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Updated: 18.12.2012 15:51
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Französische Nochkolonie Neukaledonien:

Massenprozess gegen Mitglieder der antikolonialen Gewerkschaft USTKE

Ein Jahr Haft - davon sechs Monate ohne Bewährung - drohen derzeit dem Vorsitzenden der Gewerkschaftsorganisation USTKE, Gérard Jodar, nach dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft gegen ihn. Zusammen mit ihm standen 18 weitere Mitglieder seiner Gewerkschaft ab dem 25. März dieses Jahres vor Gericht. Weitere 32 Gewerkschafter stehen seit diesem Montag, 31. März vor Gericht.

Bei der USTKE oder Union syndicale des travailleurs kanaks et exploités - Gewerkschaftliche Union der kanakischen Arbeiter und der Ausgebeuteten - handelt es sich um die antikolonialistisch ausgerichtete "Eingeborenen"gewerkschaft in der französischen Noch-Kolonie Neukaledonien ( Nouvelle Calédonie , wobei Calédonie ein alter französisch-lateinischer Name für ein Bergland in Schottland ist) im Westpazifik. Diese Inselgruppe, die derzeit über ein juristisch einmaliges Sonderstatut im französischen Staatsverband - das sich von jenem der klassischen "Überseebezirke" und -"gebiete" wie Guadeloupe, La Martinique oder La Réunion unterscheidet - verfügt, wird voraussichtlich im Jahr 2014 über ihre Unabhängigkeit oder ihren Verbleib bei Frankreich abstimmen.

Ihre Bewohner teilen sich auf in melanischstämmige Nachfahren der ursprünglichen Bewohner der Inselgruppe, die sich selbst als Kanaks oder zu deutsch Kanaken (in ihrer melanesischen Sprache = "Menschen"), bezeichnen und rund 44 % der Bevölkerung ausmachen, und in Caledoches genannte Nachfahren der europäischen Siedler während der Kolonisierung (rund 34 %). Hinzu kommen andere Bevölkerungsgruppen wie Polynesier, Europäer aus Einwanderungswellen jüngeren Datums, oder Asiaten. - Die USTKE gibt an, die größte Gewerkschaft auf der Inselgruppe (vor einer Mitgliedsorganisation der CFDT als zweitstärkster Gewerkschaft) zu sein, und verfügt laut Eigenangaben über 5.000 Mitglieder. Bei insgesamt etwas über 230.000 Einwohner/inne/n, die auf dem Archipel und überwiegend auf der langgestreckten Hauptinsel Grande Terre leben.

Worum geht es bei den aktuellen Prozessen gegen einmal 19, einmal 32 Gewerkschaftsangehörige? Die Anklagen gehen zurück auf heftige Zusammenstöße zwischen rund 500 Mitgliedern der USTKE und staatlichen Sicherheitskräften (rund 200 Polizisten und Gendarmen), die am 17. Januar dieses Jahres in der Inselhauptstadt Nouméa stattfanden. Die damalige Konfrontation dauerte zwölf Stunden lang, wobei die Uniformierten massiv Tränengas einsetzten und von Gummigeschossen Gebrauch machten.

Anlass für den Zoff, der am Vortrag begonnen hatte, war die Entlassung eines Busfahrers und Gewerkschaftsdelegierten (eine Art gewerkschaftlicher Vertrauensmann, der laut Gesetz für eine bestimmte Anzahl von Stunden pro Woche - je nach Betriebsgröße - für die Erfüllung seiner Aufgaben freigestellt ist) der USTKE bei der Transportfirma Carsud. Diese städtische Transportgesellschaft gehört zum Unternehmen Province Sud, das wiederum eine Filiale des französischen Großkonzerns Véolia (ehemals Vivendi) bildet. Vorsitzender von Province Sud ist Philippe Gomès, ein prominentes Mitglied der pro-französischen, als "gemäßigt" loyalistisch geltenden Partei ,Avenir ensemble' (Gemeinsame Zukunft).

Carsud wirft dem von ihr gekündigten gewerkschaftlichen Vertrauensmann vor, er habe Geld aus der Kasse gestohlen. Die USTKE wiederum spricht von einem puren Vorwand, um einen missliebigen Gewerkschafter (und nebenbei Verfechter der Rechte der "Eingeborenen") loszuwerden.

Infolge der von Carsud ausgesprochenen Kündigung kam es zu einer Protestversammlung, in deren Verlauf die uniformierten Sicherheitskräfte massiv gegen die Protestierenden vorgingen. Die Pariser Abendzeitung ,Le Monde' berichtet in ihrer Ausgabe vom Dienstag Abend, ihrer Redaktion lägen Videoaufnahmen vor, auf denen man Polizeikräfte sehen könne, die sich (laut der Formulierung von Augenzeugen) gehen lassen bzw. ihrer Gewalt "freien Lauf lassen". Die Zeitung wörtlich: "(Die Aufnahmen) zeigen Polizisten, die auf der Straße von Nouméa nach Mont-Dore stationiert sind und die Gummigeschosse sowie Tränengasgranaten abschießen sowie Steine werfen auf die Aktivisten, die unterhalb (von ihrer Höhe) befinden. Die Autos fahren weiterhin vorbei, da die Straße nicht abgesperrt worden ist, mitten durch die Tränengasschwaden hindurch."

Bei den Unruhen wurden insgesamt 20 bis 30 Personen, auf beiden Seiten, verletzt (unter ihnen fünf schwerverletzte Demonstranten). Die Aufrührer zündeten ihrerseits ein Polizeifahrzeug sowie das Auto des Direktors von Carsud an. Aufgrund der, folgt man den Augenzeugenbericht, manifesten Polizeigewalt hat die Allgemeine Inspektion der nationalen Polizei (IGPN) - eine gegenüber der französischen Polizeiführung unabhängige, aber direkt dem Innenministerium unterstellten Abteilung, das theoretisch und manchmal auch praktisch zur Kontrolle und ggf. Sanktionierung von Polizeiübergriffen dient - eine Untersuchung gestartet. Am 8. April, kommenden Dienstag, soll deswegen eine Delegation der IGPN in Neukaledonien eintreffen.

Unterdessen wurden aber insgesamt über 50 der "Aufrührer" in der Inselhauptstadt Nouméa dem Richter vorgeführt, siehe oben, unter dem Vorwurf des Straftatbestands gemeinschaftlich begangener Gewalttätigkeiten. 15 Gewerkschafter - unter ihnen zehn, die sofort festgenommen worden waren, und fünf wenig später Verhaftete - waren unmittelbar nach den Ereignissen 5 Wochen lang im Gefängnis von Camp-Est festgehalten worden. Aber eine gerichtliche Überprüfung ergab, dass die Vorgehensweise gegen sie illegal war. Und die Führungsmitglieder der Gewerkschaft, die zunächst der Verhaftung bei oder unmittelbar nach den Protesten entgangen waren, wurden unter Aufwand spektakulärer Mittel gesucht. Dabei kamen maskierte Polizisten des Sondereinsatzkommandos GIPN (ungefähr vergleichbar mit der deutschen GSG9) zum Einsatz. Wohnungen wurden durchsucht und Gewerkschaftslokale umstellt. Gegen den Vorsitzenden der Gewerkschaft fordert die Staatsanwaltschaft nun sechs Monate Haft ohne Bewährung und sechs weitere auf Bewährung, wegen "Beihilfe ( complicité ) zu vorsätzlich begangener Gewalt".

Die Mehrzahl der französischen Medien schweigt bisher weitgehend zu den Vorgängen in Neukaledonien/Kanaky, mit Ausnahme des jüngsten Berichts von ,Le Monde'. Letztgenannte Pariser Abendzeitung distanziert sich in ihrem Artikel allerdings auch teilweise deutlich von der USTKE, die laut Aussagen von politischen Akteuren vor Ort "umstrittene Methoden" anwende und sich "an keine Spielregeln hält". Zu diesen Akteuren, die in dem alles in allem "abgewogen" formulierten Artikel zu Wort kommen, zählt auch der französischen "Hohe Kommissar" (Vertreter des Zentralstaats), Yves Dassonville, der laut dem Journalisten "anerkennt, dass er eine unnachgiebige Haltung gegenüber der USTKE unter Beweis stellen möchte".

Die liberale Zeitung sieht einen Zusammenhang zwischen den arbeitskampfähnlichen Ereignissen und der politischen Links-Rechts-Polarisierung, die auf der Insel zunimmt. Denn im Vorfeld der Wahlen zum Inselparlament im kommenden Jahr 2009, die voraussichtlich die letzten vor dem absehbaren Referendum über die Unabhängigkeit in 2014 sein werden, findet eine Zuspitzung der jeweiligen Positionen statt. Auf der politischen Rechten nimmt so die loyalistische Partei Rassemblement-UMP (ein Ableger der konservativen französischen Regierungspartei UMP) eine zunehmend scharfe Anti-Unabhängigkeits-Position ein und wirbt für "ein Neukaledonien, (das) auch im Jahr 2030 (noch) französisch" bleiben solle. Auf der Linken hingegen wird die Gewerkschaft USTKE zunehmend selbst zum politischen Akteur.

Tatsächlich hat die USTKE jüngst selbst eine politische Partei lanciert, den Parti travailliste (ungefähr: Werktätigenpartei, Labour-Partei). Letztere erzielte bei den jüngsten Kommunalwahlen im März 2008 vor allem im Norden der Hauptinsel, wo die "kanakische" Bevölkerung konzentriert lebt, teilweise beachtliche Ergebnisse. Durch die (Hilfe bei der) Gründung einer eigenen Partei markiert die USTKE nun den Bruch mit der etablierteren antikolonialen Partei FLNKS (Kanakische sozialistische Front zur nationalen Befreiung), die eine Entwicklung ähnlich jener des südafrikanischen ANC und auf eine allmähliche, friedliche Übergabe der politischen Macht an die "eingeborene" Mehrheitsbevölkerung setzt. Dabei fügt sie sich jedoch zunehmend in die politischen Institutionen ein und akzeptiert das vorgefundene Wirtschaftssystem, jedoch unter Forderung nach Teilhabe der von ihr repräsentierten Bevölkerungsgruppe. - Die Gewerkschaft USTKE, die 1982 gegründet worden ist, hatte selbst bis 1989 dem FLNKS angehört. Seitdem hat sie ihm jedoch zunehmend den Rücken gekehrt.

Neben dem Bericht in ,Le Monde' findet man in den französischen Medien an mehr oder minder brauchbarem Material vor allem einen Gastbeitrag, den vier AutorInnen am Dienstag vergangener Woche (25. März) in der sozialdemokratischen Pariser Tageszeitung ,Libération' veröffenlichen konnten. Den von ,Libération' abgedruckten Beitrag verfassten zusammen: die USTKE-Vertreterin Corinne Perron; José Bové, der frühere Sprecher der linken und internationalistischen Bauerngewerkschaft Confédération paysanne (der jetzt für ihren internationalen Dachverband Via Campesina tätig ist); der Anwalt Jean-Jacques de Félice und der frühere hohe Ministerialbeamte Yves Salesse, der jetzt als linker Intellektueller für die anti-neoliberale Stiftung ,Fondation Copernic' arbeitet. Die vier Autoren werfen die Frage auf, "ob gewerkschaftliche Betätigung dort (in Neukaledonien) noch erlaubt ist?", und ziehen einen Zusammenhang zu dem zunehmenden Interesse der internationalen Wirtschaft an den bedeutenden Nickel-Vorkommen auf der Hauptinsel. Unter anderem schreiben sie: "Schon vor einigen haben potenzielle Investoren starken Druck dahingehend ausgeübt, dass das Recht auf gewerkschaftliche Betätigung so stark wie möglich eingeschränkt werden solle. Die örtlichen Naturschätze, die Nickelvorräte locken die multinationalen Konzerne an. Und die Existenz einer kämpferischen Gewerkschaft nervt. Umso mehr, als sie sich auch die Verteidigung umweltschützerischer Anliegen einmischt und Kämpfe gegen die am stärksten umweltzerstörenden Formen des Nickel-Abbaus unterstützt. Man kann also nachvollziehen, dass Dassonville die Aktivisten als ,Chaoten' abqualifiziert".

Soll also ein Exempel an unliebsamen Gewerkschaften, oder jedenfalls an ihrem Vorsitzenden statuiert werden? Auflösung demnächst: Das Urteil dazu fällt am 21. April.

Homepage der Gewerkschaft: http://www.ustke.org/ externer Link

Bernard Schmid, Paris, 03.03.2008


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