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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Reformterror oder Sommerpause Zum aktuellen Stand der neoliberalen Offensive in Arbeitszeit-, Mindestlohn- und anderen Belangen Paul Lafargue wäre wohl begeistert gewesen; die Unternehmensleitung ist es weit weniger. "Bonjour paresse", ein Gruß an die Faulheit, heißt das Buch, das eine Mitarbeiterin der Forschungsabteilung beim Stromriesen EDF jüngst beim Verlag Michalon veröffentlichte. Untertitel: "Von der Kunst und der Notwendigkeit, so wenig wie möglich im Unternehmen zu tun." Doch "gerade in diesen Zeiten der Privatisierung" des Energieversorgungs-Unternehmens, so merkt Le Monde an, fand man das bei EDF eher unpassend. Am Dienstag kommender Woche, dem 17. August, muss Corinne Maier, die Autorin der, leicht subversiven, "Ode an die Faulheit" (Le Monde), sich in einem Disziplinarverfahren verantworten. Ihrem Buch aber hat das neue Publizität verschafft. Keinesfalls begeistert vom "Recht auf Faulheit", das Marxens Schwiegersohn Lafargue dereinst proklamierte, ist auch ein amtierender französischer Minister. Der Leiter des Gesundheitsressorts, Philippe Douste-Blazy (von manchen Medien gern "Douste-Blabla" genannt), warf Mitte Juli d.J. in einem Interview mit der Pariser Abendzeitung Le Monde die gewichtige Frage auf: "Wollen wir in einer Gesellschaft der Arbeit leben, oder in einer Gesellschaft des Müßiggangs und Flanierens, wie es Martine Aubry vorschwebte?" Damit bloß niemand auf die Idee kommt, sich für die zweite Variante zu entscheiden, will die konservative Regierung sich ab Herbst 2004 (und spätestens bis zu einer Deadline im Herbst 2005) an die Demontage des Gesetzes zur 35-Stunden-Woche heranmachen, das die sozialdemokratische Arbeitsministerin Aubry 1999 einführte. Seine Abschaffung ist allerdings bis in Kapitalkreise hinein umstritten. Denn das sozialdemokratische Gesetz hat auch seine klaren Vorteile für die Arbeitgeber: Es erleichtert variable Arbeitszeiten im Jahresmaßstab, die je nach Auftragslage des Betriebs schwanken; es verpflichtet gar zum Abschluss einzelbetrieblicher Abkommen zur (möglichst "flexiblen") Arbeitszeitpolitik und garantiert den Unternehmen "im Gegenzug" Nachlässe bei den Sozialabgaben. Deswegen wird die Regierung von Premierminister Jean-Pierre Raffarin, nach längerem internem Streit, das Gesetz letztendlich auch nicht einfach abschaffen. Vielmehr wird man es beibehalten, aber die Einführung (durch zusätzliche betriebliche Öffnungsklauseln etwa) von Überstunden rechtlich erleichtern und für die Arbeitgeber verbilligen. Damit ist für eine maximale Flexibilität der Arbeitskräfte gesorgt. Sommerpausen-Aktivismus der Regierung Bis dahin herrscht noch eine kurze parlamentarische Sommerpause, die (wie 2002 und 2003) auch in diesem Jahr reduziert wurde, um während der allgemeinen Urlaubsperiode möglichst viele regressive "Reformen" durchzudrücken. 2002 waren es die Gesetze zur "Inneren Sicherheit", und im vorigen Jahr war es die so genannte Rentenreform, die am 24. Juli 2003 in letzter Lesung verabschiedet wurde. Dieses Jahr machte das Parlament gleich für zwei größere "Reformen" Überstunden. Da war zum einen die "Gesundheitsreform", die am 30. Juli dieses Jahres von den Parlamentariern angenommen wurde. Deswegen wird beispielsweise künftig auch in Frankreich eine Praxisgebühr fällig, die im Gegensatz zu ihrem deutschen Pendant aber bei jedem einzelnen Arztbesuch anfällt. Ihre Höhe wurde für das kommende Jahr vorläufig auf einen Euro pro Arztbesuch festgelegt (bei einer derzeitigen Gesamtgrenze von 50 Euro jährlich), kann aber zukünftig problemlos noch steigen. Auf besondere Kritik stieß, dass auch für die Betroffenen von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten, die sich in häufige Behandlung begeben müssen, die Gebühr bei jeder Behandlung erhoben wird. Der Direktor der gesetzlichen Krankenkasse, der durch die Regierung auf fünf Jahre ernannt wird, kann künftig aus eigener Vollmacht über die Preis- und Erstattungspolitik entscheiden. Bisher war er an ein Votum der "Sozialpartner" gebunden, die im Verwaltungsrat der Kasse sitzen; diese Bindung fällt künftig weg. Ferner wird eine neue "Hohe Gesundheitsbehörde" gebildet, deren Mitglieder in Bälde von Präsident Jacques Chirac eingesetzt werden und die einen so genannten Arzneimittel-Warenkorb definieren soll; nur die darin enthaltenen Medikamente sollen künftig noch (voll oder teilweise) erstattungsfähig sein. Die andere große Baustelle dieses Sommers war der Abschluss der so genannten Dezentralisierung. Bereits seit anderthalb Jahren arbeitet die Regierung daran, Zuständigkeiten vom Zentralstaat auf die Regionen sowie die Départements zu übertragen; etwa jene für die Sozialhilfe sowie für Teile des Gesundheits- und des Bildungswesens. (Im Falle des Bildungswesens richtete sich der massive LehrerInnenstreik im April, Mai und Juni 2003 u.a. gegen dieses Ansinnen.) Damit verbunden ist die Abkehr von dem Anspruch, in ganz Frankreich ähnliche soziale Lebensverhältnisse zu garantieren. Ferner sollen wichtige sozialpolitische Fragen "entpolitisiert" werden: Solange der Zentralstaat zuständig war, demonstrierten mitunter Millionen Franzosen gegen seine Weichenstellungen, so dass seine Entscheidungen stets "druckanfällig" blieben und Gegenstand einer breiten politischen Debatte waren. Dieses Kräfteverhältnis soll zu Ungunsten sozialer Bewegungen aufgebrochen werden. Aber auch innerhalb des konservativen Lagers stößt diese offene Abkehr von bisherigen tragenden republikanischen Prinzipien auf Widerspruch. (Man kann von einer solchen Abkehr sprechen, denn die französische Republik definierte sich maßgeblich über ihren Universalismus, der für alle Staatsbürger gelten und ihnen theoretisch - ungeachtet ihrer Herkunft gleiche Rechte gewähren wollte.) Den meist gaullistisch inspirierten Opponenten geht es dabei freilich nicht allein um den Erhalt sozialer Standards, sondern vor allem auch um die Staatsautorität, die in ihren Augen durch die Dezentralisierung abgeschwächt wird. Tauziehen um die neoliberale "Dezentralisierung" Ende Juli geriet die Regierung Raffarin darüber vorübergehend in ernsthafte Schwierigkeiten. Angesichts von rund 4.600 Änderungsanträgen der (vorwiegend sozialdemokratischen) Parlamentsopposition drohte die "letzte gesetzgeberische Etappe der Dezentralisierung" nicht mehr vor der Sommerpause der Abgeordneten am 1. August verabschiedet zu werden. Der Premier griff deswegen zu einem Verfahrenstrick und verknüpfte die Debatte mit der Vertrauensfrage seiner Regierung. Die Sachdiskussion wird dadurch sofort abgewürgt: Nach dem berühmten Artikel 49-3 der französischen Verfassung gilt die Vorlage automatisch als angenommen, spricht die Mehrheit der Parlamentarier nicht der Regierung das Misstrauen aus, wodurch diese gestürzt würde. Doch Parlamentspräsident Jean-Louis Debré blieb der Debatte fern: Er zählt zu den konservativen Gegnern der "Reform" und wetterte in der Vergangenheit wiederholt gegen die "Fundamentalisten der Dezentralisierung". (Letztere war ursprünglich eher ein Anliegen der Linksparteien gewesen, die 1982 manche demokratischen Vollmachten auf die Städte und Bezirke übertrugen, während die damals oppositionellen Konservativen die zentralstaatliche Autorität dagegen verteidigten. Aber in den 90er Jahren hatten viele Konservative und Liberale den Nutzen einer Übernahme und Umdeutung der Forderung nach "Dezentralisierung" erkannt, um damit einem neoliberalen Subsidiaritätsprinzip Bahn zu brechen und um die Abkehr von fest stehenden sozialen Standards einzuleiten.) Ihn musste eine sozialdemokratische Abgeordnete, Hélène Mignon, als Sitzungsleiterin vertreten. Und so durfte die Regierung sich vom Präsidentensessel der Nationalversammlung aus harsche Vorwürfe anhören: "Die Reformen der Regierung sind zum Synonym für Ungerechtigkeit und Regression geworden. (...) Die Demokratie wird auf allen Ebenen abgewürgt..." Der Skandal war perfekt, auch wenn die Vorlage dennoch durchgedrückt werden konnte, angesichts der konservativen Übermacht im (2002 gewählten) Parlament. Manche politischen Beobachter betrachten dieses Durchboxen der "letzten legislativen Stufe der Dezentralisierung" im Hauruckverfahren bereits als "politische Testaments-Niederlegung" von Premier Raffarin: Da dieser die neoliberale Dezentralisierung zum Hauptanliegen seiner Regierungsära erhoben hatte, habe dieser es besonders dringlich gehabt, sein Lieblingsprojekt noch kurz vor Torschluss in trockene Tücher zu bringen. Raffarin selbst allerdings hat noch Pläne bis Ende 2005 und geht davon aus, dass er solange noch im Amt bleiben werde. Tatsächlich wäre es aus Sicht der Konservativ-Liberalen sinnvoll, dann anderthalb Jahre vor dem Superwahljahr 2007 das Zugpferd auszutauschen, mit einem weniger politisch vorbelasteten Personal weiterzumachen und den "Reform"eifer in den letzten 12 Monaten zu zügeln. "Ein fatales Symbol" Doch auch ansonsten ist das Image der Regierung, nachdem sie bereits bei den Regional- sowie Europaparlamentswahlen im März und Juni 2004 abgestraft wurde, ausgesprochen lädiert. Dazu trug in der letzten Juliwoche eine doppelte symbolträchtige Entscheidung von Premier Raffarin bei. Dieser verschob einerseits eine bereits seit Jahren angekündigte Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns SMIC um ein volles Jahr. Im selben Moment wurde, ebenfalls Ende Juli, bekannt, dass Raffarin eine pauschale Amnestie für Steuerhinterzieher erlassen will: Kapitalbesitzer, die ihr Geld am Fiskus vorbei im Ausland platziert hatten, sollen dafür nachträglich straf- und steuerfrei ausgehen, wenn sie es nunmehr in Frankreich anlegen oder auf der Bank deponieren. Auch viele Politiker der konservativ-liberalen Parlamentsmehrheit rügten ein "fatales doppeltes Symbol", wie der persönliche Ambitionen hegende und deswegen auf Distanz zur Regierungspolitik bedachte Christdemokraten-Chef François Bayrou lautstark hinausposaunte. (Bayrous Partei, die UDF, ist mit einem Minister in der ansonsten durch die Chiracpartei UMP dominierten Regierung vertreten.) Die angekündigte Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns wurde zur Hälfte auf Juli 2005 verschoben. Dabei hätte es sich bei der SMIC-Erhöhung um eine teilweise nur symbolische Maßnahme gehandelt. Durch die 1999/2000 erfolgte Verkürzung der gesetzlichen Regelarbeitszeit von 39 auf 35 Stunden im wöchentlichen Durchschnitt wurde damals die Frage der Konsequenzen für den Mindestlohn aufgeworfen. Der SMIC wird als Stundensatz ausgedrückt, derzeit (seit 1. Juli dieses Jahres) sind es 5,85 Euro netto pro Stunde; deshalb wäre automatisch durch das Arbeitszeitgesetz der Monatslohn der Mindestlohn-Empfänger um 11,4 % gesunken. Um das zu vermeiden, wurde allerdings nicht der SMIC einfach angehoben, sondern der Gesetzgeber garantierte für einige Jahre eine Ausgleichszahlung, die als gesonderter Entlohnungsbestandteil zum Grundlohn dazu kommt. Das hatte zur Auswirkung, dass sich für die Vollzeit-Beschäftigten kaum etwas änderte, abgesehen von der Neuverteilung ihrer Arbeitszeit, während jedoch die Teilzeit-Beschäftigten vollkommen leer ausgingen: Für sie änderte sich weder die Arbeitszeit noch der Lohn. Schon seit 2002 hat die konservative Regierung versprochen, die gesonderte Ausgleichszahlung für den 35-Stunden-Übergang als festen Bestandteil in den gesetzlichen Mindestlohn zu integrieren. Eine unmittelbar lohnerhöhende Wirkung hätte das ausschließlich für Teilzeit-Beschäftigte (sowie für manche nach 2000 Eingestellte) gehabt. Allerdings hätte es vielleicht auch sonstige Lohnverhandlungen erleichtert (indem es für Übersicht gesorgt hätte), und ferner einige seit 1999/2000 bestehende Ungleichheiten beseitigt, denn je nach Datum der Einführung der 35-Stunden-Woche im Betrieb waren die Ausgleichszahlungen nicht genau gleich hoch, so dass es faktisch "mehrere Mindestlöhne" gab. In teilweise demagogischer Manier ("wir werden den Mindestlohn in zwei Jahren, 2003 und 2004, um volle 11,4 Prozent erhöhen... da sage noch mal einer, wir wären nicht sozial in unserer Politik") hatte die Regierung Raffarin nach ihrem Amtsantritt es in Aussicht gestellt: Ab Sommer 2004 sollten die Lohnabhängigen Frankreichs wieder bei einem einheitlichen SMIC-Niveau landen, das die seit vier oder fünf Jahren bestehenden Ausgleichszahlungen in den Mindestlohn integriert. Zum 1. Juli dieses Jahres wäre damit eine nominelle Erhöhung des SMIC um 8 % in¹s Haus gestanden (normalerweise wird der SMIC alljährlich zum 1. Juli neu berechnet, doch der Regierung steht es völlig frei, ihn auch zwischendurch per politische Entscheidung anzuheben). Daraufhin vertröstete Raffarin dann zunächst auf das im Herbst zu verabschiedende Haushaltsgesetz für 2005. Doch mittlerweile wurde, Ende Juli d.J., bekannt, dass der Premierminister die Hälfte der bereits für Juli 2004 versprochenen nominellen SMIC-Anhebung gleich um ein volles Jahr verschoben hat. "Ein fatales Symbol"... Und was rührt sich sonst (dagegen)? Zugute kommt der Regierung derzeit allein die Schwäche und, vor allem, Passivität der Gewerkschaften. Diese hatten im vorigen Jahr (Frühsommer 2003) die Auseinandersetzung um die "Rentenreform" verloren und dabei zugleich, aufgrund ihrer defensiv-zögerlichen Streiktaktik, die Kontrolle über ihre eigene Basis zu verlieren gedroht. Daraufhin zogen sie in diesem Jahr vor, anderen denn symbolischen Protest gleich bleiben zu lassen. Gegen die "Gesundheitsreform" fand eine einzige gewerkschaftliche Demo in Paris statt, am 5. Juni d.J., ohne größere Dynamik. Doch viele Gewerkschaftsmitglieder waren, ohne Aufforderung durch ihren Apparat, im Frühjahr 2004 an übergewerkschaftlichen und parteilichen "Komitees zur Rettung der Sozialversicherung" beteiligt, von denen es zuletzt 500 örtliche Komitees gab. Bei Parlamentsopposition und Gewerkschaftsspitzen ist abwarten angesagt auf 2007, das nächste Wahljahr, bei dem Präsident und Parlament neu bestimmt werden. Bis dahin können die Neokonservativen noch viele schöne "Reformen" durchedrücken. Und können viele Sozialdemokraten sich noch oft die Hände in Unschuld waschen: "Wir hätten es zwar auch gemacht, aber so ist es uns erspart geblieben..." Bernhard Schmid, Paris |