letzte Änderung am 28.Mai 2003

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Eine leicht gekürzte Fassung dieses, jetzt aktualisiert vorliegenden, Textes erschien im März 2003 in der Zeitschrift PROKLA (Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft), Heft 130 zum Thema: "Gewerkschaften: Zur Sonne, Zur Freiheit?"

SUD und Solidaires :Linksalternative Basisgewerkschaften in Frankreich

Von Bernhard Schmid (Paris)

Einleitung

Wer in den letzten Jahren an einer politischen oder sozialen Demonstration in Frankreich oder unter Beteiligung von Franzosen und Französinnen teilgenommen hat, etwa aus Anlass eines internationalen Gipfels der Staats- und Regierungschefs von Europäischer Union oder G8-Gruppe, der dürfte sie wahrgenommen haben, die in vielen Farben auftauchenden Fahnen mit der Aufschrift SUD. In neuerer Zeit ist der Schriftzug meist ergänzt worden auf SUD-Solidaires. Auch bei größeren gesellschaftlichen Konflikten wie anlässlich der massiven Erwerbslosenproteste im Winter 1997/98 oder, in jüngerer Zeit, dem über vier Monate andauernden Streik der Beschäftigten einer Pariser McDonalds-Filiale fehlen die Symbole dieser relativ kleinen, aber höchst aktiven Gewerkschaftsorganisation in der Regel nicht.

1. Kapitel : Der historische und juristische Kontext: Ein System des gewerkschaftlichen Pluralismus

Dass neue Akteure wie die SUD-Gewerkschaften im Raum eines guten Jahrzehnts einen veritablen Durchbruch in vielen Sektoren schaffen konnten, ist - neben anderen Ursachen - auch mit auf den Kontext zurückzuführen, in dem sich die französische Gewerkschaftsbewegung organisiert. Dieser Kontext ist seit Jahrzehnten von einer Tradition des politisch-ideologischen Pluralismus geprägt : Mehrere Gewerkschaften unterschiedlicher Orientierung können, prinzipiell auch im selben Betrieb oder in derselben Branche, nebeneinander existieren.

Diese plurale Zusammensetzung der französischen Gewerkschaftsbewegung warf früh das Problem ihrer rechtlichen Konsequzen auf : Wer sollte dazu befugt sein, für die abhängig Beschäftigten zu sprechen, ja ein für alle Lohnabhängigen in einem Betrieb oder einer Branche verbindliches Kollektivabkommen (das französische Äquivalent zum deutschen Tarifabkommen) abzuschließen ? Das geltende französische Recht organisiert eine „Repräsentation in der Pluralität“. Jede einzelne der verschiedenen, miteinander konkurrierenden Gewerkschaften ist demnach dazu ermächtigt, eine convention collective zu unterzeichnen, die rechtsverbindliche Wirkung (ggf. bis zum nächsten Konflikt) entfaltet - aber unter einer Voraussetzung. Dabei dreht sich alles um den zentralen Begriff der représentativité, also des „repräsentativen Charakters“ einer Gewerkschaftsorganisation. Wenn eine Gewerkschaft in diesem Sinne "repräsentativ" ist, kann sie einen für alle Beschäftigten bindenden Kollektivvertrag unterzeichnen. (Schließen mehrere "repräsentative" Gewerkschaften einen Kollektivvertrag bzw. eine Betriebsvereinbarung mit dem Arbeitgeber oder Kapitalverband, so sind alle diese Abkommen rechtsgültig, sofern sie verschiedene Themen betreffen. Haben sie aber den gleichen Gegenstand und sind sie auf gleicher Ebene abgeschlossen, so gilt das jeweils jüngere Abkommen als "Revision" des jeweils älteren. Dazu stellt der article L. 132-7 Arbeitsgesetzbuchs, des Code du travail, eigene Regeln auf. Nach diesen Bestimmungen kann etwa, unter restriktiv gefassten Voraussetzungen, eine numerische Mehrheit der Unterzeichner des älteren Abkommens gegen die "Revision" während der ersten Tage ein Veto einlegen.)

Bis in die jüngere Vergangenheit hinein hatte diese rechtliche Konzeption kaum problematische Implikationen : Erstens aufgrund des im französischen Arbeitsrechts geltenden Günstigkeitsprinzips (principe de faveur) - der article L. 132-4 des Arbeitsgesetzbuchs schreibt im Prinzip vor, dass das Kollektivabkommen oder die Betriebsvereinbarung nur solche Bestimmungen enthalten darf, die aus Sicht der abhängig Beschäftigten günstiger ausfallen als jene der geltenden Gesetzgebung. Dennoch wird diese Ermächtigung einer - möglicherweise in deutlicher Minderheitsposition befindlichen - einzelnen Gewerkschaft, ein für alle Beschäftigten verbindliches Abkommen zu schließen, in jüngerer Zeit immer mehr zum Problem. Denn einerseits hat der Gesetzgeber seit 1982 - die erste Bresche in das Günstigkeitsprinzip hat ironischerweise die erste Linksregierung unter Präsident François Mitterrand gerissen - den Verhandlungspartnern die Möglichkeit eröffnet, auf bestimmten Feldern Abkommen (die so genannten accords dérogatoires) zu schließen, deren Bestimmungen von der geltenden Gesetzgebung abweichen, ohne (notwendigerweise) günstiger aus Sicht der Lohnabhängigen zu sein. Die Zahl der Bereiche, in denen diese Möglichkeit besteht, ist seit 1982 gewachsen, ein zentraler Anwendungsbereich ist jedoch die Arbeitszeitpolitik. Andererseits hat auch die (richterliche) Auslegung des Günstigkeitsprinzips zu einer gewissen Erosion beigetragen. Hat doch eine viel beachtete höchstrichterliche Entscheidung der Cour de cassation - des Obersten Gerichtshofs - vom 19. Februar 1997 in einem konkreten Fall anerkannt, dass eine Betriebsvereinbarung auch dann als „günstiger“ im Vergleich zu konkurrierenden Regeln gelten konnte, wenn die Lohnabhängigen „Opfer“ in Form des Verzichts auf einen Lohnzuschlag zu bringen hatten, aber diese „Opfer“ durch den Erhalt der Arbeitsplätze gerechtfertigt wurden. Allerdings ist in diesem Streitfall angewendete Lösung in anderen Fällen durch die Gerichte abgelehnt worden.

Ein zweiter wichtiger Faktor, der den „gewerkschaftlichen Pluralismus“ akzeptierbar macht, besteht in der in Frankreich vorherrschenden Konzeption des Streikrechts. Dieses durch die Verfassung garantierte Grundrecht stellt - anders als in Deutschland - kein „organisches“ Recht dar, dessen Ausübung an die gewerkschaftliche Struktur gebunden ist. Vielmehr gilt das Streikrecht als individuelles Grund- und Freiheitsrechts jedes abhängig Beschäftigten, das dieser auch völlig unabhängig von einer gewerkschaftlichen Struktur ausüben kann - jedenfalls unter einer Bedingung: Das Streikrecht „in konzertierter Form“ auszuüben, also durch mehr als einen einzigen Beschäftigten (nämlich mindestens zwei). Diese Konzeption lässt die abhängig Beschäftigten als weniger abhängig von der Existenz und der konkreten Politik einer gewerkschaftlichen Struktur erscheinen. Sie hat zugleich die Entstehung freier (Streik-)“Koordinationen“, namentlich in den Jahren 1986 bis 1989, außerhalb gewerkschaftlicher Apparate begünstigt. Aus diesen coordinations wiederum ist, zu maßgeblichen Teilen, der Kern der ersten SUD-Gewerkschaften entstanden.

Die Auswirkungen auf die Begründung von SUD

Welche Konsequenzen aber hat nun das System der „pluralen Repräsentativität“ für die SUD-Gewerkschaften, für ihre Gründung und ihre rechtlichen Möglichkeiten? Zunächst einmal ist die Frage zu stellen, was dieses Kriterium der représentativité - des repräsentativen Charakters - überhaupt beinhaltet. Der Gesetzgeber hat eine Reihe von Rechtspositionen und Vollmachten auf die „repräsentativen“ Gewerkschaften beschränkt : Diese können rechtsverbindliche Kollektivabkommen und Betriebsabkommen abschließen. Sie können einen Freigestellten im jeweiligen Betrieb, wo sie vertreten sind, ernennen (désignation d'un délégué syndical), wobei der Betrieb mindestens 50 Mitarbeiter beschäftigen muss - die Schwelle kann per Branchen- oder Betriebesvereinbarung abgesenkt werden - und der Freigestellte in dem Fall (je nach Betriebsgröße) eine bestimmte Anzahl bezahlter Arbeitsstunden pro Monat auf seine gewerkschaftlichen Tätigkeiten verwenden darf. Sie haben einen Rechtsanspruch auf Vertretung in den wirtschafts- und sozialpolitischen Beratergremien der Regierung wie dem Conseil économique et social. Und sie können, seit einem Gesetz von 1982, als einzige im ersten Wahlgang der Wahlen zu Personalvertretung (etwa zu Betriebsräten oder für die délégues du personnel, die eine Art gewählter betrieblicher Vertrauensleute darstellen) antreten. Ein zweiter Wahlgang, zu dem dann alle Gewerkschaften - auch die nicht als syndicats représentatifs anerkannten - antreten dürfen, findet nur dann statt, wenn die Wahlbeteiligung im ersten Durchgang unter 50 Prozent lag. - Daneben verwalten sie eine Reihe von Sozialkassen des öffentlichen Sozialversicherungssystems, wobei der Vorsitz der Kranken- und Rentenversicherungs- sowie der Kindergeldkassen nach einem festen Verteilungsschlüssel unter den großen Dachverbänden aufgeteilt ist. (Die Gewerkschaftsbünde müssen im jeweiligen Aufsichtsrat freilich zusammen mit den dort ebenfalls sitzenden Arbeitgeber-Vertretern Beschlüsse fassen.)

Die Beschränkung dieser Rechtsansprüche auf die „repräsentativen“ Gewerkschaften geht auf ein Gesetz vom 28. Mai 1945 zurück. Damals ging es vorrangig darum, die Reste der vom profaschistischen Vichy-Regime ererbten, ständischen bzw. zwangskorporatistischen Vereinigungen außenvor zu halten. Doch in den darauf folgenden Jahren, jedenfalls nach Ausbruch des Kalten Krieges und dem Auszug der französischen KP aus der Nachkriegs-Regierung im Mai 1947, trieb eine andere Frage Regierungen und Arbeitgeberlager um : Wie konnte man das Gewicht des mit Abstand stärksen Gewekschaftsbunds umgehen, der „pro-kommunistischen“ CGT, und dabei halbwegs über legitim erscheinende Verhandlungspartner verfügen? Ein Gesetz vom 11. Februar 1950 legt seitdem die Kriterien für „Repräsentativität“ fest. Diese sind im article L. 133-2 des Arbeitsgesetzbuchs niedergelegt. Die entsprechende Gesetzespassage nennt fünf Kriterien : die Mitgliederzahl, die Unabhängigkeit (gemeint ist jene gegenüber dem Arbeitgeber), die Mitgliedsbeiträge, die „Erfahrung und Lebensdauer der Gewerkschaft“, sowie „die patriotische Haltung während der Besatzung“. Allerdings brauchen jene Gewerkschaften, die in einem der fünf „großen“ Dachverbände (CGT, CFDT, FO, CFTC und CGC) - von denen zumindest zwei, die christliche CFTC und die Gewerkschaft der höheren Angestellten CGC, in Wirklichkeit eher geringen Einfluss haben - Mitglied sind, ihre „Repräsentativität“ nicht erst zu beweisen, da die fünf Dachverbände seit einem Regierungsdekret von 1966 eine „unwiderlegbare Vermutung“ zu ihren Gunsten geltend machen können. Damit werden mitunter vom Arbeitgeber aufgebaute Pseudo-Organisationen vor allem in kleineren Betrieben, die kaum Einfluss haben, aufgrund ihres Beitritts zu einem der (meist rechteren) Dachverbände künstlich als „repräsentativ“ anerkannt.

Die Gerichte haben die Anwendung dieser Kriterien im konkreten Falle auszulegen. Dabei haben sie schon seit längerem anerkannt, dass nicht unbedingt alle dieser Knackpunkte die gleiche Aussagekraft aufweisen, zumal das letzt genannte Kriterium (das sich auf den Zweiten Weltkrieg bezieht) auf in jüngerer Zeit begründete Organisationen kaum Anwendung finden dürfte. Die Richter dürfen daher einem oder zweien der Kriterien stärkeres Gewicht als den anderen zusprechen, aber unter der Bedingung, nicht den Gesamteindruck unter Würdigung des Zusammenspiels aller bestehenden Kriterien zu vernachlässigen.

Besonders die SUD-Gewerkschaften hatten überall, wo sie (zum ersten Mal) auftraten, mit dem Problem der Anerkennung ihres „repräsentativen Charakters“ zu kämpfen. In der Regel führten sowohl die Betriebsleitung als auch manche der traditionellen Gewerkschaftsbünde Prozesse gegen den Neuankömmling auf der gewerkschaftlichen Bühne, um etwa sein Antreten zu Personalrats- (im öffentlichen Dienst) oder Betriebsratswahlen zu verhindern. In den öffentlichen Diensten, wo die SUD-Gewerkschaften zuerst auftraten - bei Post und Telekom, in den Krankenhäusern - galt bis vor wenigen Jahren die Regel des article L. 133-2 in dieser Form nicht, da der Code du travail unmittelbar nur auf die Unternehmen des privaten Wirtschaftssektors (sowie die Eisenbahner mit ihrem besonderen Statut) Anwendung findet, während im öffentlichen Dienst (staatlich gesetzte) Sonderregeln gelten. Freilich setzten die in ihrer Rechtsform autonomen öffentlichen Unternehmen oftmals eigene „Repräsentativäts-Regeln“ für die bei ihnen vertretenen Gewerkschaften auf. Doch im Jahr 1996 schrieb ein Gesetz des damaligen konservativen Ministers für den öffentlichen Dienst (und jetzigen Justizministers), die Loi Perben, auch für den öffentlichen Dienst nunmehr gleiche Regeln bezüglich der gewerkschaftlichen représentativité vor. Die Rechtfertigung war gefunden, da damals der neofaschistische Front National versuchte, parteieigene Pseudo-Gewerkschaften - etwa bei der Polizei, unter den Gefängniswärtern sowie im Transportsektor - zu installieren. Die Anwendung der Loi Perben bedeutete jedoch real ein Hindernis nicht nur für die rechtsextremen Partei-Ableger in der Arbeitswelt, die ohnehin 1997/98 durch die Justiz verboten worden sind, sondern vor allem auch für die Newcomer in Form der linksalternativen SUD-Gewerkschaften. Laut Annick Coupé, Mitgründerin der ersten Branchengewerkschaft SUD-PTT (SUD bei Post und Telekom) und seit 2001 Sprecherin des umgebildeten Dachverbands Union syndicale- Solidaires, wurden „in 99 Prozent der Fälle“ entsprechende Verfahren angestrengt, mit dem Ziel, SUD ihre „Repräsentativität“ zu verweigern. Allerdings hätten die SUD-Gewerkschaftsgründer „über die Hälfte“ der Prozesse gewonnen. (Interview des Autors mit Annick Coupé) Freilich hätten die Prozesse doch zur Abschreckung oder Entmutigung (potenzieller) Aktivisten beigetragen.Allerdings äußert der Unternehmensberater (und frühere CFDT-Gewerkschafter) Daniel Labbé in seinem Buchbeitrag - der eher daraufhin konzipiert ist, Gegnern von SUD Strategien und Analyseinstrument an die Hand zu geben - die gegenläufige Ansicht, dass „die Strategie der institutionellen Ausgrenzung“ etwa bei der Post erheblich zur Stärkung der Positionen von SUD-PTT beigetragen habe. Denn diese, in seinen Augen gescheiterte, Strategie habe SUD in den Augen vieler abhängig Beschäftigter als „Verteidiger der Rechtlosen“ erscheinen lassen und ihr die Aura moralischer Integrität verliehen. (Labbé 2001, 67) Ähnliches berichten auch die Protagonisten verschiedener SUD-Gründungen, was die Wahrnehmung ihrer Gewerkschaften durch die Beschäftigen betrifft. Daher scheint die Ausgrenzungsstrategie bei einigen Unternehmen, etwa Fance Télécom, ad acta gelegt worden zu sein.

Bei der Anwendung der Repräsentativitäts-Kriterien auf die SUD-Gewerkschaften basierten die Gerichte ihre Lösung häufig auf den Punkt der „Erfahrung und Existenzdauer“. Mal berücksichtigten sie die Existenz einer langen „gewerkschaftlichen Erfahrung“ der SUD-Begründer, die jene in oftmals Jahrzehnte langer Betätigung für andere Gewerkschaftsorganisationen - häufig die CFDT - erworben hatten, bevor sie sich von jenen Verbänden abspalteten oder trennten, zugunsten von SUD. Mal wiederum legten sie das Kriterium eng aus und forderten eine längere Erfahrung innerhalb der eigenen Strukturen von SUD - was im Fall einer Neugründung natürlich schwierig ist. Das Jahresende 2002 ging für SUD mit guten Nachrichten einher, nämlich mit einem doppelten gerichtlichen Sieg. In einer Entscheidung vom 3. Dezember 2002 fand sich der Oberste Gerichtshof dazu bereit, die Anwendung der Kriterien ein wenig „aufzuweichen“ : Die erwiesene Unabhängigkeit gegenüber dem Arbeitgeber - die häufig bereits durch dessen Prozessieren erbracht ist... - und der „Einfluss“, verstanden als Fähigkeit zur Mobilisierung eines Teils der abhängig Beschäftigten, können demnach für den Nachweis der „Repräsentativität“ genügen. Konkret hatten die Betriebsleitung und die CFDT gegen die im Januar 2001 neu gegründete Gewerkschaft SUD bei den elsässischen Sparkassen geklagt, nachdem SUD drei Monate später einen Freigestellten ernannt hatte. (Vgl. dazu die Analyse der Wirtschaftszeitung La Tribune vom 05.12.2002) Wenige Tage später gab, am 16. Dezember 2002, das Pariser Verwaltungsgericht einer Klage der - im Aufbau befindlichen - Gewerkschaft SUD Transports statt, welche die Personalratswahlen bei den Pariser Transportbetrieben der RATP (Metro- und Buslinien) angefochten hatte. Da SUD nicht am ersten Wahlgang hatte teilnehmen können, konnte die Gewerkschaft sich so gerichtlich ihre représentativité anerkennen lassen. (Siehe dazu einen Artikel der Pariser Abendzeitung Le Monde vom 19.12.2002)

Nicht unwahrscheinlich ist unterdessen, dass die neokonservative Regierung Raffarin im Laufe des Jahres 2003 ohnehin die geltenden Regeln in Sachen „Repräsentativität“ in Frage stellen wird. Denn auch im Arbeitgeberlager werden diese Spielregeln zunehmen in Frage gestellt, weil ihre Anwendung sich als untauglich erweist, um „soziale Frieden“ bzw. Ruhe an der Front der Arbeitskonflikte herzustellen. Denn oftmals weisen die auf solcher Grundlage geschlossenen Abkommen nur eine geringe Legitimierungskraft auf, und können in der Praxis im Prinzip schon bald durch einen neuen Konflikt über den Haufen geworfen werden. Daher verlangt auch ein Teil der Arbeitgeber nach einer Neuregelung, die zu stärkerer Legitimierung der unte „Sozialpartnern“ geschlossenen Vereinbarungen führen soll. Die SUD-Gewerkschaften wollen die sich dadurch eventuell eröffnende Situation jedenfalls nutzen, um die Frage nach der gewerkschaftlichen Demokratie öffentlich neu aufzuwerfen. (Interview mit Annick Coupé)

2. Die Wurzeln der Entstehung von SUD: Die widerspruchsreiche Entwicklung der CFDT 1968 - 1988

Die Wurzeln der Entstehung des linksalternativen Gewerkschaftsprojekts SUD finden sich zuerst in jener widerspruchsreichen Entwicklung, welche der - neben der CGT- zweite große gewerkschaftliche Dachveband in Frankreich ab Mitte der 60er Jahre nahm, also die CFDT. Eine der damals in der CFDT (neu) angelegten Traditionslinien wird später gewissermaßen auf geradem Weg durch die SUD-Gewerkschaften verlängert, nachdem die CFDT sie in einem längeren Prozess abgestoßen hatte.

Die Confédération française démocratique du travail (Französischer demokratischer Arbeiterverband) entsteht durch eine Umwandlung des Mehrheitsblocks der alten, katholisch-sozialen Konföderation CFTC anlässlich ihres Kongresses vom 6./7. November 1964 in Issy-les-Moulineaux. Im Zuge der Modernisierung der französischen Nachkriegsgesellschaft spricht der Kongress sich für eine „Entkonfessionalisierung“ des Gewerkschafts- und Gesellschaftsverständnisses aus. Eine eher konservativ geprägte Minderheit will den Wandlungsprozess jedoch nicht mittragen und spaltet sich ab, um den Namen der CFTC beizubehalten. Die neue CFDT öffnet sich zu gesellschaftlichen Widerspruchspotenzialen hin und nimmt ab Mitte der 60er Jahre an bedeutenden örtlichen Streikbewegungen teil.

Zugleich findet auch eine Öffnung zu neuen gewerkschaftlichen Themen statt, wie beispielsweise „Dritte-Welt“-Solidarität, Forderungen nach Lebensqualität und weniger Autoritarismus in der Gesellschaft sowie - ab den frühen 70er Jahren bereits - Ökologie; so fordert die CFDT damals einen mehrjährigen Baustopp für Atomanlagen. Die ideelle Basis für diese Weiterentwicklung der CFDT-Programmatik beruht zu bedeutenden Teilen auf einem moralisch-ethischen Anspruch, der aus dem ursprünglich christlichen Kontext herstammt, aber aus der religiösen Bindung herausgelöst wurde. Die Abgrenzung von der CGT erfolgt (abgesehen davon, dass die CFDT sich nicht gleichermaßen positiv auf den sowjetischen „Realsozialismus“ bezieht wie der CGT-Apparat) dadurch, dass die „entkonfessionalisierte“ CFDT der erstgenannten Organisation vorwirft, ein vor allem „quantitatives“ Gewerkschaftsverständnis zu vertreten - im Sinne von Lohn- und Prozentforderungen, welche das gesellschaftliche „Sein“ nicht in seinem Wesen träfen. Ein ursprünglich angelegter Moralismus kombiniert sich dabei mit einer sozialutopischen Note, die im Laufe der 70er Jahre zeitweise stark antiautoritäre Klänge annimmt.

Während des Mai 1968 - der in Frankreich, anders als in der Bundesrepublik, nicht vorwiegend auf Demonstrationen der Studierenden und der Jugend beruht, sondern daneben den mehrwöchigen Streik von 8 Millionen Beschäftigten umfasst - unterstützt die CFDT deutlich die Streikenden. Damit versucht sie auch, der CGT Terrain abzugewinnen, denn die Apparate von CGT und Französischer Kommunistischer Partei, die durch den Ausbruch der Streikwelle überrascht und überrollt worden, suchen diese in erster Linie unter Kontrolle zu bringen und auszubremsen. In der Folgezeit gewinnt die CFDT umso leichter jüngere oder links stehende Neumitglieder hinzu. Auch die Anhänger der - durch die Bewegung des Mai 1968 erstarkten - trotzkistischen, maoistischen und anarchistischen Gruppen schließen sich nicht selten der CFDT an, vor allem die undogmatischen unter ihnen. Der CFDT-Kongress vom 5. bis 10. Mai 1970 beschließt, dass der Gewerkschaftsbund sich nunmehr zum „Sozialismus“ als gesellschaftlichem Projekt bekennt. Damit ist vor allem der socialisme autogestionnaire gemeint, der „Selbstverwaltungs-Sozialismus“. Die autogestion ist in jenen Jahren in vieler Leute Munde, vor allem bei dem ein Jahr lang währenden Kampf um die Uhrenfabrik Lip (1973/74), die - nachdem ihre Besitzer sie in Konkurs gehen lassen wollten - durch die Arbeiter übernommen und in Eigenregie betrieben wird.

Die „Selbstverwaltung“ ist zwar zunächst eher ein Slogan denn ein fertiges Gesellschaftsmodell - ein solches ist auch gar nicht intendiert -, doch lässt sich durch ihn vor allem der Unterschied zur autoritären Planwirtschaft nach sowjetischem Muster hervorheben. Damit wird auch der Unterschied zum PCF und zur CGT, als französischen Unterstützern des sowjetischen Systems, deutlich. Die CFDT macht sich die - insgesamt noch eher schwammige - Formel der autogestion zu eigen, wobei der Politologe René Mouriaux darauf hinweist, ein bestimmtes Verständnis von „Selbstverwaltung“ lasse sich auch mit Vorstellungen eher konservativer bzw. christlicher Herkunft zum Subsidiaritätsprinzip verbinden. Tatsächlich weist das katholisch-bürgerliche Milieu in Frankreich eine lange Tradition der Verteidigung „kleinerer, historisch gewachsener Einheiten“ gegenüber dem modernen, republikanischen Staat mit seinem abstrakten Gleichheitsversprechen auf. (Mouriaux 1984, 106) Ähnlich, wie in jener Zeit der ursprünglich aus einem christlichen Rahmen entlehnte ethische Anspruch der CFDT und die Idee, „Qualität“ (etwa Werte wie Solidarität) vor „Quantität“ (in Form reiner Lohnforderungen) zu setzen, wurde auch hier ein aus anderem Kontext stammendes Konzept entlehnt und mit einem sozialistischen Diskurs überformt.

Später, im Zuge ihrer Rechtsentwicklung, hat die CFDT dem Slogan von der „Autonomie der Zivilgesellschaft“ jedoch erneut eine völlig veränderte Bedeutung verlieren - jetzt geht es um die Idee einer autonomen Regelungssphäre der Sozialpartner, aus der die politische und gesetzliche Regulierung weitgehend zu verdrängen sei. In der konkreten Ausformung lief dies in späten 90er Jahren vor allem darauf hinaus, sozialpolitische Rückschritte im Namen der Vertragsfreiheit unter Sozialpartnern, und der erforderlichen "Entpolitisierung" der sozialen Beziehungen, abzusegnen. Das zeigte sich im Jahr 2000 mit der Aushandlung des PARE, jenes "Eingliederungsvertrags" für Erwerbslose, mit Hilfe dessen der Druck auf Arbeitslose - darauf zielend, diese auch in die miesesten Jobs zu zwingen, unter Androhung von Zwangsmitteln und Sanktionen bei gescheiterter "Jobvermittlung" - deutlich erhöht wird. Der PARE erblickte im Herbst 2000 das Licht der Welt, als gemeinsames Kind des Arbeitgeberverbands MEDEF und der CFDT; da letztere die Arbeitslosenkasse UNEDIC verwaltet, hat die CFDT auch ein direktes eigenes Interesse daran, eine rigide Sparpolitik auf Kosten der Arbeitslosen durchzuziehen. Die sozialdemokratische Regierung unter Lionel Jospin, zu der die CFDT in Rechtsopposition stand, war anfänglich vom PARE-Projekt nicht begeistert. Doch gab sie ihren anfänglichen hinhaltenden Widerstand - nach einem "klärenden" Telefongespräch zwischen Premierminister Jospin und dem MEDEF-Boss, Baron de Seillière, das zu einer Regelung an der Spitze führte - im Oktober 2000 auf. Jüngstes Beispiel für die neuere Entwicklung der CFDT: Nachdem am 13. Mai 2003 frankreichweit rund zwei Millionen abhängig Beschäftigte gegen die antisoziale "Reform" des Rentensystems demonstriert hatten, beeilte sich die CFDT-Führung, am 15. Mai ein Abkommen mit der Rechtsregierung unter Jean-Pierre Raffarin zu unterzeichnen, das die Unterstützung der "Reform" zum Gegenstand hat. (Das ist nicht einmal konsequent im Sinne ihres eigenes Diskurses, da die CFDT theoretisch eine „autonome Verhandlung“ unter sogenannten Sozialpartnern unter Ausschluss der Politik fordert. Nur besteht ihr Problem derzeit darin, dass der Arbeitgebererband MEDEF seit dem Regierungswechsel seine frontale Konfrontation zum „Politischen“, die zwischen 1999 und 2001 angesagt war, aufgegeben hat. Anders als unter der Jospin-Regierung strebt der MEDEF heute nicht mehr nach möglichst viel „Vertragspolitik“ bei Hinausdrängen des Gesetzgebers, sondern nach Drei-Parteien-Abkommen unter Hinzuziehung der Rechtsregierung. Gilt doch letztere dem MEDEF als zuverlässige Stütze.) Soziale Bewegungen auf der Straße, wie die derzeitige, werden heutzutage im CFDT-Apparat vor allem mittels der Stichworte "Demagogie" und "gefährlicher Popoulismus" bewertet. Oft unter Berufung auf das (ansonsten leider echte) Problem, dass zeitweise der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen an Wahltagen nicht wenig Zuspruch unter jenem Teil der Lohnabhängigen erfuhr, der überhaupt noch zur Wahlurne geht.

Zurück in die frühen Siebziger Jahre: Damals jedoch sind diese Diskurselemente mit einem starken sozialistischen Anspruch verbunden. Dabei lehnt der CFDT-Apparat es jedoch ab, diesen Anspruch auf die Marx‘sche Theorie zu gründen. Anfang der 70er Jahre dreht sich die Strategiedebatte innerhalb der CFDT vor allem um die Rolle der politischen Parteien. Auf der einen Seite stehen die Anhänger der stratégie commune (gemeinsame Strategie), die auf eine Partnerschaft mit politischen Kräften setzt, welche die Regierungsmacht übernehmen und dort gemeinsame wirtschaftspolitische Ziele umsetzen sollen. Marcel Gonin und der spätere CFDT-Generalsekretär Edmond Maire hatten dafür bereits 1967 einen Entwurf vorgelegt, in dem unter anderem folgende Rollenverteilung ausgemalt wird : „Wenn die Parteien dann an der Macht sind, haben die Gewerkschaften die Streikbewegungen zu disziplinieren, um die gewählten Ziele nicht zu gefährden.“ (Zitiert bei Aparicio/Pernet/Torquéo 1999, 26) Auf der anderen Seite stehen die Anhänger der stratégie autonome, welche die Gewerkschaft eher als Gegenmacht verstehen - deren Ziele zwar durch eine politische Partei übernommen werden könnten, aber nur unter Wahrung größtmöglicher Eigenständigkeit. Die Anhänger der ersten Position setzen sich zunächst indirekt durch, und die CFDT platziert sich an der Seite der französischen Sozialdemokratie - die als einheitliche Partei, neben der KP, erst 1971 auf dem Kongress von Epinay-sur-Seine wieder gegründet worden war. Im Jahr 1974 beteiligt die CFDT sich an den so genannten Assises du socialisme, einem Kongress, der einer deuxième gauche - der nicht kommunistischen „zweiten Linken“ - Schwung verschaffen soll. (Vgl. das Buch zu diesem Thema von Hamon/Rotman, 1982/1984/2002) Der CFDT-Apparat setzt damals vor allem auf Michel Rocard, der im selben Jahr 1974 vom linkssozialstischen PSU zum größeren Parti Socialiste (PS) seines langjährigen Rivalen François Mitterrand überwechselt. Viele CFDT-Führungsmitglieder begleiten die Rocardianer in den PS. Rocard wird später die ewige Nummer Zwei hinter dem verhassten François Mitterrand bleiben, und als Premierminister einer sozialliberalen Koalition in den Jahren 1988 bis 1991, unter Präsident Mitterrand, enden. Bis heute halten (derzeit sozialliberale) Intellektuelle aus der Umgebung von Michel Rocard höchste Führungspositionen im CFDT-Apparat inne.

So, wie die CGT die Französische Kommunistische Partei begleitet, so scheint die CFDT nunmehr die neuen Aufschwung nehmende Sozialdemokratie zu begleiten - die in der Union de la gauche mit der KP verbündet ist. Die Linksunion scheint unaufhaltsam an die Regierung zu drängen, da das neue Gewicht der Sozialdemokratie innerhalb der Union geeignet scheint, vielen Wählern die Kommunismus-Angst zu nehmen.

Doch die Linksunion zerbricht im September 1977. Erstens hatte der PS sich, unter dem Einfluss der Sozialistischen Internationale und vor allem der westdeutschen SPD, deutlich nach rechts entwicklelt. Daneben hatte auch die sowjetische KP ihrerseits Druck auf den französischen PCF ausgeübt. Seitens der KPdSU war man einerseits nicht gewillt, den Einfluss auf die französische „Bruderpartei“ zu verlieren. Andererseits aber misstraute man Mitterrand auch aus außenpolitischen Motiven, nämlich weil man ihn für einen stärkeren „Atlantiker“ hielt als die Chefs der gaullistischen Rechten. Die Aussichten auf die Regierungsübernahme einer "vereinigten Linken" entfernen sich.

Der Bruch der Linksunion führt zu unterschiedlichen Konsequenzen. Seitens des PCF und der CGT etwa verfällt der „harte Kern“ in eine zunehmende dogmatische Erstarrung, und beginnende politische Isolierung. Gleichzeitig gelingt der CGT die von ihr erhoffte Remobilisierung der Arbeiterschaft nicht. Denn durch den beginnenden Anstieg der Massenarbeitslosigkeit - der ab 1974, beginnend mit der so genannten Ölkrise, einsetzt - hat sich das lokale Kräfteverhältnis in den Betrieben drastisch verschlechtert. Der CGT bleiben so nur noch symbolträchtige nationale Aktionstage für einen „Politikwechsel“, der sie aber immer stärker ins Schlepptau ihrer politischen „Mutterpartei“ geraten lässt. (Ross 1984, besonders 71/72)

Seitens des CFDT-Apparats wiederum setzt zu jener Zeit das ein, was man als zynische Verbitterung gegenüber „der Politik“ bezeichnen kann. Da das Politikmodell der Führung gescheitert erscheint - Michel Rocard hat sich innerhalb des PS nicht durchsetzen können, und die Aussichten auf eine Regierungsübernahme der Linksparteien scheinen sich weit entfernt zu haben - , zieht diese den Schluss darauf, dass gesamtgesellschaftliche Visionen und soziale Utopien nunmehr zu verbannen seien. Nur noch die „eigentliche Aufgabe“ der Gewerkschaft habe ab jetzt zu zählen, nämlich das Verhandeln mit den Arbeitgebern auf der betrieblichen "Mikro"ebene, zum Zwecke des Abschlusses konkreter Kollektivabkommen. Der CFDT-Kongress von Brest 1979 steht im Zeichen des recentrage - „rezentrieren“, dre Ausdruck stammt von Generalsekretär Edmond Maire, bedeutet hier so viel wie „sich auf seine Aufgaben besinnen“. Radikaleren gesellschaftspolitischen Ideen wird jetzt der Kampf angesagt.

Ein neuer scharfer Kurswechsel erfolgt für kurze Zeit im Frühjahr 1981. Vom CFDT-Apparat eher unerwartet, gewinnt der Sozialist François Mitterrand doch noch die Präsidentschaftswahl vom 10. Mai 1981. Die Linksunion ist an der Regierung, wobei die KP bereits tedenziell marginalisiert ist und sich völlig im Schlepptau Mitterrands befindet. Zahlreiche CFDT-Führungskräfte treten in die neu gebildete Regierung von Pierre Mauroy oder in die hohe Verwaltung ein. Die CFDT übt dabei eher eine sozialpolitische Bremserfunktion aus. Edmond Maire wird zum 20. Jahrestags des Wahlsiegs Mitterrands erzählen: „Am Abend des 10. Mai warnten wir ihn (Mitterrand) vor einer , welche die Inflation angeheizt hätte. (...) Wir haben Mitterrand erläutert, dass man die 35-Stunden-Woche nicht sofort und nicht auf gesetzlichem Wege einführen dürfe, sondern nach und nach sowie auf dem Verhandlungsweg.“ (Libération, 08.05.2001) Die CFDT wird sich in der ersten Zeit gegenüber der Mauroy-Regierung verhalten, „als wäre sie eine offizielle Gewerkschaft“ - so steht es im Rechenschaftsbericht eines CFDT-Führungsmitglieds von Oktober 1981. (Mouriaux 1984, 93)

Als die Linksregierung ab dem Jahreswechsel 1983/84 - nach anfänglichen sozialen Reformen - das Ruder jäh herumwirft, da der wirtschaftliche Druck auf sie rapide wächst, spielt die CFDT die Avantgarde der regressiven Bewegung. Am Amtssitz des Premierministers ruft Edmond Maire vor Journalisten dazu auf, eine notwendige „neue Austeritätspolitik“ zu betreiben und eine „Reformpause“ einzulegen. (Aparicio/Pernet/Torquéo, 40) Jeder Bezug auf den Sozialismus wird aus dem CFDT-Gesellschaftsprojekt gestrichen, der Markt und der Aufbau der Europäischen Gemeinschaft (sowie die „vernünftige“ Verhandlung unter Sozialpartnern) werden positiv besetzt. Soziale Bewegungen hingegen werden nunmehr, im Kontext des verallgemeinerten Zynismus gegenüber allem „Politischen“ - nur noch denunziert. Die CFDT-Führung prangert etwa die Studierendenbewegung vom Dezember 1986 als „Manipulation der radikalen Linken“ an und fordert die zeitgleich streikenden Eisenbahner öffentlich zur Wiederaufnahme der Arbeit auf.

In diesem Kontext sind Brüche innerhalb der CFDT unvermeindlich geworden. Hier hat die Geburtsstunde der SUD-Gewerkschaften geschlagen.

3. SUD, ein (erfolgreiches) gewerkschaftliches Experiment

Die Entstehung bzw. das Wachstum der SUD-Gewerkschaften lässt sich am trefflichsten in drei zeitliche Abschnitte einteilen. Am Anfang steht die Herausbildung der ersten Organisationen dieses Namens als Folge der heftigen inneren Konflikte in einigen CFDT-Sektionen in den Jahren 1988/89, gefolgt von einer allmählichen Konsolidierung dieser organisatorischen Kerne. Auf diese Phase folgt jene, die von den unmittelbaren Nachwirkungen des Streikherbsts in den öffentlichen Diensten Frankreichs im November/Dezember 1995 geprägt ist. Drittens erhalten die SUD-Gewerkschaften neue „Zufuhr“ durch die innergewerkschaftlichen Konflikte, die - dieses Mal in der Privatindustrie - aus der Anwendung des „Aubry-Gesetzes“ zur Arbeitszeitreform erwachsen. Damit einher geht eine Verbreitung der sozialen Basis der SUD-Gewerkschaften, die nunmehr auch in den privaten Wirtschaftssektor und die Industrie hineinreicht, nachdem die „Pionier“gruppen alle in den öffentlichen Diensten entstanden waren.

Im Herbst 1988 finden zwei größere Arbeitskämpfe statt, welche die Widersprüche innerhalb der CFDT zum Tanzen bringen. Einerseits traten die Sortierzentren der Post, vom nordfranzösischen Lille ausgehend, und im Großraum Paris zusätzlich die camions jaunes - die „gelben Lastwagen“, mit denen das Sortiergut verteilt wird - in den Ausstand. Hintergrund waren eine drohende Privatisierung von Teilen des Sektors sowie ein Konflikt um die vom Arbeitgeber festgelegten, variablen Arbeitszeiten. Die dort beschäftigten Arbeitskräfte sind - anders als der Durchschnitt der Postbeschäftigten - zum größeren Teil nicht gewerkschaftlich organisiert, wofür es mehrere Gründe gibt : Sie sind oft gering qualifiziert, und viele von ihnen sind (gesellschaftlich mitunter schlecht integrierte) Zuwanderer aus den départements d‘outre-mer, aus den französischen „Überseebezirken“, und vor allem von den Antillen. Aufgrund des relativ geringen gewerkschaftlichen Organisierungsgrads schließen sich die Ausständischen sich sich daher in einer Streikkoordination (vgl. oben) zusammen, in der Mitglieder und Nichtmitglieder gewerkschaftlicher Organisationen zusammen wirken. Aufgrund der verhärteten Konfliktlage greifen die Streikenden in einigen Fällen zu unkonventionellen Mitteln, wie dem Blockieren von Sortierzentren mittels der camions jaunes.

Die CFDT-Sektion bei den PTT (Poste, télégraphes et télécommunications) - jener öffentlichen Verwaltung, unter derem einheitlichen Dach damals noch die jetzigen Post- und Telekom-Unternehmen zusammengeschlossen sind - entsolidarisiert sich klar und deutlich von der Streikbewegung. Erstens richtet diese sich gegen die Regierung von Michel Rocard, und damit einen besonderen Freund der CFDT-Führung. Und zweitens befinden sich damals bereits die Pläne für die Réforme Quilès in den Schubladen. Die schließlich 1991 in Kraft getretene Reform von Postminister Paul Quilès hat die Trennung der vormaligen öffentlichen Verwaltung der PTT in die beiden Unternehmen (mit autonomem Rechtsstatus) La Poste und France Télécom zum Inhalt. Es handelt sich um die erste Vorstufe zur, auf lange Sicht hin geplanten, Privatisierung der beiden öffentlichen Dienste. Die CFDT will bezüglich der Reform konsultiert werden.

Die CFDT-Mitglieder unter den Streikenden und den Animateuren der coordinations in Lille und Paris erfahren am 3. bzw. 7. November 1988, aus der Presse oder von ihren Vorgesetzten, dass ihnen sämtliche gewerkschaftlichen Funktionen entzogen worden sind. Damit sind sie aber auch des besonderen Sanktions- und Kündigungsschutzes verlustig gegangen, denen sie bis dahin aufgrund ihrer gewerkschaftlichen Ämter genossen hatten. Drei Tage später fordert der Vorsitzende der CFDT-Sektion bei den PTT, Jean-Claude Desrayaud, den amtierenden Minister Quilès dazu auf, seiner Verantwortung nachzukommen und endlich „das Recht der Arbeitswilligen darauf, arbeiten zu können“ durchzusetzen. Am 13. November entfernt die Armee, unter Mithilfe der Polizei, die zur Blockade eingesetzten camions jaunes. Der innergewerkschatliche Streit zeitigt seine Auswirkungen kurz darauf auf dem CFDT-Kongress, der vom 21. bis 28. November 1988 in Strasbourg stattfindet. Gewerkschaftschef Edmond Maire fordert dort explizit „den Ausschluss der schwarzen Schafe der Unruhestiftung, von denen einige missbräuchlich den Namen der CFDT in Anspruch nehmen.“ (Coupé 2002, 16/17; Crettiez/Sommier 2002, 174/175; Labbé 2001, 52/52; Interview mit Guy Freyche.) Die Mitgliedschaft der gesamten regionalen Sektion der CFDT-PTT im Großraum Paris im Dachverband wird „suspendiert“.

Ungefähr zur selben Zeit beginnt die Streikbewegung im Gesundheitswesen, vor allem im Großraum Paris. Die Krankenschwestern und andere Beschäftigtenkategorien leiden schon seit längerem unter der mangelnden Anerkennung ihrer beruflichen Qualifikation, den extremen Hierarchiebeziehungen gegenüber dem ärztlichen Personal und den von Stress und Hektik geprägten Arbeitsbedingungen. Auch diese Berufsgruppe ist in vergleichsweise geringem Maße gewerkschaftlich organisiert. Auch hier bildet sich rasch eine Streikkoordination. Noch während der mehrwöchige Streik sich in seiner Ausweitungsphase befindet, unterzeichnet die CFDT-Sektion im Gesundheitswesen (CFDT Santé) ein Abkommen, das durch viele Ausständische als Dolchstoß in den Rücken erlebt wird. Im März 1989 wird im Anschluss die gesamte CFDT-Sektion des Großraums Paris (CFDT Santé Ile-de-France), die als erste das Abkommen öffentlich kritisiert hatte, kollektiv aus der Branchenorganisation der CFDT ausgeschlossen. (Coupé 2002, 17 und 26)

Die solchermaßen an den Rand gedrängten oder gar ausgeschlossenen CFDT-Mitglieder beschließen, ihren Kampf nicht einfach aufzugeben. Die „suspendierten“ oder ausgeschlossenen Gewerkschafter bei Post und Telekom fordern die CFDT-PTT zunächst kurz vor Jahresende 1988 auf, alle Sanktionen bis zum 15. Januar 1989 zurückzunehmen. Zugleich hinterlegen sie bei zuständigen Registrierungsbehörden bereits die Statuten für eine neue unabhängige Branchengewerkschaft - „für den Fall, wo dies notwendig würde“. Als Namen geben sie Solidaires, Unitaires, Démocratiques an (für „Solidarisch, der Kampfes-Einheit verbunden und demokratisch“ wobei alle Adjektive im Plural stehen). Diese Namensgebung impliziert bereits eine klare Kritik an den Praktiken beim Dachverband CFDT, die man nicht zu wiederholen wünscht: Die CFDT war nicht solidarisch gegenüber den Streikenden, und hat auf undemokratische Weise mittels autoritärer Sanktionen die Aktivitäten ihrer eigenen Mitglieder zu unterbinden versucht. Als Abkürzung ergibt dies SUD (sprachlich gleichklingend mit „Süden“), ein Name, der zugleich ein Augenzwinkern für die zahlreichen bei der Post arbeitenden „Provinzler“ aus Südfrankreich darstellen, und an Sonnenschein und andere angenehme Dinge denken lassen soll. Am 1. Februar 1989 war die Gründung dann offiziell. - In den Krankenhäusern, wo der Konflikt mit der CFDT ein wenig zeitverschoben stattfindet, hingegen wird als Name CRC gewählt. Das Kürzel steht für Coordonner, rassembler, construire (Koordinieren, sammeln, aufbauen) und soll symbolisch den Anspruch verkörpern, selbst die Kontinuität der früheren Basisaktivitäten der CFDT darzustellten. Denn die Formel Coordonner, rassembler, construire war bereits zuvor als Slogan der CFDT im Gesundheitswesen des Pariser Großraums benutzt worden. In den ersten Monaten des Jahres 1989 konsolidieren sich so die ersten „harten Kerne“, aus denen die spätere gewerkschaftliche Strömung rund um die SUD heranwachsen wird. Alsbald sind die GründerInnen vom eigenen Erfolg überrascht. Im März 1989 - nur drei Monate nach dem Ausschluss der SUD-Begründer aus der CFDT - finden bereits die Personalratswahlen bei den PTT statt. Aus dem Stand heraus erhält die neue Branchengewerkschaft SUD-PTT im nationalen Durchschnitt 5 Prozent der Stimmen. Doch vor allem erhält SUD-PTT in der Ile-de-France, der Region von Paris und seines Umlands, auf Anhieb glatte 15 Prozent der Stimmen. Der fulminante Erfolg wird nur den Anfang einer dauerhaften Verankerung in den, künftig getrennten, Unternehmen La Poste und France Télécom bilden. Vor dem Hintergrund der Wandlungsprozesse dieser beiden Unternehmen im zurückliegenden Jahrzehnten - die Einführung von Managementmethoden wie in der Privatindustrie, der Übergang zu Rentabilitätskriterien bei der Erfüllung vieler öffentlicher Dienstleistungen, die Vorbereitung auf die Privatisierung, die bei France Télécom 1997 erfolgte - konnte SUD-PTT eine bis heute nicht abgerissene Kette von Erfolgen realisieren.

Eine der Ursachen dafür ist wohl, dass SUD den neoliberalen Umstrukturierungsprozessen mit einer fundamentalen Kritik gegenübertritt, jedoch zugleich pragmatisch am konkreten Erleben der Beschäftigten anzuknüpfen verstand und sich nicht auf das Wiederholen ideologischer Dogmen versteifte. So lehnt SUD-PTT zwar die Einstellung von neuen Beschäftigten mit privatrechtlichen Verträgen (statt dem Status öffentlich Bediensteter) im Prinzip kategorisch ab. Doch nachdem diese Realität nun einmal eingekehrt ist, und sich eine zunehmende Anzahl junger Beschäftigter mit privatrechtlichem Status im Unternehmen befinden, ist SUD-PTT von Anfang an auf diese otmals prekär Beschäftigten zugegangen und hat sie in ihre Aktionen einzubinden versucht. Bei den Personalrats- und Betriebsratswahlen bei France Télécom erhielt SUD im Jahr 2000 respektive 27,6 und 28 Prozent der Stimmen und liegt damit quasi gleichauf mit der CGT, mit welcher sie sich den ersten Platz teilt. Bei der französischen Post erhielt SUD-PTT bei den Personalratswahlen im gleichen Jahr 2000 und ist die zweitstärkste Gewerkschaft.

In den Krankenhäusern mit ihren anderthalb Millionen Beschäftigten dauerte es für CRC etwas länger, bis der Erfolg auf breiterer Fläche eintrat. Lange Zeit blieb CRC in ihren Wahlergebnissen deutlich schwächer als SUD-PTT, zumal sich Mitte der 90er Jahre spontan neue Gewerkschaftsgruppen unter dem Namen SUD herausbildeten. Doch der Konflikt konnte gelöst werden, verschiedene Gruppen fusionierten miteinander, und CRC heißt seit 1999 jetzt ihrerseits SUD Santé Sociaux (SUD im Gesundheits- und Sozialwesen). Im Großraum Paris erhielt die Gewerkschafte anlässlich der Personalratswahlen 1999 über 16 Prozent der Stimmen. CRC bzw. SUD führt mitunter Aktionen „im Stil von Mai 1968“, etwa durch gelegentliches Einsperren von Direktoren oder Managern. Durch die Mobilisierung bestimmter unterprivilegierter Kategorien von Angestellten - etwa des Küchenpersonals oder der schlecht integrierten Überseefranzosen - kann die Gewerkschaft immer wieder Mobilisierungserfolge verzeichnen. (Labbé 2001, 62/63)

Die zweite größere Welle von SUD-Gründungen erfolgte in unmittelbarem Zusammenhang mit der breiten Streikbewegung in den öffentlichen Diensten im November und Dezember 1995. Der Ausstand richtete sich unter konservativen Regierung von Alain Juppé gegen die Demontage der öffentlichen Dienste (bei der Bahngesellschaft SNCF etwa war die Stillegung von 6.000 Streckenkilometern auf einen Schlag wegen „Nichtrentabilität“ geplant), gegen die Angriffe auf die öffentlichen Rentensysteme sowie das Sozialversicherungssystem. Die Führung der CFDT unter ihrer damaligen Generalsekretärin Nicole Notat unterstützte in zentralen Fragen die Regierung Juppé, und verurteilte - das war ein Novum in der französischen Gewerkschaftsgeschichte - die breite soziale Bewegung. Dagegen waren rund ein Drittel der CFDT-Strukturen auf Ebene der Branchen und Regionen am Ausstand beteiligt. In dieser Situation war einerseits den SUD-Gewerkschaften und ihrem Dachverband, dem Groupe des Dix (G10), einerseits zum ersten Mal eine breite Aufmerksamkeit gesichert. Dort, wo sie präsent waren - zum Beispiel bei den ebenfalls streikenden Postlern - waren SUD und die mit ihr im G10 verbündeten Gewerkschaften an vorderster Front in den Streiks und Demonstrationen vertreten. Selten sprach man in der Presse bis dahin so viel von den „neuen Gewerkschaften“. (Vgl. etwa die Pariser Abendzeitung Le Monde vom 01.12.1995, 06.02.1996 oder 14.04.1996.) Andererseits brachen aber auch die Widersprüche in verschiedenen Sektionen der CFDT in scharfer Form auf. Im Januar und Februar 1996 kam es so binnen weniger Wochen zur sukzessiven Abspaltung mehrerer Gewerkschaftssektionen bei der Bahngesellschaft SNCF von der Transport-Sektion der CFDT.

Die Ausgetretenen begründeten als neue Gewekschaft im Januar 1996 SUD Cheminots (SUD Eisenbahner), die sich anlässlich ihres ersten Kongresses im März 1997 in SUD Rail (SUD Schienenverkehr) umzubenennen - um zu verdeutlichen, dass sie tatsächlich alle bei der SNCF beschäftigten Berufsgruppen einschließlich etwa des Kantinen- oder Reinigungspersonals gewerkschaftlich zu organisieren wünscht. Eine Konzeption, die einen Unterschied zu jener, von der Vorstellung einer „Arbeiteraristrokratie“ geprägten bei manch anderen Vertretern der Berufsgruppe der Eisenbahner ausmacht. Später kann SUD Rail auch ausgetretene kritische CGT-Mitglieder hinzugewinnen. Bei den ersten Betriebsratswahlen kurz nach ihrer Gründung, im März 1996, erhält die Gewerkschaft im nationalen Durchschnitt 4,4 Prozent der Stimmen, obwohl sie in nur 7 von insgesamt 23 SNCF-Großregionen antrat. Im März 2000 erhält SUD Rail dann 12,73 Prozent, während die Eisenbahner-CGT auf ein historisches Tief abrutscht (von zuvor 46 auf 39 Prozent der Stimmen). Das hängt damit zusammen, dass die CGT einem Abkommen zur Arbeitszeitpolitik von Anfang 2000 aus Sicht vieler Beteiligten zu unkritisch gegenüber stand, und es bei ihr an Distanz zur Jospin-Regierung mangelte, da ein ehemaliges Mitglied der Eisenbahner-CGT - Jean-Claude Gayssot - zum Transportminister ernannt worden war. Zwei Jahre später allerdings, im März 2002, konnte SUD Rail lediglich ihr bereichtes Niveau (ohne Zugewinne) halten, während die CGT wieder auf knapp 42 Prozent Stimmenanteil kletterte. (Crettiez/Sommier 2002, 179/180; Labbé 2001, 57/58)

Die dritte SUD-Gründungswelle resultiert aus der Anwendung der Loi Aubry 1 und Loi Aubry 2, den 1998 bzw. 2000 in Kraft getretenen Gesetzen der Jospin-Regierung zur Arbeitszeitpolitik. Die beiden Gesetzestexte stecken den Rahmen für den Übergang von der 39-Stunden-Woche zu einer Regelarbeitszeit von 35 Stunden wöchentlich oder 1600 Stunden im Jahr ab. Die konkreten Modalitäten der Arbeitszeitreform sind freilich unter die Bedingung des Abschlusses einzelbetrieblicher Abkommen gestellt; diese werden für die Arbeitgeber attraktiv gemacht, indem bei Abschluss einer entsprechenden Betriebsvereinbarung staatliche Subventionen (in Form des Erlasses von Arbeitgeber-Beiträgen zur Sozialversicherung) in Aussicht gestellt werden. Auf diesem Wege trägt die Reform zu einer „Balkanisierung“ des Arbeitsrechts bei, da die Bedingungen der Arbeitszeitpolitik je nach Größe oder gewerkschaftlicher Tradition des Betriebs, je nach Präsenz und Kampfkraft der Gewerkschaften völlig unterschiedlich ausfallen könne. Ferner beinhaltet die Reform (durch diesen Zwang zum Konsens zwischen „Sozialpartnern“ auf der betrieblichen Mikroebene) die Notwendigkeit, in vielen Fällen „Gegenleistungen“ der abhängig Beschäftigten zu akzeptieren. Diese besteht in der Regel in der Hinnahme verkürzter, aber flexibler Arbeitszeiten, die je nach Bedarf der Produktion oder der Dienstleistung variieren können.

Völlig im Sinne ihrer (oben beschriebenen) Traditionen, hatte die CFDT sich die Unterzeichnung des größtmöglichen Anzahl sozialpartnerschaftlicher Abkommen über diese Frage zum Ziel gesetzt. Im Namen der Notwendigkeit, „modern“ zu sein, sind die Führungen vieler CFDT-Sektionen auch bereit, entsprechende „Gegenleistungen“ im Namen der abhängig Beschäftigten auszuhandeln. Doch in vielen Fällen führt zu erheblichen Spannungen mit der Mitgliederbasis. Einer der symbolträchtigsten Konflikte bricht beim Reifenhersteller Michelin in Clermont-Ferrand aus. Ein im Januar 2001 vorgestelles Abkommen auf Initiative der Betriebsleitung von Michelin sieht unter anderem die Ausdehnung der Produktionszeiten auf den (bis dahin in der Regel arbeitsfreien) Samstag vor, mit der Verpflichtung zu regelmäßiger Samstagsarbeit in der Produktion als Gegenleistung für die Arbeitszeitverkürzung. Die Führung der CFDT-Branchensektion setzt die Unterschrift unter das Abkommen durch, während 7 von 10 Sektionen bei Michelin sich strikt dagegen aussprechen. In Folge der Unterzeichnung des Abkommens wird eine Urabstimmung der Beschäftigten der Automobilfirma organisiert. In der Abstimmung am 29. März 2001 wird die Kollektivvereinbarung mit knapp 60 Prozent der Stimmen angenommen. Allerdings kam die Mehrheit aufgrund des Votums der Ingenieure, Techniker und höheren Angestellten zusammen. Dagegen bleibt die Ablehnung bei den hauptsächlich betroffenen Berufsgruppen, Produktionsarbeitern und einfachen Angestellten, umgekehrt in der Mehrheit. Die CFDT bei Michelin zerbricht aufgrund des Konflikts. Am Stammsitz des Werks in Clermont-Ferrand etwa verlassen zwei Drittel der Mitglieder die CFDT-Sektion. Die ausgetretenen Mitglieder begründen SUD Michelin. Bei den Betriebsratswahlen am 31. Mai 2001 stürzt die CFDT (im Durchschnittsergebnis aller Berufsgruppen) von zuvor 73 auf 49 Prozent der Stimmen ab. Dagegen erhält SUD Michelin auf Anhieb 37 Prozent der Stimmen. (Le Monde vom 24.01.2001, 31.03.2001 und 02.06.2001.)

Eine erste breitere Verankerung in der Privatindustrie ergibt sich ferner aus dem Übertritt des bisherigen branchenübergreifenden Regionalverbands der CFDT in der Basse-Normandie (die Region um Caen). Der bisher innerhalb des Dachverbands linksoppositionelle Regionalverband war im Mai 1999 „gekippt“ worden. Daraufhin traten zahlreiche Mitglieder und Einzelgewerkschaften aus und begründeten SUD-Gewerkschaften. So entsteht 1999 SUD Industrie, die in Betrieben der Region wie dem (krisengeschüttelten) Küchengerätehersteller Moulinex sowie dem Nutzfahrzeuge-Hersteller RVI (Renault Véhicules Industriels) - der inzwischen durch Volvo aufgekauft worden ist - verankert ist. Bei RVI im normannischen Caen erhielt SUD Industrie bei den Betriebsratswahlen im Jahr 2000 eine Mehrheit mit 57 Prozent der Stimmen.

Einfluss und Funktionsweise der SUD-Gewekschaften

Heute ist SUD landesweit vor allem in öffentlichen Diensten wie bei der Eisenbahn, Post und Telekom, beim öffentlichen Energieversorger und Privatisierungskandidaten EDF - dort erhielt SUD Energie im März 2002 einen ersten Wahlerfolg, mit 23,9 Prozent im Personalrat der Forschungs- und Entwicklungs-Abteilung. In der Privatindustrie und im Dienstleistungssektor beginnt SUD sich erste Ausgangsbasen für eine breitflächigere Entwicklung zu schaffen. Dabei bestehen Unterschiede in der Entwicklungslogik : Im privaten Sektor ist es einfacher, örtlich Fuß zu fassen und gute Wahlergebnisse zu erhalten, wenn man über bekannte Mitglieder verfügt. Allerdings ist es in der Folgezeit schwieriger, sich auf der nationalen Ebene auszudehnen, wie in den öffentlichen Diensten, die bereits als nationale Einheiten strukturiert sind.

In der Anfangsphase kamen die GründerInnen von SUD-Gewerkschaften oftmals aus den Reihen der CFDT, nachdem in den Neunzigern deren innere Widersprüche aufgebrochen waren. Besonders seit dem Ende des Jahrzehnts waren aber auch zunehmende Übertritte von Seiten der CGT zu verzeichnen, nachdem - mit dem Ende der von "oben" her existierenden realsozialistischen Prägung der CGT, und ihrer früher dominierenden KP-Nähe - in dieser eine politische Sinnkrise bzw. ein Verlust klarer gesellschaftlicher Orientierungsmuster ausgebrochen war. Die zunehmend verselbständigte Existenz eines Apparats ohne deutlich hervortretende, handlungsleitende "Richtung" motivierte viele Mitglieder zur Suche nach einer anderen kämpferischen Kraft, die nicht mit der realsozialistischen Hypothek belastet ist. Ferner ist in den letzten Jahren auch ein wachsender Zulauf von Mitgliedern ohne Vorlauf in anderen gewerkschaftlichen Organisationen, zu SUD zu verzeichnen.

Die SUD kandidierten im Dezember 1997 und im Dezember 2002 bei den „Sozialwahlen“. Dabei werden die als Prud'hommes bezeichneten, paritätisch mit Lohabhängigen- und Arbeitgeber-Vertretern besetzten Arbeitsgerichte gewählt. 17 Millionen Beschäftigte im privaten Wirtschaftssektor sind stimmberechtigt. 1997 konnten die SUD-Gewerkschaften bzw. ihre lockere Koordinierungsstruktur, der Groupe des Dix, landesweit nur 45 Listen aufstellen. Diese erhielten dort, wo sie antraten, im Schnitt 3,4 Prozent, was einem landesweiten Ergebnis von 0,31 Prozent entspricht. 2002 konnten die SUD bzw. ihr umgewandelter Dachverband Solidaires eine stärkere Präsenz ausüben und mit 176 Listen antreten. Damit standen sie für rund ein Drittel der Wahlberechtigten auf dem Stimmzettel. In drei Vierteln der Fälle konnte das Wahlziel von 5 Prozent der Stimmen (ab dieser Schwelle haben die Kandidaten ein Recht auf Wahlkampfkosten-Rückerstattung) erreicht werden.

Landesweit gehören fast alle SUD-Gewerkschaften einem Dachverband an, der 1981 unter dem Namen Groupe des Dix begründet wurde. Damals - SUD existierte noch nicht - ging es vor allem darum, jene „autonomen“ (d.h. keinem Dachverband angehörenden) Einzel- und Branchengewerkschaften zusammenzuschließen, die meist seit der Spaltung zwischen den Dachverbänden CGT und FO in den Jahren 1947/48 außerhalb nationaler Bundesstrukturen verblieben waren.Das anfängliche Koordinierungstreffen von 10 teilweise kämpferischen (wie der traditionsreichen Gewerkschaft der Finanzbediensteten SNUI), teilweise eher konservativ-unpolitischen Organisationen blieb in den ersten Jahren ohne tiefere Perspektive oder verbindliche Ziele. Auf Einladung des SNUI, der 1989 selbst einen kämpferischen mehrmonatigen Streik in den Finanzämtern geführt hatte, trat die frisch gegründete SUD-PTT dieser Koordinierungsstruktur als „Beobachter“ bei. 1992 erwarb SUD-PTT die Vollmitgliedschaft in der „Gruppe der Zehn“. In den darauf folgenden Jahren traten die sich neu gründenden SUD-Gewerkschaften überwiegend diesem Verband bei, der anlässlich der Kongresse von 1998 und 2001 zum Dachverband Union syndicale - Solidaires umgebaut wurde. Gleichzeitig verließen einige der konservativsten Organisationen die Koordinierungsstruktur, um dem „Verband der unabhängigen Gewerkschaften“ UNSA - einem eher unpolitischen, aber der CFDT nahe stehenden Koordinierungsverband - beizutreten.

Die Union Syndicale - Solidaires weist heute 32 nationale Mitgliedsorganisationen auf, die wiederum rund 80.000 Einzelmitglieder umfassen. (In Frankreich ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad insgesamt aufgrund verschiedener Faktoren, darunter die antigewerkschaftliche Repression vor allem in kleineren und mittleren Betrieben und der Anstieg der Erwerbslosigkeit sowie voraus gegangene Niederlagen der Arbeiterbewegung, stark gesunken. Er beträgt derzeit nur noch 8 bis 10 Prozent der Beschäftigten. Damit sind heute insgesamt zwischen 1,5 und 2 Millionen Beschäftigte Gewerkschaftsmitglieder. Die Möglichkeit zur von Gewerkschaftsführungen unabhängigen Ausübung des Streikrechts und andere Faktoren müssen jedoch den Eindruck korrigieren, vor diesem Hintergrund herrsche soziale Friedhofsruhe.) Ungefähr die Hälfte der Unions-Mitglieder gehört SUD-Gewerkschaften an, die andere Hälfte aus anderen Traditionen stammende Organisationen, von denen aber ein Teil sich in ähnliche Richtung entwickelt. Die größten Mitgliederorganisationen sind der SNUI mit rund 20.000 Mitgliedern und SUD-PTT mit rund 16.000 Organisierten. (Interview mit Annick Coupé)

Als Funktionsprinzipien wurden sowohl innerhalb der einzelnen SUD-Gewerkschaften (in der Regel), als auch im Dachverband Union syndicale - Solidaires basisdemokratische Grundregeln festgelegt. So gab SUD-PTT sich im Jahr ihrer Gründung, 1989, eine „Charta zur Selbstdefinition“. In ihr wurden die strikte Begrenzung der Zahl von Hauptamtlichen, die Rotation in gewerkschaftlichen Ämtern (die Obergrenze wurde zunächst auf zwei aufeinander folgende Mandate von drei Jahren festgelegt), ein Mindestanteil an Frauen von 35 Prozent - das entspricht ihrem Anteil an der Mitgliedschaft - und die gleichmäßige Verteilung von „politischen“ und „technischen“ Aufgaben auf alle Funktionsträgern festgeschrieben. Dadurch sollte die Herausbildung einer hauptamtlichen Gewerkschaftsbürokratie, wie in den großen Dachverbänden, verhindert werden. In 13 Jahren Existenz scheint SUD-PTT ihre selbst gesteckten Prinzipien größtenteils eingehalten haben. Aufgrund des starken Zuwachses an Neumitgliedern, oft ohne vorherige gewekschaftliche Erfahrung, sind einige Prinizipien in jüngerer Zeit etwas gelockert worden. So sind nunmehr drei statt zuvor zwei (jeweils dreijährige) Amtszeiten gestattet, um den „Übergang langjähriger Erfahrung“ auf die jüngeren Mitglieder zu gewährleisten. Allerdings hat die Rotation im Sprecheramt von SUD-PTT funktioniert : 1999 wurde das Gründungsmitglied Annick Coupé durch Joëlle Charuel abgelöst, diese wiederum im Jahr 2002 durch René Ollier. Im Dachverband Solidaires, der nach wie vor keinen Gewerkschafsbund im klassischen Sinne darstellt, wurden strikte demokratische Prinzipen festgeschrieben. So lautete die Regel ursprünglich, dass Entscheidungen nur im Konsens aller vertretenen Basisorganisationen gefällt werden können. Aufgrund der Notwendigkeit, immer häufiger Entscheidungen zu treffen, wurde die Regel abgeschwächt. Einerseits ist die mehrheitliche Zustimmung aller Mitgliedsorganisationen erforderlich, die jeweils - unabhängig von ihrer Mitgliederzahl - eine Stimme aufweisen. Andererseits verfügt jede Einzelgewerkschaft über ein Rückzugsrecht (das bedeutet, dass sie sich an einer ihrer Ideen widersprechenden Aktion nicht beteiligen kann) sowie ein Vetorecht : Widerspricht eine Aktion tragenden Grundprinzipien einer Mitgliedsgewerkschaft, so kann sie diese durch ihr Veto verhindern.

Die Anhänger und Sympathisanten der SUD- bzw. Solidaires-Gewerkschafen weisen einige politische Besonderheiten auf. So ergab die Auswertung einer Umfrage unter Gewerkschafts-Sympathisanten im April 2002, dass die SUD-Sympathisanten anlässlich der Präsidentschaftswahl unter allen Gewerkschaftsanhängern (mit weitem Abstand) am wenigsten für die rechtsextremen Kandidaten Jean-Marie Le Pen und Bruno Mégret gestimmt hatten. Insgesamt erhielt die extreme Rechte bei denen, die sich als SUD-Sympathisanten ausgeben, nur 3 Prozent (im Vergleich zu einem nationalen Durchschnitt von 20 Prozent, zu 12 Prozent unter den CFDT-Parteigängern und 25 Prozent unter den erklärten Anhängern der christlichen CFTC). Zugleich stimmen 40 Prozent unter ihnen für die radikale Linke, der größte Teil unter ihnen (27 Prozent) für den marxistisch-undogmatisch auftretenden Kandidaten der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR), Olivier Besancenot - der 27 Jahre junge Kandidat und Postbeschäftigte ist selbst Mitglied von SUD-PTT. Unter den Mitgliedern finden sich seit Anfang an sowohl Vertreter anarchistischer und libertär-kommunistischer Strömungen (bspw. Alternative Libertaire) wie auch der beiden trotzkistischen Parteien LCR und LO (Lutte Ouvrière), aber mittlerweile auch Sozialdemokraten und Grüne. Unter den Neumitgliedern befinden sich inzwischen freilich auch zahlreiche Zugänge ohne politischen Vorlauf.

Was ist die soziale Zusammensetzung dieser Mitglieder- und Sympathisantenbasis? Soviel dürfte fest stehen: Erstens hat SUD eine bedeutende Verankerung unter den Beschäftigten der (bisherigen) öffentlichen Dienste. Dies ist im Hinblick auf ihren fundamentalen Rollenwandel im Kontext neoliberaler Politik, von Rentabilitätsdruck und Privatisierungsoffensiven - und die damit einhergehende Infragestellung der beruflichen Rolle der Beschäftigten - zu deuten. In bestimmten öffentlichen Diensten wie bei der Post begannen in den 70er Jahren oftmals sozial schlechter integrierte Gruppen in überdurschnittlichem Maße zu arbeiten, wie die Überseefranzosen (von den Antillen oder La Réunion) oder auch manche "Provinzler", da der öffentliche Sektor - bei schlechterer Bezahlung - zumindest Arbeitsplatzsicherheit versprach und ihr Fußfassen in "der Metropole" erleichterte, bei gleichzeitiger Aussicht auf mögliche spätere "Versetzung" in Richtung Heimat. Zugleich zog der Postdienst damals oft junge Linke und "postmaterialistisch"-alternativ eingestellte Personen an, da zwar die Bezahlung im Durchschnitt deutlich geringer, aber zugleich die Arbeitshetze deutlich schwächer war als in der privaten Wirtschaft (in der damals noch leicht Arbeitsplätze zu finden waren). Zudem wirkte die hohe Konzentration von Arbeitern, bei gleichzeitig ausgeprägter gewerkschaftlicher Präsenz und damals - noch - relativ lockeren Arbeitsbedingungen, attraktiv auf dieses Publikum. Diese Beschäftigtenstruktur, jedenfalls der "Alteingesessenen" unter ihnen, liefert eine Teilerklärung für die ursprüngliche erfolgreiche Strukturierung von SUD etwa im PTT-Sektor.

Hinzu kommt, zweitens, in jüngerer Zeit eine erhöhte Attraktivität von SUD für die Kinder des "Bildungsbooms", also der verlängerten Ausbildungs- und Studienzeiten, die heute - oftmals weit unter ihrer potenziellen Qualifikation eingestellt - namentlich im Dienstleistungssektor beschäftigt sind. Dieses "akademische Proletariat" legt, neben Anforderungen der Lohngerechtigkeit, besonderen Wert auf "postmaterielle" Faktoren wie halbwegs respektvolle Behandlung, minimale Möglichkeiten individueller Entfaltung auch im Arbeitsleben u.ä. Es bildet eine wichtige Basis für die Entwicklung von SUD-Gewerkschaften etwa in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen von Großunternehmen (wie jener des Energieversorgers EDF, oder auch bei den Enwicklungsingenieuren des Automobilherstellers Renault), oder auch beim Dienstleistungsanbieter FNAC. In der, auf Kulturartikel (Musik, Literatur..) sowie Informatik spezialistierten Kaufhauskette - mit eigentümlicher Geschichte - hat SUD eine örtlich starke Verankerung in mehreren Pariser Filialen erzielt, und spielte im Jahr 2002 eine wichtige Rolle bei der Streikbewegung gegen bestehende Lohn-Ungleichheiten zwischen verschiedenen Pariser FNAC-Niederlassungen.

Ein prägendes Merkmal der SUD-Gewerkschaften ist ihre Weigerung, ihre Aktivitäten auf die Sphäre des Betriebs und der rein quantitativen Forderungen wirtschaftlicher Natur zu beschränken. Schon in ihrem Gründungsjahr 1989 nimmt SUD-PTT an der damaligen Kampagne für den Erlass der Schulden der so genannten „Dritte Welt“-Länder teil und engagiert sich für das Wahlrecht für Immigranten.1990/91 engagiert die noch kleine Gewerkschaft sich in der Bewegung gegen den Golfkrieg. Seitdem hat das gesellschaftliche Engagement der SUD-Basisgewerkschafter vielfältige Formen angenommen. Die „Pionierorganisation“ SUD-PTT etwa ist 1994 Gründungsmitglied des Bündnisses AC ! (Agir ensemble contre le chômage, Gemeinsam handeln gegen Arbeitslosigkeit), das die Proteste der Erwerbslosen zu strukturieren versucht. 1998 ist SUD-PTT eines der kollektiven Gründungsmitglieder des globalisierungskritischen Netzwerks ATTAC in Frankreich. SUD-PTT ist an der Seite der Sans papiers, der um ihre Rechte kämpfenden „illegalen“ Immigranten, ebenso engagiert wie in internationalistischen Kampagnen - im Hinblick auf die „Dritte Welt“, aber nicht allein. Im Dezember 2000 organisierten SUD-Gewerkschafter beim Versandbuchhandel Amazon.fr den wahrscheinlich ersten Solidaritätsstreik (seit Jahrzehnten) für us-amerikanische Arbeiter in Frankreich, im Zusammenhang mit einem Ausstand nordamerikanischer Beschäftigter. Einige, aber nicht alle SUD-Gewerkschaften haben kritische Positionen zur Atomenergie bezogen, so SUD Rail, die sich über die Beschäftigung mit nuklearen Gefahrgütertransporten per Eisenbahn in das Thema eingearbeitet hatte und inzwischen an koordinierten Aktionen mit dem Anti-Atomkraft-Netzwerk Sortir du nucléaire teilnimmt.

Annick Coupé hebt es in der Selbstdarstellung von SUD/Solidaires (Coupé 2002) an zahlreichen Stellen hervor : Aufgabe einer gewerkschaftlichen Solidarität sei es, den Blick über den Horizont der eng umrissenen Eigeninteressen im Betrieb hinaus zu lenken, und alle gesellschaftlichen Konsequenzen „des Neoliberalismus als derzeitiger Form des Kapitalismus“ zusammen zu denken. Gewerkschaftliche Aktivität sei in dieser Form auch ein Mittel, „um die Welt, in der wir leben, besser verstehen zu lernen“. Im Unterschied zu traditionellen Gewerkschafts-Dachverbänden, die sich in der Vergangenheit auf linke Ideologien bezogen, wird dieser unterschiedliche gesellschaftliche Aspekte umspannende Diskurs aber nicht von oben aufgepropft. Die Positionen zu gesamtgesellschaftlichen Fragen sollen durch permanente, immer wieder begonnene Diskussionsprozesse zwischen den einzelnen Organisationen und mit ihren Mitgliedern erarbeitet und vertieft werden. Dies führt mitunter auch dazu, dass auch Fundamente in Frage gestellt werden. So zweifelte die „autonome“ Gewerkschaft bei der Zentralbank Banque de France, der SNABF, auf dem Solidaires-Kongress im November 2001 offen daran, ob das Engagement zugunsten der Sans papiers sinnvolle gewerkschaftliche Politik sei. Dies verhinderte freilich mitnichten, dass dieses Engagement vieler SUD-Gewerkschafter in der Folgezeit fortgesetzt wurde. Und auf die Dauer ist dieses Austragen der Widersprüche wahrscheinlich ein besseres Rezept als jenes der Vergangenheit, bei dem ein ideologischer (linker) Diskurs mit autoritären Mitteln durch die Struktur aufgedrückt wurde, wobei jedoch die Struktur als solche konservativ blieb.

Ein letztes Strukturmerkmal der SUD-Gewerkschaften ist ihre Beziehung zur (nicht gewerkschaftlich organisierten) Basis, also zu den abhängig Beschäftigten. SUD hat sich systematisch Transparenz statt Geheimpolitik auf die Fahnen geschrieben, lehnt Hinterzilmmer-Verhandlungen ohne Informationsfluss an die "Basis" ab. So beklagt sich, in einer den Arbeitgebern nahe stehenden Fachzeitschrift, der Mitarbeiter einer Consulting-Firma: "SUD Informationen unter dem Vorbehalt der Vertraulichkeit anzuvertrauen, ist schlicht irrig, denn alles wird öffentlich gemacht." (Trentesaux, 74) Dort, wo SUD als "repräsentativ" im oben beschriebenen Sinne anerkannt ist, ist die Arbeitgeberseite allerdings rechtlich dazu verpflichtet, ihr die selben Informationen wie anderen gewerkschaftlichen Verhandlungspartnern zukommen zu lassen. SUD-Gewerkschaften publizieren häufig detaillierte Analysen über Kollektivverträge bzw. Entwürfe dafür, die sich in Verhandlung befinden oder abgeschlossen wurden - unter genauer Herausarbeitung dessen, was für die Beschäftigten auf der Grundlage vermeintlich "technischer" Formulierungen auf dem Spiel stehen könnte. Zugleich praktiziert SUD aber keine systematische Verweigerung, was den Abschluss von Betriebsvereinbarunen betrifft, vor allem dort, wo die Beschäftigten - nachdem sie gründlich informiert wurden - dem mehrheitlich günstig gegenüber stehen, oder wo nach einem erfolgreichen Streik Fortschritte festgeschrieben werden sollen. Vor allem aber praktiziert SUD eine Informationspolitik, die eigene Niederlage oder vorherige Fehleinschätzungen nicht verschweigen oder schönreden möchte, etwa nach einem Arbeitskampf, dessen Ergebnisse ungünstig ausfallen. Auch darin liegt ein Unterschied zu manchen "klassischen" Gewerkschaftsorganisationen.

Und wie sehen die anderen französischen Gewerkschaften SUD? "Offizielle" Beziehungen zu anderen Gewerkschaftsorganisationen bestehen vor allem zur CGT, mit der seit den späten 90er Jahren nunmehr auch Kongressbeobachter ausgetauscht werden. In vielen Konflikten nehmen CGT(-Basis) und SUD ähnliche Positionen ein, bspw. zur Ablehnung der Privatisierung öffentlicher Dienste. Teile der ehemals "realsozialistisch" geprägten Organisation, vor allem im "Mittelbau" der Funktionäre, stehen den unkonventionellen Gewerschaftern neuen Stils allerdings auch mit ausgeprägtem Misstrauen gegenüber - in den 70er Jahren hätten die gleichen Akteure solche Phänomene wohl noch als "im Solde der Bourgeoisie stehend" bezeichnet. Die Apparate der beiden anderen großen Dachverbände - der sozialliberalen CFDT und der populistischen Force Ouvrière - strafen die SUD-Gewerkschaften allerdings meist mit systematischer Nichtachtung.

Fazit und Ausblick

13 Jahre nach ihrer Gründung im Sektor der PTT, der damals noch die französische Post und France Télecom zu einem einheitlichen Staatsunternehmen zusammenfasste, sind die SUD-Gewerkschaften kaum noch aus der politisch-sozialen Landschaft Frankreichs wegzudenken. Die damaligen Initiatoren hätten sich das 1988/89 selbst kaum denken lassen. Zumindest in einigen wirtschaftlichen Sektoren und gesellschaftlichen Bereichen haben die innovativen Praktiken der alternativ-basisdemokratisch ausgerichteten Organisation dauerhafte Erfolge gezeitigt - vor allem in den (bisherigen) öffentlichen Diensten. Aber auch im privaten Wirtschaftssektor beginnt das "Modell" SUD da und dort Fuß zu fassen. Landesweit jedoch bilden SUD-Solidaires noch keinen Verband, der mit den traditionellen Gewerkschaftsbünden - den confédérations - auf quantitativer Ebene gleichziehen könnte.

Bestimmt aber tragen sie dazu bei, eine neuartige und nach vorwärts weisende Antwort auf die - auch in Frankreich grassierende - gewerkschaftliche Krise zu geben. Sie zeigen, dass andere gewerkschaftliche Praktiken als jene hoch bürokratisierter, schwerfälliger und (bezogen auf ihre eigene Funktionsweise) strukturkonservativer Organisationen möglich sind. Und dass es zugleich möglich ist, diese neue Form gewerkschaftlicher Aktivität in enger Bindung mit der gesamten Vielfalt gesellschaftlicher Widerspruchsfelder, denen die Entwicklung des Kapitalismus Bedeutung verleiht, zu entwickeln. Insofern ist die Krise auch eine Chance.

Die Erfolgsgeschichte von SUD/Solidaires erklärt sich teilweise aus spezifisch französischen, historischen und gesellschaftlichen Faktoren. Da ist die Krise der vormals für die Arbeiterbewegung des Landes (in Teilen) prägenden Referenz, des positiven Bezugs auf den (pro)-sowjetischen Kommunismus. Sie hat den Weg frei gemacht für alternative Kräfte, die ebenfalls einen gesellschaftsverändernden Anspruch erheben. Da ist vor allem die relative Schwäche der (miteinander rivalisierenden) traditionellen, hoch bürokratisierten Gewerkschaftsapparate, verglichen etwa mit der deutschen Situation. Diese quantitative Schwäche, verbunden mit einer fest in der französischen Geschichte verwurzelten Kampfbereitschaft für soziale und demokratische Ziele innerhalb breiter Teile der Gesellschaft und der französischen ("nicht organischen") Konzeption des Streikrechts, erleichtert die Autonomie "der Klasse" - und neuer Akteure in ihr - gegenüber jenen Apparaten, die sich längst, wie im Fall der CFDT, zu Disziplinierungsinstrument im Sinne herrschender Ordnungspolitik verwandelt haben. Es ist zu wünschen, dass diese neuen Akteure, wie SUD und Solidaires, im Bündnis mit anderen Produkten der Geschichte der Arbeiterbewegung - etwa zusammen mit Teilen der CGT, die sich in Frage zu stellen vermögen - ihre Antworten auf die Krise der französischen Gewerkschaftsbewegung in vorwärts weisendem Sinne entwickeln können.

Quellen
1.Interviews mit beteiigten Akteuren :
Inteviews des Autors mit Guy Freyche, Gründungsmitglied von SUD-PTT (Dezember 1995 und Dezember 2002)
Interview mit Annick Coupé, Sprecherin des Dachverbands Union syndicale - Solidaires (Dezember 2002)
Interview mit Yann Cochin und Pierre Masnières, Führungsmitglieder von SUD Energie (Dezember 2002)
Interview mit Dominique Malvaud, Führungsmitglied von SUD Rail (November 2002)
Interview mit Alain Martinez, Mitgründer von SUD Renault im Forschungszentrum des Automobilkonzerns in Guyancourt (Dezember 2002)

2. Bibilographie
a. Bücher:
Aparicio, Jean-Claude/ Pernet, Michel/Torquéo, Daniel (1999): La CFDT au péril du libéral-syndicalisme, Paris.
Coupé, Annick (2002): Qu'est-ce que SUD Solidaires ?, erschienen in der Reihe L'information citoyenne, Paris.
Crettiez, Xavier / Sommier, Isabelle (Herausg., 2002) : La France rebelle. Tous les foyers, mouvements et acteurs de la contestation, Paris.
Hamon, Patrick/ Rotman, Patrick (1982, erweiterte Neuauflage 1984/ 2002): La deuxième gauche. Histoire intellectuelle et politique de la CFDT, Paris.
Labbé, Daniel/Landier, Hubert (2001): L'entreprise face au nouveau radicalisme syndical, Paris/Rueil-Malmaison.
Mouriaux, René (1984): La C.F.D.T. : de l'union des forces populaires à la réussite du changement social, in : Le mouvement ouvrier français
1968 - 1982. Crise économique et changement politique (herausgegeben von Kesselmann, Mark), Paris.
Ross, George: La C.G.T. : crise économique et changement politique, in : Le mouvement ouvrier français 1968 - 1982, a.a.O.
b. Zeitschriften:
Ohne Autor : Les votes au scrutin présidentiel selon la proximité syndicale, in : Liaisons sociales, 30. April 2002.
Trentesaux, Jacques : Social : La montée des extrémistes, in : Enjeux - Le mensuel de l'économie, Novembre 2002.

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