FRANKREICH: Soziale Bewegungen und Verteidiger demokratischer Freiheitsrechte
mobilisieren
Es war ein ungewöhnliches Bündnis, das in der vergangenen Woche in
Paris an die Öffentlichkeit trat. Die progressive Anwältegewerkschaft
SAF und die traditionsreiche Liga für Menschenrechte (LDH) protestierten
gemeinsam mit den linksalternativen SUD-Basisgewerkschaften, der Bauerngewerkschaft
von José Bové, alternativen Internetgruppen, der CGT und der Antirassismusbewegung
MRAP.
Ihr Protest richtet sich gegen die geplante Strafrechtsreform des französischen
Innenministers Nicolas Sarkozy, die eine drastische Verschärfung der Strafen
für zahlreiche Delikte vorsieht - vor allem solcher Strafbestimmungen,
die gesellschaftliche Randgruppen treffen. So sollen Sinti und Roma im Fall
illegalen Campierens mit sechs Monaten Haft, Konfiszierung der Fahrzeuge und
dreijährigem Entzug des Führerscheins bedroht werden.Ausländische
Prostitutierte sollen zügig abgeschoben werden, im Namen des Kampfs gegen
den Menschenhandel mafiöser Kartelle vom Balkan oder afrikanischen Staaten
aus - bestraft würden aber vor allem die betroffenen Frauen. "Aggressives
Betteln" soll ebenfalls mit sechs Monaten Haftandrohung sanktioniert werden.
Der Entwurf, den die Demonstranten als eine »Kriegserklärung an die Armen«
bezeichneten, wurde am Mittwoch der vergangenen Woche vom Kabinett verabschiedet
und soll bis zum Jahresende vom Parlament angenommen werden.. In einem
am Montag voriger Woche (dem 21. Oktober) von 34 Gruppen und Organisationen
veröffentlichten Aufruf heißt es ferner, das Gesetzesvorhaben »könnte
zu einem autoritären Staat führen und all jene unterdrücken,
die das Pech haben, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden«.
Die etablierten Linksparteien und selbst die Sozialdemokraten unterstützen
den Aufruf, allerdings erst nach heftigen internen Debatten. (Hatte doch der
ehemalige sozialistische Innenminister Daniel Vaillant erklärt, dass er
beim jetzigen Amtsinhaber vor allem »Kontinuität« zu seinem eigenen Handeln
sehe.) Und nicht ohne den Aufruf vorher an manchen Stellen entschärft zu
haben. So wurde eine Passage über polizeiliche Gewalt nach langer Diskussion
gestrichen : Der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) war sie nicht
scharf genug formuliert, aus Sicht der Sozialdemokraten hingegen ging sie bereits
viel zu weit. Ein Kompromiss konnte nur durch Ausklammerung dieses Punkts formuliert
werden.
Daneben unterzeichneten auch die KP, die Grünen sowie die - weiter links
stehende - Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) den Text.
Am Samstag gingen mehrere tausend DemonstrantInnen in Paris, Lyon und Marseille
gegen den Sarkozy-Entwurf auf die Straße. In der Hauptstadt versammelte
sich zum Demo-Auftakt auf der Place de la République vor allem die autonom-anarchistische
und libertäre Szene unter dem Motto: »Hören wir auf, Angst zu haben!«
In teilweise karnevalsähnlicher Form zogen manche ihre Anhänger mit
symbolischen Ketten, wie früher Kerker-Insassen sie trugen, durch die Stadt.
Zwischen den Technosound-Wagen fanden sich aber auch afrikanische Familien ein,
die gemeinsam mit der kämpferischen Wohnrauminitiative DAL (Droit au logement)
auf die Straße gingen. Innenminister Sarkozy hatte erst in der vergangenen
Woche nach heftigen Protesten einen Passus aus seinem Entwurf gestrichen, der
für Hausbesetzungen Haftstrafen bis sechs Monate vorsah - auch in der Gesamtbevölkerung,
die der "Inneren Sicherheit" grundsätzlich eher positiv gegenüber
steht, war dieser Passus mit 54 Prozent Gegnern in den Umfragen auf Ablehnung
gestoßen. Sarkozy erklärte am vorigen Mittwoch einer DAL-Delegation,
die in seinem Ministerium empfangen wurde, dass der Hausbesetzer-Paragraph gekippt
werde.
Insgesamt demonstrierten in Paris rund 2 000 Menschen in diesem Zug mit, in
den beiden anderen Städten waren es etwas mehr Menschen. Denn zur
gleichen Zeit trafen sich in Paris - zwei Kilometer weiter nördlich - circa
4 000 junge Linke, Juristen und Migranten in der Konzerthalle Le Zénith,
um gegen die so genannte double peine zu protestieren. Nach dem französischen
Strafgesetz werden Einwanderer doppelt bestraft, da sie nach der Haft sofort
abgeschoben werden können. Das ist ein eklanter Verstoß gegen die
Gleichheit vor dem Gesetz, wie viele Kritiker meinen.(Auch in dieser Hinsicht
hat Sarkozy sich in der letzten Woche vorsichtig auf den Rückzug begeben,
und eine Einschränkung dieser - 1993 durch die damalige Rechtsregierung
verschärften - Regelung angekündigt.) Die Großveranstaltung
mit Kulturprogramm kostete 6 Euro Eintritt, wurde aber zum vollen Erfolg. Am
Ende vereinigten sich die beiden Versammlungen, da die Demonstration der Antiautoritären
vor der Konzerthalle endete, aus der die Teilnehmer herausströmten.
Die Veranstaltungen vom vergangenen Wochenende könnten den Auftakt für
eine neue Oppositionsbewegung gegen die konservative Regierung bilden. Denn
bislang war die von den bürgerlichen Parteien befürchtete Mobilisierung
gegen ihre Politik weitgehend ausgeblieben. Auch die Konservativen haben ihre
Lektion aus dem Scheitern der Regierung unter Alain Juppé gelernt, die
1997 nach heftigen sozialen Protesten zurücktrat.
Diesmal will die Regierung von Premierminister Jean-Pierre Raffarin, in der
faktisch Innenminister Sarkozy den Ton angibt, den Fehler nicht wiederholen,
ihre Amtszeit mit besonders unpopulären Maßnahmen zu beginnen und
eine umfassende wirtschafts- und sozialpolitische Reform einzuleiten. Stattdessen
bemüht sie sich vor allem um die Innen- und Sicherheitspolitik. Sie ist
sich gewiss, dass vor allem die zunehmende Gewalt in den Banlieues dafür
sorgt, dass diese Maßnahmen in der Bevölkerung im Prinzip durchaus
populär sind.
Doch das bedeutet noch lange nicht, dass es keine Gegenreformen in der Wirtschafts-
und Sozialpolitik gebe. So schränkte die neokonservative Regierung die
Anwendung der in den letzten fünf Jahren schrittweise eingeführten
35-Stundenwoche deutlich ein. Sie erließ ein Dekret, das die jährlichen
Kontingente von derzeit 130 auf 180 Überstunden anhebt. Zudem wird der
Überstundenzuschlag, den die Beschäftigten erhalten, für kleinere
Betriebe herabgesetzt.
Aber diese Maßnahme trifft nur einen Teil der abhängig Beschäftigten.
Die Reform zur Einführung der 35-Stundenwoche der ehemaligen Koalitionsregierung
Lionel Jospins trug bereits zu einer Zersplitterung des Arbeitsrechts bei, da
sie Einzelabkommen für jeden Betrieb vorsah. Die konservativen Vorhaben
verstärken diese Entwicklung lediglich. Sie betreffen im Grunde nur jene
Beschäftigten in kleinen und mittelständischen Unternehmen, die bisher
von der Arbeitszeitverkürzung ausgeklammert blieben.
Eine weitere Initiative betrifft die staatlich subventionierten Stellen für
Jugendliche. Die sozialdemokratische Vorgängerregierung führte 1997
die so genannten emplois jeunes ein, subventionierte Stellen für
rund 300 000 Jugendliche im öffentlichen Dienst, aber auch bei gemeinnützigen
Initiativen und Vereinigungen. Diese Maßnahme war damals zwar kritisiert
worden, weil sie auf befristeten Verträgen und einer oft schlechten Bezahlung
beruhten. Immerhin wurden damit aber auch zahlreiche neue Jobs etwa im Umweltbereich
geschaffen, die erlaubten, gesellschaftlich sinnvolle - aber nicht rentable
- Tätigkeiten zu subventionieren.
Die konservative Regierung hat diese Programme bereits im Frühsommer gestrichen,
die Finanzierung der emplois jeunes (= Jugend-Arbeitsplätze) läuft
in den kommenden Monaten aus. Stattdessen will sie nun speziell für Jugendliche
neue Jobs in der Privatwirtschaft, vor allem in der Industrie, auf ähnliche
Weise finanziell unterstützen - das Programm läuft diese Woche, am
Dienstag (29. Oktober), an. Schon jetzt ist abzusehen, dass von dieser Initiative
vor allem die Unternehmer profitieren werden. Sie könnten die Subventionen
einstreichen und die Jugendlichen zum staatlich festgelegten Mindestlohn einstellen.
Die emplois jeune-Beschäftigten, von denen mehrere Zehntausend in
den nächsten Monaten joblos werden, haben für die laufende Woche Protestaktionen
angekündigt.
Die großen Gewerkschaften haben bisher wenig auf die sozial- und wirtschaftspolitischen
Maßnahmen der Regierung reagiert. Dass die gesellschaftlioche Opposition
nun gegen den »Krieg gegen die Armen« protestiert, sorgt aber dafür, dass
die sozialen Implikationen der Regierungspolitik aufgedeckt und die beiden Themen
die Verteidigung bürgerlicher Freiheitsrechte und soziale Belange miteinander
verbunden werden.
Auch in anderen Landesteilen zeigt sich langsam der Unmut über die Regierung.
So wurde Premierminister Raffarin am Freitag der vergangenen Woche bei seiner
Ankunft in Marseille von einer Demonstration empfangen, an der etwa 10.000 Linke
und Gewerkschafter teilnahmen. Es handelte sich um die erste soziale Demonstration
seit den Wahlen im Frühsommer, die nicht nur Angehörige einer spezifischen
Berufsgruppe - etwa die Lehrer, die am vorletzten Donnerstag streikten - anzog.
Die Demo diente u.a. der Kritik an dem Dezentralisierungsgesetz, das vor 14
Tagen vom Kabinett abgesegnet wurde. Sie befürchten mit der angekündigten
Regionalisierung ein Anwachsen der Ungleichheiten zwischen reicheren und ärmeren
Teilen Frankreichs. Daneben wurden der Erhalt und die Demokratisierung der öffentlichen
Dienste, statt ihrer Privatisierung (oder Öffnung für privates Kapital)
gefordert.
Bernhard Schmid, Paris
29. Oktober 2002