks im Januar 2008, an denen er definitiv nicht persönlich teilgenommen hatte, für die er aber als Vorsitzender verurteilt wurde) eintrug. In jener Sache wurde nunmehr, aufgrund der neuen Verurteilung, die Berufung gegen ihn widerrufen. Es bleiben ihm somit im Prinzip 18 Monate Haft abzusitzen.

Näheres dazu bleibt abzuwarten. Reaktionen seitens der sozialen Basis der USTKE gilt es ebenfalls in den kommenden Tagen und Wochen zu studieren.

Solidarität in Paris organisiert sich

In der französischen Hauptstadt fand am gestrigen Montag Abend eine erfolgreiche Solidaritätsveranstaltung für die eingeknasteten und angeklagten Gewerkschafter auf Neukaledonien statt. Begrüßt vom grünen Bezirksbürgermeister des 2. Pariser Arrondissements (mit einer erstaunlich kämpferischen und positiven Ansprache), drängten sich zahlreiche Menschen - zum Teil stehend - in dem 300 Personen fassenden Saal.

Zu den Redner/inne/n des Abends zählten u.a. der CGT-Sekretär für internationale und "Übersee"-Beziehungen, Bruno Dalberto ; der frühere Sprecher der linksalternativen Bauerngewerkschaft, der Internationalist José Bové ; Olivier Besancenot, radikal linker Politiker (von der "Neuen Antikapitalistischen Partei" NPA) ; zwei Vertreter der korsischen linksnationalistischen Gewerkschaft STC. Und als einer der "Stars" des Abends - mit einer ausgezeichneten Rede - Elie Domota vom "Kollektiv gegen Ausbeutung" LKP auf der französischen Antilleninsel Guadeloupe, das von Ende Januar bis Anfang März dieses Jahres den 44 Tage dauernden Generalstreik dort anleitete.

Am heutigen Dienstag Vormittag wird in Paris eine Pressekonferenz der Solidaritätsbewegung für die USTKE sowie (infolge der Urteilsverkündung) eine Kundgebung vor dem französischen Justizministerium stattfinden.

Artikel von Bernard Schmid vom 15.9.2009


Home | Impressum | Über uns | Kontakt | Fördermitgliedschaft | Newsletter | Volltextsuche
Branchennachrichten | Diskussion | Internationales | Solidarität gefragt!
Termine und Veranstaltungen | Kriege | Galerie | Kooperationspartner
AK Internationalismus IG Metall Berlin | express | Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken
zum Seitenanfang