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Updated: 18.12.2012 16:07
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Frankreich: Unbefristeter Transportstreik hat begonnen, aber Gewerkschaften haben bereits den Verhandlungsweg eingeschlagen. Studentische Proteste bilden "harten Kern" heraus. Aber die anderen Seite lässt einen scharfen Gegenwind pfeifen

Am gestrigen Tage hat die Kraftprobe begonnen. Am Dienstag Abend (für die Eisenbahner/innen) bzw. Mittwoch früh fing der Ausstand in den französischen Transportbetrieben an. Daneben traten aber auch die Lohabhängigen bei den Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF sowie (vom ökonomischen Gewicht her nicht so sehr anschlagend) in den Pariser Operhäusern in den Streik zur Verteidigung der bisher dort bestehenden Rentenregelungen ein.

Die Auswirkungen des Streiks entsprachen am Mittwoch sehr früh zunächst den Erwartungen und Vorhersagen: Der Eisenbahnverkehr war frankreichweit sehr stark beeinträchtigt, während bei den Pariser Verkehrsbetrieben durchschnittlich nur jeder zehnte Métrozug verkehren konnte. Von knapp 500 Hochgeschwindigkeitszügen (TGV), die sonst an diesem Tag vorgesehen gewesen wäre, waren 90 auf dem Programm beibehalten worden. Die meisten Berufstätigen und anderen betroffenen Personen wichen deswegen auf andere Fortbewegungsmittel, vom gemeinschaftlich genutzten Auto über das Fahrrad bis zu den Füßen, aus. Entsprechend wurden bereits am Mittwoch gegen 6 Uhr morgens im Radio (beim Sender 'Radio Africa Numéro 1', der zugleich sowohl den im Stau Steckenden als auch ausdrücklich den Streikenden "guten Mut" wünschte," denn es ist nie einfach zu streiken") über zweistündige Staus auf der rund um Paris herumführenden Ringautobahn, dem Boulevard Périphérique, vermeldet. Der vor einigen Monaten vom Pariser Rathaus eingerichtete öffentliche Fahrradverleih Vé'lib vermeldete am Mittwoch um die Mittagszeit, am späten Vormittag seien 35.000 Ausleihbewegungen für Fahrräder registriert worden, gegenüber 17.000 an einem "normalen Tag".

Im Laufe des Tages wurden jedoch Zahlen publiziert, denen zufolge die Streikbeteiligung niedriger lag als am 18. Oktober, an dem ein erster 24stündiger, (durch die wichtigsten Gewerkschaften) von vornherein befristeter Streik in den Transportdiensten durchgeführt worden war. Bei der französischen Bahngesellschaft SNCF verlautete, 20 bis 25 Prozent der Züge im Nah- und Fernverkehr könnten verkehren, während beim Pariser Bus- und Métrobetreiber RATP circa "jeder fünfte Métrozug" zur Verfügung stehe. Dieser Durchschnittswert überdeckte allerdings von Métro-Linie zu Linie sehr unterschiedliche Situationen. Während die Linie 14, die einzige "unbemannte", d.h. fahrerlose Métrolinie, "völlig normal" verkehren konnte, wurden zwei Linien völlig geschlossen. Auf den anderen Linien musste man gewöhnlich Wartezeiten für einen Métrowaggon von 20 bis 30 Minuten einplanen. Hingegen stand auf der Linie 4, die eine schnelle Nord-Süd-Verbindung quer durch Paris schafft, alle 10 bis 15 Minuten ein Métrozug zur Verfügung. Aber es ist gut möglich, dass die Gewerkschaften dadurch nicht die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum (mit der Linie 4 gut erreichbaren) Montparnasse-Bahnhof - wo der Auftaktort der Pariser Demonstration der Streikenden lag - blockieren wollten.

Bei der Bahngesellschaft SNCF sprach die Direktion von einer Streikbeteiligung von 61,5 % der Lohn- und Gehaltsempfänger/innen, gegenüber 73,5 % beim Ausstand vom 18. Oktober. (Allerdings hatte die Beteiligung am 18. Oktober einen historischen Rekordwert gebildet, der laut den Einen seit dem Jahr 1936, den Angaben von Anderen zufolge seit 1953 nicht erreicht worden war.) Bei den Pariser Métro- und Busbetrieben der RATP, Régie autonome des transports parisiens , nahmen den Angaben der Direktion zufolge 44 Prozent der Angestellten am Arbeitskampf teil, gegenüber 58 Prozent am 18. Oktober. Und bei den Energieversorgungsbetrieben EDF und GDF sprach die stärkste Gewerkschaft CGT von einem "sehr stark befolgten" Streik, während die Direktion die Teilnahmequote am Ausstand mit 36,7 % bzw. 37,4 % bezifferte - gegenüber 52 bzw. 53,3 % beim letzten Streik im Oktober. (Vgl. ausführlich externer Link)

Dass die Beteiligung insgesamt leicht niedriger liegt als am 18. Oktober, ist durchaus plausibel: da viele Lohnabhängige sich die Frage nach den weiteren Perspektiven und dem Durchhaltevermögen des Ausstands stellen, ihre finanziellen Kräfte für härtere Momente aufsparen (Vorsicht: in Frankreich gibt es keine Bezahlung von Streiktagen aus gewerkschaftlichen Streikkassen!), oder erst einmal den Streikerfolg abwarten mochten. Der Pariser öffentliche Fahrradverleih Vé'lib vermeldete am Mittwoch Abend, dass 117.000 Räder ausgeliehen worden seien, und ihre Anzahl damit etwas niedriger lag als am 18. Oktober (135.000).

Diese Beteiligung ist aber noch immer bemerkenswert. Gleichzeitig wurde bei der SNCF und der RATP - in 95 Prozent der Fälle - in Vollversammlungen vom Mittwoch die Fortführung des Streiks am Donnerstag beschlossen. Nunmehr muss die Weiterführung alle 24 Stunden in Streikversammlungen bestätigt werden (<grève reconductible>). Aber zugleich deutet sich ein erstes Einknicken der Gewerkschaften an, da diese alles tun wollen, um die Befürchtung eines Unpopulärwerdens des Arbeitskampfes nicht eintreten zu lassen.

Am Donnerstag hatte der Streik zum Teil, etwa auf einzelnen Métrolinien, stärkere Auswirkungen als am Mittwoch. Die Linie 7 verkehrte etwa nur alle 45 Minuten, die Linie 5 einmal pro Stunde. Am Vormittag wurden 277 Kilometer Stau rund um Paris verzeichnet.

(Erste) Perspektiven

Die jetzige Kraftprobe wird zu wesentlichen Teilen darüber entscheiden, welche Spielräume die Regierung unter Präsident Nicolas Sarkozy in den kommenden vier Jahren verfügen wird: Kann sie autoritär durchregieren und -"reformieren", weil ihr der Autoritätsbeweis und der Nachweis der Aussichtslosigkeit, ja "Sinnlosigkeit" sozialer Widerstände geglückt ist? Oder wird ihr "Reformeifer" einen gehörigen Dämpfer verpasst bekommen? Insofern steht für beide Seiten mehr auf dem Spiel als allein der materielle Einsatz, das heißt die Verlängerung der obligatorischen Beitragsdauer zu den Rentenkassen und das Hinausschieben des Rentenalters für die betroffenen Lohn- und Gehaltsempfänger/innen. Sowohl die Regierung als auch die quantitativ bedeutendsten Gewerkschaftsverbände sind zugleich auch darum bemüht, einen symbolischen "Gesichtsverlust" zu vermeiden: Konkret wollen sie sowohl den Eindruck des Nachgebens in der Hauptsache vermeiden, als auch die "Kampfzone" so weit eingrenzen, dass es im Falle einer Niederlage nicht zur Totalkastrophe kommt. Dies gilt vor allem für die Gewerkschaften, die eine schwerwiegende Niederlage vergleichbar mit jener der britischen Arbeiterorganisationen im Bergarbeiterstreik von 1984/85 befürchten.

Dies macht die Gewerkschaften sicherlich potenziell kompromissbereit, sofern es nicht vollständig danach aussieht, dass sie "unter dem Joch durchgegangen" seien. Die Regierung hingegen ist vor allem darum bemüht, den Eindruck eines Einknickens zu verhindern. Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand hatte das Publikum am Vortag öffentlich dazu aufgefordert, es möge sich auf einen "lang dauernden Streik" einstellen.

Am frühen Abend des Dienstag traf CGT-Generalsekretär Bernard Thibault, am Vorabend des Streiks, mit Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand zusammen. Dabei erklärte der 48jährige ehemalige Anführer der Eisenbahner-CGT bei den massiven Herbststreiks von 1995, der im Februar 1999 zum Anführer der gesamten Dachverbands gewählt worden ist, sich zu "tripartistischen Verhandlungen (Regierungsvertreter, Direktion, Gewerkschaften) in den einzelnen betroffenen Unternehmen" bereit. Also bei der SNCF, RATP sowie bei EDF und GDF, getrennt voneinander, allerdings unter Präsenz von Repräsentanten der französischen Regierung. Damit fiel ein bisheriges wichtiges Tabu für die Gewerkschaften, denn bislang hatte vor allem die CGT stark auf der Abhaltung einer "nationalen Verhandlung" - also auf betriebsübergreifender Ebene - beharrt. Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand versäumte nicht, alsbald in der Öffentlichkeit darauf hinzuweisen, dass die CGT sich damit auf die Regierung zubewegt habe, da Letztere bisher darauf insistiert habe, "Unternehmen für Unternehmen zu verhandeln", was aber die CGT bislang noch abgelehnt habe.

Dabei steht mehr als ein Etikettenstreit auf dem Spiel. Denn die wichtige Kernfrage ist, ob die Grundbedingungen, die durch die Regierung zentral festgelegten Grundzüge der "Reform" - und insbesondere die Anhebung der für eine volle Pension erforderlichen Beitragsjahre zur Rentenkasse auf 40 Jahre (und perspektivisch 42,5 Jahre ab dem Jahr 2020 für alle Lohnabhängigen) - dabei akzeptiert werden nicht. Die Forderung nach einer "nationalen Verhandlung" bedeutete dabei bisher, dass die Gewerkschaften darauf beharren, diese Kernsätze der "Reform" in Gesprächen mit der Regierung nochmals in Frage stellen zu können. Umgekehrt bedeutete eine "Verhandlung in den einzelnen, betroffenen (öffentlichen) Unternehmen", dass die Grundprinzipien der "Reform" geschluckt werden und nun um ihre konkrete Umsetzung bzw; eventuelle Kompensationen für die abhängig Beschäftigten gesprochen wird. Zwar hat Bernard Thibault, durch seine Formulierung von Verhandlungen "in den (einzelnen) Unternehmen unter Anwesenheit von Regierungsvertretern", diese Grenzziehung zwischen beiden Konzeptionen verwischt bspw. porös gemacht. Thibaults Formulierung gegenüber ,Le Monde' - die Rolle der Regierungsvertreter bestünde dabei daran, "zu sagen, ob die Verhandlungsergebnisse konform (Anm.: zu den zentralen Vorgaben, logischerweise?) ausfallen, und ob sie finanzierbar sind" deutet dabei ganz in die Richtung, dass die Grundzüge der beschlossenen "Reform" nun doch akzeptiert, und noch am Rande über Kompensationen bzw. Umsetzungsmodalitäten verhandelt wird.

Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand hat jetzt den Gewerkschaften und den betroffenen (öffentlichen) Unternehmen am Mittwoch Abend "einen Monat" Zeit eingeräumt, um sich auf einen Konsens zu einigen. Danach werde die Regierung ihre von ihr selbst ausgearbeiteten Dekrete zur "Reform" veröffentlichen, falls es bis dahin nicht zu entsprechenden Abkommen gekommen sei.

Nach Berichten der Wochenzeitung ,Le Canard enchaîne' vom gestrigen Mittwoch deutet sich auch bereits an, worauf ein eventueller "Kompromiss" beruhen könnte. Die Rückzugslinie für die Verhandlungspartner (auf deren Beziehen die konservative Regierung sich seit längerem vorbereitet) besteht demnach darin, dass insbesondere die Direktion der Bahngesellschaft SNCF sich auf "kräftige Lohnerhöhungen" oder was man in diesen Zeiten darunter versteht - in Größenordnung von circa 5 Prozent eoinlassen wird. Dies würde bedeuten, dass die Jahrgänge, die in näherer Zukunft in Rente gehen werden, auch bei einer Anhebung der Anzahl der erforderlichen Beitragsjahre - und damit einhergehender Anrechnung von Strafbeträgen für fehlende Beitragsjahre - keine finanziellen Verluste hinnehmen müsste. Denn eventuelle Strafbeträge würden in ihrem Falle durch die erfolgte Anhebung ihrer Löhne und Gehälter aufgefangen: Die Eisenbahner haben zwar einen niedrigeren Pensionssatz als die Privatbeschäftigten (im Durchschnitt liegen ihre Renten um 9 Prozent tiefer gemessen am Gehalt), aber einen anderen Bemessungsmodus, der sich auf die letzten sechs Monate vor der Verrentung bezieht. Für die Beschäftigten der Privatindustrie und des privaten Dienstleistungsgewerbes sind es hingegen früher die letzten 10 Jahre vor dem Abgang in die Rente gewesen, seit der allgemeinen "Rentenreform" ist es sogar der Durchschnitt der letzten 15 Jahre, was automatisch zu einer Absenkung der Pensionen führt. Im Falle, dass in jüngerer Zeit vor der Verrentung eine "kräftige" Anhebung der Löhne und Gehälter erfolgte, kann dies also ihre eventuellen Verluste durch Strafbeträge ( décote s) wieder kompensieren. Allerdings ist damit natürlich nichts über die spätere Zukunft, über die Renten der heute noch jüngeren Mitarbeiter ausgesagt.

Die CFDT hat bereits signalisiert, dass eine solche Rückzugslinie für sie vollauf akzeptabel sei. Ihr Generalsekretär François Chérèque signalisierte am Donnerstag früh, dass ihm zufolge eine Beendigung des Streiks "noch bis zum Abend" ausgehandelt werden könne. Mit einem frühzeitigen Ausscheren der CFDT aus der Streikfront der Eisenbahner war allerdings bereits im Vorfeld durch die anderen Gewerkschaften gerechnet worden. Bei der RATP hatte die CFDT (zusammen mit der christlichen CFTC), bei den Energieversorgern EDF und GDF hatten die CFDT sowie die Gewerkschaft der höheren Angestellten CGC und die Christenheinis (CFTC) von vornherein nur zu einem 24stündigen befristeten Ausstand aufgerufen. Am Mittwoch Abend appellierte die CFDT bei der RATP schon wieder an die abhängig Beschäftigten, ihre Arbeit wieder aufzunehmen.

Entscheidend wird aber in allernächster Zukunft das Verhalten der CGT, als mit Abstand stärkster Gewerkschaft in allen derzeit bestreikten (öffentlichen Unternehmen), ausfallen.

Gefahr einer Isolierung?

Tatsächlich ist Befürchtung der Gewerkschaften - unter ihnen der CGT -, die Regierung könne sie in die gesellschaftliche Isolierung als "Verteidiger von Privilegien" drängen, nicht völlig unbegründet.

Der KP-nahe Umfrageexperte Stéphane Rozès erklärte in der Dienstagsausgabe von ,Le Monde', im Interview mit dem Gewerkschaftsexperten Rémi Barroux (der selbst zur radikalen Linken - undogmatische Trotzkisten - zählt, und innerhalb der Redaktion den Gegenpoil zum offen thatcheristischen Wirtschaftsjournalisten und Kolumnisten Eric Le Boucher darstellt) von 57 sozialen Bewegungen, deren Popularität seine Mitarbeiter in den letzten zehn Jahren gemessen hätten, weise der Transportstreik dieser Woche die drittschlechtesten Werte auf. Rund 45 Prozent der Befragten erklärten ihre "Unterstützung" (21 %) oder "Sympathie" (24 %) für den Streik. Andere Umfragen sehen eher noch schlechter aus. So in der Dienstagsausgabe der gratis in hoher Auflage vor den Stationen der Untergrundbahn verteilten Gossenzeitung 'Métro': Einer von ihr in Auftrag gegebenen Umfrage zufolge zeigten sich 61 % der Befragten ablehnend zu den Transportstreiks dieser Woche (und ihrem Anliegen, der Abwehr von Angriffen auf die 'Régimes spéciaux', als vorgeblicher Verteidigung einer Situation sozialer Ungerechtigkeit), während 37 Prozent sich unterstützend äußerten. 'Métro' spielt allerdings derzeit die Rolle eines offenen Propagandablatts, so widmet sie eine Doppelseite dem Propagieren der Entstehung einer "Anti-Streik-Bewegung". Die Leserumfrage vom gestrigen Tage (Dienstag) ist beispielsweise dem Thema gewidmet: "Wären Sie bereit, gegen die Streiks auf die Straße zu gehen?" (Zwei Drittel der mit LeserInnenfoto dokumentierten Reaktionen lauten: "Ja, wir würden dagegen demonstrieren", ein Drittel: Nein.) Ihre Umfrageergebnisse kann die Zeitung freilich nicht offen erfunden haben, da sie von einem Institut stamen. Es kommt freilich immer auch darauf an, wie und in welchem Tonfall man eine Frage stellt.

Das konservative Wochenmagazin ,Le Figaro Magazine' präsentierte vor rund 10 Tagen ihrerseits triumphierend eine Umfrage, die auf der Titelseite mit den Worten ankündigt war, 85 % der Befragten seien gegen den sich abzeichnenden Transportstreik. In Wirklichkeit war das Ergebnis der von dem rechten Magazin in Auftrag gegebenen Umfrage etwas nuancierter; die 85 Prozent bezogen sich auf eine allgemeine Frage danach, ob die Befragten die Aufrechterhaltung eines Minimalbetriebs (Service minimum) während des Transportstreiks wünschen würden. Da die Mehrzahl der Leute nicht Masochisten sind, antworteten sie überwiegend mit ,Ja'. Diese Frage fällt natürlich zugleich auf ideologisch vermintes Terrain, zumal es seit August dieses Jahres ein eigenes Gesetz zum ,Service minimum' in den öffentlichen Transportbetrieben gibt. (Angenommen unter dem Vorwand, die armen Passagiere nicht auf dem Trockenen sitzen lassen zu wollen. In diesem Falle hätte man sich freilich vielleicht eher um die 97 Prozent Ausfälle der öffentlichen Transportmitteln, die veraltetem Material, Signalpannen u.Ä. geschuldet sind, kümmern müssen - statt um die 03 Prozent Ausfälle im Jahresdurchschnitt, die mit Streikbewegungen zusammen hängen.) Dieses Gesetz vom August 2007 tritt freilich erst zum 1. Januar 2008 in Kraft, ist also auf den kommenden Streik noch nicht anwendbar, und benötigt für seine konkrete Anwendung vor allem Betriebsvereinbarungen in den einzelnen Transportbetrieben. Am Ablauf des kommenden Streiks wird dieses Gesetz also noch nicht viel ändern. Aber ideologisch ist das Publikum mehr und mehr darauf gestimmt worden, dass ein Ausfall der öffentlichen Transportmittel durch Streik eine "nicht hinnehmbare Attacke auf die Grundrechte" des Publikums (wie des Rechts auf Arbeit und auf Freizügigkeit), eine "Geiselnahme der Passagiere und des ganzen Landes" usw. bilde. - Ansonsten fallen die Ergebnisse derselben Umfrage im Auftrag des ,Figaro Magazine' über die sonstigen Aspekte des Transportstreiks etwas moderater aus. Doch freilich kommen die Umfragemacher bei ihrer Nachfrage nach der "Reform" (d.h. Abschaffung) der ,Régimes spéciaux' auch zu dem Ergebnis, dass angeblich rund 70 Prozent der Befragten diese befürworteten.

Nicht alle Umfragen bringen so eindeutige Ergebnisse wie diese. Aber fest steht, dass ein heftiger Gegenwind gegen den Transportstreik in Teilen der (ver)öffentlich(t)en Meinung pfeifen wird, und dies vor allem so lange, als der kommende Arbeitskampf in einigen Sektoren isoliert ausgetragen wird.

Allem Vernehmen nach hat die Parteiführung der konservativen Regierungspartei UMP ihre Basis dazu aufgeforderte, Petitionen und sogar Demonstrationen zugunsten des "Ja zur Reform der ,Régimes spéciaux'" zu organisieren. Zumindest sind 300.000 Flugblätter zur Mobilisierung gegen die "ungerechtfertigten und überkommenen Privilegien" für den Raum Paris, und eine Million für das übrige Frankreich bereits gedruckt worden. Am Dienstag Abend traf auch eine erste elektronische Petition in diesem Sinne in der Mailbox des Verfassers ein, adressiert vom UMP-Generalsekretär Patrick Devedijan. Allerdings warnt ein Teil der UMP-Führung derzeit davor, dass ein eventuelles Demoprojekt auf keinen Fall in die Hose gehen dürfe, und daher sorgfältig vorbereitet werden müsse. In diesem Sinne warnte etwa Expremierminister Jean-Pierre Raffarin seine Parteifreunde vor gefährlichen Schnellschüssen. Im Falle einer längeren Fortdauer des Streiks wird es aber zweifelsohne zu einer Mobilisierung der Rechten gegen die Streiks kommen.

Harter Gegenwind gegen den studentischen Streik

Viele Studierende nahmen ab Dienstag Abend am Blockieren von Bahnanlagen, und in vielen französischen Städten an den Streikdemonstrationen vom Mittwoch teil. Allerdings pfeift auch ihrer Bewegung ein scharfer Wind ins Gesicht.

Bei den Studierenden gibt es einen "harten Kern" von Politisierten, der sich mutma ß lich zum Gutteil während der Anti-CPE-Proteste vor anderthalb Jahren herausgebildet hat. Die Sache läuft sehr stark Gefahr, zu einem Auseinanderklaffen zwischen diesem politisierten "harten Kern" und dem studentischen "Massenbewusstsein" zu führen. Die Demos und Aktionen sind eher ziemlich klein, allerdings ist die Anzahl der Teilnehmer/innen an studentischen Vollversammlungen seit Anfang dieser Woche exponentiell angestiegen.

Auffällig ist, dass die (v.a. auch liberale) Presse den politisierten unter den Studierenden nichts, aber auch gar nichts mehr durchgehen lässt. ,Le Monde' beispielsweise hat die Anti-CPE-Bewegung 2006 eher mit viel Sympathie begleitet, berichtet aber ausgesprochen unfreundlich und polarisierend über den "harten Kern" der jetzigen Bewegung. Und räumt der These von der "Manipulation durch die radikale Linke", u.a. die Hochschulpräsidenten/Rektorenkonferenz zitierend, breitesten Raum ein. In ihrem Bericht von der studentischen (nationalen) Streikkoordination vom vorigen Wochenende rückt ,Le Monde' an prominentester Stelle die Umtriebe von ein paar Radikalinski-Deppen, die angeblich Zeichnungen von Pressefritzen hinter Stacheldraht bzw. am Galgen zirkulieren lassen haben sollen. Es ist schon möglich, dass das stimmt .Aber ein paar Idioten hat es immer, zu jeder Zeit, gegeben. Neu ist, dass ,Le Monde' so was an den Anfang ihres Artikels rückt, obwohl ein paar Sätze danach hinzugefügt wird, es habe sich um "Einzelerscheinungen" gehandelt. Der Hauptgrund für den eiskalten Wind, der der studentischen Bewegung bzw. ihrem "harten Kern" aus der liberalen Presse entgegen pfeift, ist, dass insbesondere ,Le Monde' unter starkem Einfluss der Universitätshierarchie(n) steht, zumal das Blatt als Qualitätszeitung viel an den Hochschulen und unter Akademikern gelesen wird. Die Universitätshierarchie wurde durch die Anti-CPE-Bewegung nicht direkt angegriffen, ja konnte sich sogar durch die damalige Unterstreichung ihrer "Besorgnis um die Arbeitsmarktsituation unserer Studierenden" positiv profilieren und an Legitimation hinzugewinnen. Dagegen geht es jetzt direkt um ihre eigene Macht, die ja durch das "Gesetz zur Autonomie der Hochschulen" sehr gestärkt/ausgeweitet wird. Deswegen steht die Bewegung jetzt, anders als der Anti-CPE-Protest, in frontaler Konfrontation mit den Universitätspräsidenten und zum Teil -apparaten, die wiederum negative Äu ß erungen ("Manipulation" etc.) produzieren, welche die liberale Presse auf breitem Raum zitieren kann, um auf den "politisierten Kern" einzuprügeln.

Bernard Schmid, Paris, 15.11.2007


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