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Updated: 18.12.2012 16:07
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Frankreich: Studentische Proteste spitzen sich weiter zu. Streikfront für den kommenden Mittwoch weitet sich aus

(Fortsetzung von der gestrigen Ausgabe)

Die Streikfront für den Ausstand am kommenden Mittwoch hat sich nunmehr ausgeweitet. Inzwischen rufen fast alle Gewerkschaften in den drei wichtigsten Unternehmen, deren Lohn- und Gehaltsempfänger von den ,Régimes spéciaux' (Sonderregelungen bei den Renten) betroffen sind, zum Arbeitskampf auf.

Neben sieben von acht Gewerkschaften bei den französischen Eisenbahner/inne/n, vgl. die gestrige Ausgabe des Labournet, rufen nun auch alle wichtigen Gewerkschaften bei den Energieversorgungsbetrieben EDF und GDF zum Ausstand ab Dienstag Abend 20 Uhr auf. Nach den Mehrheitsgewerkschaften CGT und Force Ouvrière (FO) haben sich dort am gestrigen Tag auch die sozialdemokratische CFDT sowie die Gewerkschaft der höheren Angestellten, CFE-CGC, dem Streikaufruf angeschlossen. (Eine linke Basisgewerkschaft ,SUD Energie' existiert zwar, ist aber von geringer quantitativer Bedeutung und vor allem in der Forschungsabteilung verankert.)

Streikfront bei den Pariser Verkehrsbetrieben

Bei den Pariser Bus- und Métrobetrieben der Verkehrsgesellschaft RATP (Régie autonome des transports parisiens) hatten die Gewerkschaften bis am gestrigen Donnerstag Abend um Mitternacht Zeit, um ihren Streikaufruf zu hinterlegen. Dort war die Lage zuvor nicht so ganz klar, da die RATP-Beschäftigten sich in einer Sondersituation befinden, was ihre Rentenregelung betrifft. Auch wenn sie bisher ebenfalls unter die ,Régimes spéciaux', deren Abschaffung nun geplant ist, fallen. Denn für sie ist bereits eine eigene Rentenkasse geschaffen worden, die die Bezahlung ihrer Pensionen künftig garantieren und ihr eigenes finanzielles Gleichgewicht finden soll - sie schreibt derzeit auch dicke schwarze Zahlen. Dagegen werden etwa die Renten der Eisenbahner/innen aus einem Budgetposten im Haushalt der Bahngesellschaft SNCF alimentiert, für dessen Finanzierung die Beiträge der aktiven Beschäftigten sorgen. Insofern stellt die Problematik für die RATP-Bediensteten einen Sonderfall dar, und soll durch die getroffene Regelung in gewisser Weise "entpolitisiert" (oder jedenfalls "nicht zum Gegenstand von Polemik") werden. Zwar wird auch für die RATP-Beschäftigten durch die Abschaffung der ,Régimes spéciaux' ihr Eintrittsalter in die Rente ganz klar zeitlich verspätet bzw. hinausgeschoben werden. Aber immerhin brauchen sie sich -- im Gegensatz zu anderen Beschäftigtengruppen, die bisher unter die ,Régimes spéciaux' fallen und künftig heftige Strafbeiträge (décotes) infolge fehlender Beitragsjahre, und damit absinkende Pensionen, befürchten müssen - über die Höhe ihrer Renten nicht wirklich Sorgen machen.

Seit dem gestrigen Abend steht nun aber fest, dass auch die Gewerkschaften bei der RATP massiv gegen den geplanten Einschnitt durch Abschaffung der ,Régimes spéciaux' mobilisieren. Kurz vor Ablauf der Anmeldefrist für die Streikaufrufe der Gewerkschaften -- im Gegensatz zur französischen Privatwirtschaft muss in den öffentlichen Diensten eine Streikwarnung fünf Tage vor Beginn eines Arbeitskampfs hinterlegt werden, seit einem Dekret von 1963 (das infolge eines Métro-Streiks mit heftigen Konsequenzen verabschiedet wurde) - stand es gestern fest: Sieben von acht Gewerkschaften bei der RATP rufen ab kommenden Dienstag Abend zum Streik auf. Zunächst hinterlegten, gestern tagsüber, die CGT (36,9 % der Stimmen unter den Bus- und Métro-Angestellten) und die linke Basisgewerkschaft SUD (letztere wiegt 6,7 Prozent der Stimmen bei den Personalratswahlen der RATP) ihren Streikaufruf. Ihnen folgte die laut Eigenbezeichnung "reformistische" UNSA als dritte Organisation, die durch Abspaltungen von der (zu stark nach rechts gerückten) sozialliberalen CFDT stark angewachsen ist und 21,1 % der Stimmen in den Métro- und Busbetrieben wiegt. Am späten Nachmittag wollte die populistisch-schillernde FO (8,8 % bei der RATP) dann ihrerseits mit einem eigenen Streikaufruf folgen. Um Mitternacht verlautbarte dann, sieben von acht Gewerkschaften seien inzwischen beisammen.

Noch ma': Worum geht es schon wieder?

Die Regierung möchte unbedingt die ,Régimes spéciaux' abschaffen und damit die bisher unter relativ günstige Rentenregelungen fallenden Beschäftigtengruppen (mit zwei Ausnahmen: hauptberuflichen Militärs und Abgeordneten...) zwingen, erst nach 40 Beitragsjahren und Überschreiten einer Altersgrenze von mindestens 60 Jahren in Rente zu gehen. Dabei wird die allgemeine Altersgrenze, die für alle Beschäftigten gilt, freilich nicht auf diesem derzeit geltenden Stand stehen bleiben, da für das "allgemeine Rentenregime" ab 2020 die Anforderung von 42,5 Beitragsjahren für das Anrecht auf eine volle Pension gelten soll. Jede/r kann sich ausrechnen, was dies für das Verrentungsalter bedeutet, oder eher: für die Höhe der Pensionen, da die Leute nicht mit über 70 in Rente gehen, aber massive "Abschläge" (décotes) werden hinnehmen müssen.

Bisher verfügen bestimmte Beschäftigtengruppe über relativ günstige Regelungen zum Rentenalter, die freilich mit einer relativ geringen Höhe der Pensionen einher gehen. Dass "die Steuerzahler" oder "alle sonstigen Beitragszahler" für die Renten beispielsweise der Eisenbahner aufkommen würden, ist hingegen eine Legende, um deren Verbreitung die neoliberale Propaganda tunlichst bemüht ist. (Und die in den kommenden Tagen und Wochen noch massiv heruntergebetet werden wird.) In Wirklichkeit sind es allein die Beiträge der aktiven Eisenbahner/innen, die rund 40 Prozent ihres Lohns und Gehalts statt im Durchschnitt 26 Prozent für die sonstigen Beitragszahler betragen, aus denen die Renten finanziert werden. Zwar stimmt es, dass der Staat der Bahngesellschaft SNCF jährlich über zwei Milliarden Euro überweist - jedoch nicht, um den früheren Abgang der Eisenbahner/innen in die Rente zu finanzieren (im Gegenteil, die Renten unter 60 Jahren werden vom Staat bei seinen Zahlungen systematisch nicht berücksichtigt), sondern um die "demographischen Folgen" des vom Staat in den letzten Jahrzehnten vorgenommenen systematischen Stellenabbaus zu bewältigen. Die französische Bahngesellschaft SNCF beschäftigte früher bis zu 400.000 Mitarbeiter, gegenüber heute rund 150.000 (und ein weiterer Abbau im Güterfrachtverkehr steht bevor). Um die Auswirkungen seiner Entscheidungen zur Personalpolitik zu bewältigen, in deren Folge die Zahl der Renter/innen jene der aktiv Beschäftigten übersteigt, muss der Staat - logischer Weise - Ausgleichszahlungen vornehmen. Zugleich fließt aber auch Geld, ein paar Hundert Millionen, aus der Rentenkasse der Eisenbahner/innen in das "allgemeine Rentenregime". Denn aufgrund höherer Beiträge weist, wenn die "demopgraphischen Folgen" der Personalabbaupolitik einmal durch Ausgleichszahlungen bewältigt sind, die Rentenkasse der Eisenbahner/innen einen "Überschuss" (in schwarzen Zahlen) gegenüber den sonstigen Rentenkassen auf.

Insgesamt betreffen die ,Régimes spéciaux' zur Zeit 500.000 aktive Beschäftigte (bei Eisenbahn, RATP und Energieversorgungsunternehmen insbesondere, daneben auch bei den Bühnenarbeitern in den Pariser Operhäusern und bei der Comédie française zuzüglich Abgeordneten und Berufsmilitärs, welch Letztere von der "Reform" nicht betroffen sind) und 1,1 Millionen Renter/innen. Der "Überschuss" an Renter/innen erklärt sich allein aus der Politik systematischer Personalreduzierung in den vergangenen Jahrzehnten sowie des "Aussterbens" der Bergleute, die heute nur noch als Renter, nicht jedoch als aktive Berufsgruppe existiert. Historisch gehörten die Bergmänner in den Kohleminen zu den wichtigsten Berufsgruppen, bei denen ein ,Régime spécial' zur Rente erkämpft werden konnte.

Studierendenprotest

Der studentische Protest, der sich im Nachhinein gegen die Anfang August mitten in der hochsommerlichen Urlaubsperiode angenommene "Loi LRU" (alias Gesetz über die finanzpolitische "Autonomie der Universitäten") richtet, wuchs am gestrigen Tag ebenfalls weiter an. Drei weitere Universitäten nahmen am Donnerstag in studentischen Vollversammlungen Anträge auf Blockaden des Hochschulbetriebs an: in Nanterre (Universität Paris-X), im südwestfranzösischen Pau und im normannischen Caen.

Der Druck ist inzwischen stark genug, dass die Regierung sich zu Zugeständnissen genötigt fühlt, die freilich nichts am o.g. neoliberalen Hochschulrahmengesetz ändern soll. Die zuständige Hochschulministerin Valérie Pécresse ließ am gestrigen Donnerstag ersten Ballast ab und erklärte sich bereit, die Kredite für studentischen Wohnraum zu erhöhen. Diese Maßnahme betrifft zwar nicht den Kern der Proteste, der sich gegen das "Gesetz zur Autonomie der Universitäten" (das in Wirklichkeit verstärkte Autonomie allein für den Hochschulpräsidenten bedeutet, welcher sich künftig wie ein Unternehmenschef aufführen können soll) richtet. Allerdings hat die mit Abstand stärkste Studierendengewerkschaft UNEF, deren Führung sich fest in der Hand einer Unterströmung der französischen Sozialdemokratie befindet, selbst die Debatte auf dieses Terrain zu verlagern versucht. Denn die UNEF-Führung hatte bereits im Frühsommer mit der konservativen Regierung verhandelt und damals grundsätzlich ihr grünes Licht für die "Reform" gegeben, im Austausch gegen einige "institutionelle Garantien" (= Pöstchen in den Aufsichtsgremien). Ihr Chef Bruno Julliard erklärte am Donnerstag Abend, das Zugeständnis von Ministerin Pécresse sei positiv, allerdings noch nicht ausreichend, sondern vielmehr das Anzeichen dafür, dass die Proteste noch fortgesetzt werden müssten. Unter dem wachsenden Druck ihrer studentischen Basis sieht sich die UNEF derzeit gezwungen, sich an den Zug der Proteste dranzuhängen. Auch sie fordert inzwischen zumindest "Verbesserungen" an der Loi LRU, also dem "Gesetz zur Autnomie der Universitäten" (oder offiziell "Loi sur les Libertés et Responsabilités des Universités", also "Gesetz zur Freiheit und Verantwortung der Hochschulen", daher das Kürzel LRU).

Die UNEF ruft nunmehr zur Beteiligung an den Streiks und Demonstrationen am 20. November auf. An jenem Tag streikt (über die hoffentlich dann noch im Ausstand befindlichen öffentlichen Unternehmen hinaus, in denen bisher noch ,Régimes spéciaux' gelten, also Eisenbahn, RATP und EDF/GDF) der gesamte öffentliche Dienst zu den Themen Lohnforderung sowie Opposition gegen den durch die Regierung geplanten und durchgeführten Stellenkahlschlag. Also LehrerInnen, Krankenschwestern und -pflegern, Kommunalbedienstete... Positiv ist, dass die Initiative der UNEF dem eine weitere soziale Kampffront, an den Hochschulen, hinzufügt. Allerdings möchte die UNEF durch den sofortigen Aufruf für den 20. November zugleich auch andere Initiativen "überdecken", zu denen sie nicht aufrufen möchte. Das, eher auf der radikalen Linken verankerte, aber auch einen Teil der UNEF-Basis umfassende "Kollektiv gegen die Autonomie der Universitäten" (vgl. gestrige Ausgabe des Labournet) rief nämlich bereits am gestrigen Donnerstag zu Demonstrationen auf, und ruft für den kommenden Mittwoch - 14. 11. - erneut zu solchen Mobilisierungen auf.

Die gestrigen Demonstrationen blieben relativ klein. In Paris demonstrierten rund 1.000 Studierenden und versuchten, bis zum Bildungsministerium zu kommen, woran sie jedoch durch starke Kräfte der Bereitschaftspolizei CRS gehindert wurden. Im Anschluss blockierte eine Minderheit von DemonstrantInnen Gleise in der Pariser Gare du Nord (dem Nordbahnhof), woraufhin die Direktion den Strom abdrehen lassen musste.

Es bleibt zu hoffen, dass eine politisierte Avantgarde unter den Studierenden - die sich etwa seit den Vorjahresprotesten gegen den "Ersteinstellungsvertrag" CPE formieren konnte - sich nicht allzu schnell vom studentischen "Massenbewusstsein" entfernt, wobei sich gegen den Willen der studentischen Mehrheit zu einem frühen Zeitpunkt durchgeführte Blockadeaktionen mitunter kontraproduktiv auswirken könnten. Positiv ist dabei freilich die zumindest an manchen Universitäten zu verzeichnende starke Beteiligung an studentischen Vollversammlungen. An Paris-I Tolbiac (= Zülpich), einer Außenstelle der Sorbonne für Geisteswissenschaftler/innen, nahmen 1.500 Studierende an einer Vollversammlung teil. In Nanterre, an der Universität Paris-X, waren es rund 900. An Paris-VIII in der Vorstadt Saint-Denis waren es 550 bis 600 Teilnehmer/innen, womit die Mobilisierung dort freilich stärker ausfällt als zu Beginn der Anti-CPE-Protestbewegung. (Aufgrund des hohen Anteils an ausländischen Studierenden, die unbedingt ihr Hochschuljahr schaffen müssen, um ihren Aufenthaltstitel erneuern zu können, sowie von während mehrerer Wochentage arbeitenden Studierenden ist gerade die "Banlieue-Universität" Paris-VIII in den letzten Jahren eher ein schweres Pflaster für massive Mobilisierungen gewesen.)

Und die, ähem, parlamentarische Opposition?

Unterdessen steht fest, dass die Tonlosigkeit der wichtigsten parlamentarischen Oppositionskraft umso auffälliger ist, als die Gewerkschaften nunmehr erstmals ernsthafte Gegenwehr gegen die "Dampfwalze" der Reformen Sarkozys ins Augen fassen. Schlimmer, die französische Sozialdemokratie ist zum Thema tief gespalten. Während die ernsthafteren Linkskräfte (KP, Trotzkisten) die anstehenden sozialen Widerstände unzweideutig unterstützen, betreibt ein Teil der Sozialdemokratie dabei sogar aktive Propaganda für die "Reform". Auch wenn dieser Flügel sich, aufgrund des innerparteilichen Streits zum Thema, in allerjüngster Zeit nach außen hin mit lauten Auslassungen eher zurückhält.

Bei einem Treffen "junger Reformatoren" der Partei, Ende August rund um den smarten Anwalt und Abgeordneten Arnaud Montebourg, hatte Letzterer die Reform der ,Régimes spéciaux' nicht nur befürwortet. Er hatte eine solche Position auch zum Ausweis der notwendigen "Modernisierung" der Sozialdemokratie erhoben. Dabei wurde Montebourg bislang eher in der Mitte als auf der Rechten der Partei verortet. Ihm stand der Abgeordnete und Bürgermeister von Evry, Manuel Valls (ein früherer persönlicher Ratgeber von Expremierminister Lionel Jospin), auch eine der so genannten "jungen Hoffnungen" der Partei mit knapp über 40, zur Seite. Valls behauptete, die "Reform", sprich Abschaffung, der ,Régimes spéciaux' sei "sowohl eine Frage der Gerechtigkeit (gegenuber anderen Beschäftigtengruppen) als auch eine Frage des finanziellen Gleichgewichts" Frankreichs. Ähnlich positionierte sich auch der recht populäre sozialdemokratische Pariser Bürgermeister, Bertrand Delanoë, der ebenfalls Jospin nahe steht. Allerdings fingen auf dem "linken Parteiflügel" einige Protagonisten daraufhin an, Unmutsäußerungen von sich zu geben, namentlich der Senator Jean-Luc Mélenchon (einer der Wortführer des "anti-neoliberalen Nein" zum Europäischen Verfassungsvertrag im Jahr 2005).

Eine Vorstandssitzung am 11. September ergab eine Pattsituation, infolge dessen die französischen Sozialisten seitdem vor allem eine Position zur "Methode" beziehen: "Reform" - das bedeutet in dem Fall Abschaffung bestehender günstigerer Rentenregelungen - "ja, aber nicht ohne Gespräche mit den Sozialpartnern". In jüngerer Zeit warf die Ex-Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal, nachdem die erste Warnstreikwelle am 18. Oktober begonnen hatte, Präsident Sarkozy vor, er habe einen schweren Fehler begangen, indem er den Arbeitskampf nicht verhindern konnte. Damit versuchte Royal einmal mehr, Sarkozy sowohl von relativ links (weil er nicht genügend in Verhandlungen anbot), aber auch von rechts - indem sie das Ausbleiben von Streik, Ruhe und Ordnung zum obersten positiven Ziel erhebt - zu kritisieren. Viel Gehör findet die sozialdemokratische Opposition damit freilich im Augenblick nicht.

Bernard Schmid, Paris, 09.11.2007


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