letzte Änderung am 15.Dezember 2003 | |
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...und andere regressive "Sozialreformen"
Die neueste "Errungenschaft" der französischen neokonservativen Regierung wurde am Donnerstag, 11. Dezember in letzter Lesung vom Parlament angenommen. Ab dem 1. Januar 2004 wird damit der sogenannte RMA geschaffen. Arbeitslosenkollektive und die radikale Linke dechiffrieren die Abkürzung mit Retour au moyen âge (Rückkehr in’s Mittelalter). Die offizielle Bezeichnung lautet freilich Revenu minimum d’activité (Mindest-Aktivitätsentlohnung).
Der RMA, das ist der neue Verwandte des RMI (Revenu minimum d’insertion Mindesteinkommen zur gesellschaftlichen Eingliederung), der französischen Sozialhilfe. Für eine Dauer von mindestens sechs und höchstens 18 Monaten sollen bisherige Sozialhilfeempfänger einem Unternehmen zur Verfügung gestellt werden; dem Gesetzestext zufolge kann es sich auch explizit um eine Zeitarbeitsfirma handeln, die ihrerseits diese Arbeitskräfte an andere Betriebe "ausleihen" kann.
Die bisherige Höhe der Sozialhilfe, 41O Euro im Monat, wird dem Arbeitgeber vom Staat ausbezahlt; das Unternehmen muss seinerseits nur 183 Euro zuzahlen. Für zwanzig Arbeitsstunden pro Woche erhält demnach der oder die Betroffene nur 183 Euro monatlich zusätzlich zum Sozialhilfesatz, was einem Stundenlohn von gut zwei Euro entspricht. Weiterer Vorteil aus Sicht des Unternehmens: Es muss Sozialabgaben nur auf die 183 Euro bezahlen, um welche das RMI-Niveau "aufgestockt" wird (und der RMA-Empfänger wird auch nur für diese Summe sozial abgesichert, d.h. es werden nur für die Differenzsumme von 183 Euro Renten- und Krankenkassenbeiträge abgeführt).
Da der RMA nicht als Arbeitsvertrag gilt, kann der oder die Betreffende zudem keines der Rechte ausüben, die normalerweise mit einer Beschäftigung verbunden sind, etwa das Recht, den Betriebsrat mitzuwählen. Auch ist der "RMA-Vertrag" mit keinerlei Fortbildungspflichten für den Arbeitgeber verbunden, und der Betreffende kann nach dem Ende seiner Tätigkeiten keinerlei Recht auf Weiterbeschäftigung oder Erwerb einer Qualifikation geltend machen. Alle, auf die Anerkennung von Rechten des RMA-"Berechtigten", die denen eines abhängig Beschäftigten halbwegs vergleichbar wären, zielenden Anträge des Parlamentsausschusses für soziale Angelegenheit wurden vom zuständigen Minister François Fillon abgeschmettert. Selbst die vom Parlament eingesetzte Berichterstatterin, die ultrakatholische Abgeordnete Christine Boutin (das ist jene Parlamentarierin, die 1998 in der Nationalversammlung die Bibel schwenkte, um gegen die Anerkennung eingetragener Lebensgemeinschaft von Homosexuellen zu protestieren) hatte sich für mehrere solcher Anträge stark gemacht, im Namen einer christlichen Sozialkonzeption. Die Pariser Abendzeitung Le Monde notierte, es sei ein seltener Vorgang, dass dermaßen systematisch die Anträge der parlamentarischen Berichterstatterin - die offiziell damit betraut ist, den Text in die Debatte einzuführen und seine Bestimmungen sowie den Diskussionsstand im zuständigen Parlamentsausschuss vorzustellen - abgelehnt würden.
Der RMI seinerseits wird zugleich "dezentralisiert", d.h. er wird statt wie bisher vom Zentralstaat künftig durch die Départements verwaltet. Noch genauer, durch die Exekutivspitze, also die Départements-Präsidenten, denn die neu geschaffenen Bezirkskommissionen zur Sozialhilfe werden nur beratende Funktion haben. Vorbei ist es damit mit annähernd gleichen Rechten für alle SozialhilfeempfängerInnen, denn die Bezirkspräsidenten haben weitgehende Handlungsfreiheit. Nur für ein Jahr nach der "Dezentralisierung", die ebenfalls am 1. Januar 2004 in Kraft tritt, sollen die Départements die bisherige Verpflichtung des Zentralstaats einhalten, mindestens 17 Prozent der für die Sozialhilfe bereitstehenden Mittel auf Fortbildungsmaßnahmen zu verwenden.
Einige Wochen lang war von einer Verschiebung der neuregelung (RMI-Reform und Einführung des RMA) auf den 1. Juli 2004 die Rede gewesen, nachdem die christdemokratische UDF - die halb mitregiert und halb Oppositionspartei spielt - sich auf diesem Wege als "die sozialere bürgerliche Kraft" gegenüber der Regierungspartei UMP zu profilieren suchte. Doch das Regierungslager hatte es eilig, und letztendlich hat sich die Einführung zum kommenden 1. Januar durchgesetzt. Der Parti Socialiste (PS) hat jetzt angekündigt, das Verfassungsgesetz anrufen, um es über die Verfassungsmäßigkeit des neuen Gesetzes befinden zu lassen.
Danach wird vermutlich die finanzielle Situation der jeweiligen Départements die sehr unterschiedlich ausfällt und auch die jeweils verfolgte lokale Klientelpolitik darüber entscheiden, was mit den Sozialhilfe-Abhängigen geschieht. Etwa darüber, wieviele RMI- dann in RMA-Empfänger mit Arbeitspflicht verwandelt werden. Das Gesetz schreibt nur eine Mindestdauer fest: Der RMA richtet sich an solche SozialhilfeempfängerInnen, die mindestens ein Jahr lang den RMI erhalten haben. Derzeit gibt es über eine Million SozialhilfeempfängerInnen, von denen die Hälfte bereits seit über drei Jahren vom RMI abhängt.
Proteste dagegen hat es gegeben, die verschiedenen Arbeitslosen-Selbstorganisationen (etwa die Basisbewegung AC ! oder die KP-nahe Erwerbslosenorganisation APEIS) kämpften seit Monaten energisch gegen die RMI- und RMA-Neuregelung. Doch die Mobilisierung verlief eher schleppend. So nahmen an einer seit Wochen angekündigten Demo in Paris am 6. Dezember rund 2.500 Personen teil, und einige weitere Tausend in einem Dutzend französischer Städte. Zwar handelte es sich um eine recht flotte Demo, die am Ende mit einem kollektiven Gratis-Einkauf vieler Erwerbsloser im Luxuskaufhaus "Le Bon marché" (und einem brutalen Polizeieinsatz im Inneren des Kaufhauses, obwohl dessen Leitung den Arbeitslosen bereits nachgegeben hatte) endete. Die Zahl der Beteiligten ist jedoch weit entfernt von der Zahl der von den sozialen Angriffen Betroffenen; tatsächlich kommen zu diesen Demonstrationen hauptsächlich Mitglieder der Arbeitslosen-Selbstorganisationen sowie einige Angehörige der KP und der radikalen Linken (Trotzkisten von LCR und LO, Anarchosyndikalisten der CNT), die oftmals nicht selbst arbeitslos sind. Eine der Ursachen ist darin zu suchen, dass gerade die Erwerbslosen, deren Zahl derzeit wieder rapide zunimmt (die Zehn-Prozent-Marke ist in diesem Jahr wieder überschritten worden, nachdem die Arbeitslosenzahl seit 1999 unterhalb der Schwelle gelegen hatte) eine besonders atomisierte und in die Defensive gedrängte soziale Schicht darstellen. Denn neben dem Entwurf zu RMI und RMA wurden im Jahr 2003 eine Reihe weiterer regressiver Beschlüsse gefasst. So einigten sich die so genannten "Sozialpartner", d.h. im Wesentlichen der Kapitalistenverband MEDEF und der sozialliberale Gewerkschafts-Dachverband CFDT (dem die Verwaltung der paritätisch besetzten Arbeitslosenkasse anvertraut wurde, wo die CFDT seit Jahren eine eiskalte Sparpolitik durchsetzt) noch im Dezember 2002 auf drastische Sparmaßnahmen bei der Arbeitslosenkasse UNEDIC. Hunderttausende von Erwerbslosen verloren so mehrere Monate Anspruch auf Arbeitslosengeld, viele erhalten nunmehr etwa zwei Jahre statt vorher drei Jahre Unterstützung. Das traf im Herbst dieses Jahres zahlreiche Betroffene völlig unvorbereitet, da sie nicht vorher über die Begrenzung ihrer Ansprüche informiert worden waren. Im Anschluss werden sie auf eine Art "Arbeitslosengeld Zwei" als Auffangnetz verwiesen, die ASS (allocation spécifique de solidarité), die vom Staat bezahlt wird und nur wenig höher als der Sozialhilfesatz liegt. Die Pariser neokonservative Regierung aber wollte die damit verbundenen Mehrausgaben aber nicht tragen und befristete die ASS, die bisher auf unbefristete Zeit ausbezahlt wurde, auf zwei Jahre. Die nächste Station für die Betroffenen ist dann der RMI oder künftig der RMA. Angesichts dieser radikalen Prekarisierung, die derzeit stattgefunden hat, sind viele Betroffene auf die Defensive zurückgeworfen und träumen nur noch davon, sich irgendwie individuell "durchzuwurschteln" notfalls, indem sie sich in einen miesen und schlecht bezahlten Job "vermitteln" lassen.
Besonders hart trifft es künftig auch die Sans papiers ("illegalisierten" Immigranten). Sie hatten bisher ein faktisches Recht auf Zugang zur Gesundheitsversorgung mittels eines Sonderbudgets, das auf den Namen Aide médicale d'Etat (AME, Staatliche medizinische Beihilfe) hörte. Dieser, rund eine halbe Milliarde Euro wiegende Budgetposten war für Menschen reserviert, die ansonsten völlig aus der Gesundheitsversorgung herausgefallen wären - da man auch staatlicherseits erkannt hatte, dass dies gesundheitspolitisch sinnvoll wäre, um etwa die Ausbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern. Bereits vor einem Jahr wollte die Regierung die AME drastisch kürzen, woraufhin sie jedoch einen Rückzieher vollzog, da ihr eine Zensur durch das Verfassungsgericht drohte. Jetzt aber hat sie eine noch dramatischere Reduktion der medizinischen Sonderhilfe im Haushaltsgesetz für 2004 gestgeschrieben. Demnach soll einerseits jeder AME-Empfänger - das sind ja in der Regel weitgehend mittellose Personen - bis zu 30 Prozent seiner Behandlungskosten selbst zuzahlen. Andererseits wird auch der Zugang beschränkt, namentlich für "illegale" Immigranten. Letztere sollen künftig nur dann in die AME-Versorgung aufgenommen werde, wenn sie einen offiziellen Nachweis ihres Wohnsitzes führen können - was für Menschen mit "illegalem" Aufenthaltsstatus schwierig ist, wenngleich nicht prinzipiell unmöglich, da es auch Sans papiers gibt, denen die Finanzbehörden Steuern abknöpfen. Zudem soll die Aufnahme, wenn der geforderte Nachweis gelingt, nur mit 3 Monaten Verzögerung erfüllen. (Bisher übernahm die AME anfallende Behandlungskosten in Echtzeit, mit einigen bürokratischen Verzögerungen bei der Bezahlung.) Eine Ausnahme wird es nur bei "lebensbedrohlichen" Erkrankungen oder Verletzungen bekommen, die sofort behandelt und durch die AME bezahlt werden können. Nach Bekanntwerden der Regierungspläne im Oktober haben über 40 Menschenrechts-, Antirassismus-, Immigranten- und Solidaritätsorganisationen öffentlichen Protest erhoben.
In der ersten Dezemberwoche diskutierte das französische Parlament ferner über eines Gesetzesvorschlag des früheren Air France-Direktor Christian Blanc, der im Dezember 2002 auf einen Parlamentssitz nachgerückt war. Darin geht es um die Einführung eines service miminum bei Streik in den öffentlichen Diensten. Gemeint ist die gesetzliche Verpflichtung zur Einrichtung einer Mindestbelegschaft, die etwa in den Transportbetrieben das Streikrecht faktisch aushebeln oder jedenfalls wirkungslos machen würde.
Dabei stehen sich zwei Konzeptionen gegenüber. Ein Großteil der konservativen Abgeordneten will die Verpflichtung zum service miminum möglichst schnell per Gesetz festschreiben, um bei künftigen Streiks rasch den Deckel auf dem Topf halten zu können. Die Regierung hält das aber für ein unrealistisches Vorhaben, da bei einem solchen Vorgehen "von oben" der Ärger mit den Beschäftigten und Gewerkschaften vorprogrammiert wäre. Sozialminister François Fillon und Transportminister Gilles de Robien machen sich deswegen dafür stark, Verhandlungen in jedem einzelnen der öffentlichen Betriebe (Bahngesellschaft SNCF, Post, ...) in die Wege zu leiten, um durch Vereinbarungen mit den "vernünftigen" Gewerkschaften Verfahrensregeln festzulegen, die Streikbewegungen kanalisieren helfen sollen. Nur wenn das nicht klappt, soll der Gesetzgeber eingreifen, wobei diese Möglichkeit als Drohkulisse im Hintergrund bestehen bleibt. Sogar der CGT-Chef Bernard Thibault hat sich am 12. Dezember im Prinzip gesprächsbereit erklärt, da "niemand zum Vergnügen streikt". Die sozialliberale CFDT hat das Aushandeln von Vereinbarungen, die das Streikrecht knebeln, ohnehin auf ihrem vorletzten Kongress 1998 in Lille als eigenes Ziel beschlossen.
Bernhard Schmid (Paris)
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