letzte Änderung am 27. Nov. 2002

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Frankreich - Aktionstag am 26. November

Nach einer halben Stunde sah man überhaupt nichts mehr. Der Rauch aus den zahlreichen mitgeführten, rot leuchtenden Signalfacklen der Eisenbahner vermischte sich auf der Pariser Place de Denfert-Rocherau mit dem Nebel, der an diesem Tag ohnehin tief hing. Der lange Demozug setzte sich in einer gespenstischen Waschenküchen-Atmosphäre in Bewegung. Dreieinhalb Stunden würde es dauern, bis der letzte Demonstrant des Zuges, der kurz vor 14 Uhr begonnen hatte, den Platz verlassen haben würde.

50.000 bis 60.000 Demonstranten in Paris, und fast nochmals so viele in weiteren französischen Großstädten, gingen am Dienstag dieser Woche für die Verteidigung der services publics auf die Straße, der öffentlichen Dienste. Die Proteste galten den drohenden Privatisierungsoffensiven der Mitte-Rechts-Regierung, aber auch der anstehenden Debatte über eine ³Reform² der Rentensysteme durch Einführung einer privaten Absicherung, etwa durch Einzahlen in börsennotierte Pensionsfonds. In den öffentlichen Diensten konnten bisher, vor allem aufgrund der Streikwelle im Herbst 1995, relativ vorteilhafte Rentensysteme erfolgreich verteidigt werden. Doch die bürgerlichen Parteien, die bereits im März 1997 ein Gesetz zur Einrichtung solcher Rentenfonds nach US-amerikanischem Vorbild verabschiedet hatten - das kurz darauf durch den Regierungswechsel in die Schublade verbannt wurde -, haben jetzt für die ersten Monate des Jahres 2003 Beschlüsse über die "Zukunft der Renten" angekündigt. Diese werden jedoch nicht ohne erhebliche Widerstände über die Bühne gehen. Zumal die Börsenkrise des zurückliegenden Jahres, durch die viele US-Rentner einen bedeutenden Teil ihrer Altersabsicherung verloren haben, den Neokonservativen das Geschäft erschwert.

Mindestens zwei Drittel der Demoteilnehmer in Paris waren Beschäftigte der Bahngesellchaft SNCF, von denen wiederum der mit Abstand größte Teil der CGT angehörte. Die meisten von ihnen befanden sich allerdings nicht im Streik, sondern hatten sich einen Urlaubstag genommen, um teilweise von Toulouse oder Limoges bis nach Paris zu kommen. Dabei spielte eine Rolle, dass einerseits die CGT keine zu starke Radikalisierung der Bewegung wünschte, andererseits wollen aber auch viele Gewerkschafter an der Basis die "Streikwaffe" - im Hinblick auf mögliche kommende Auseinandersetzungen mit der Regierung - nicht zu schnell stumpf werden lassen.  Aber auch Mitarbeiter von Rathäusern und Ministerien, von öffentlichen Kultureinrichtungen, Krankenhäusern und Post sowie Telekom gingen an diesem Tag zahlreich auf die Straße.. Nicht zuletzt fanden sich auch einige Lehrer, der zahlenmäßige Präsenz allerdings eher symbolisch blieb. Die mit Abstand wichtigste Lehrergewerkschaft hatte eine zu starke Politisierung und Radikalisierung der Bewegung befürchtet, falls sie auf alle öffentlichen Sektoren übergreife. Daher ruft die FSU-Bürokratie zu einer eigenen Demonstration an einem Sonntag - dem 8. Dezember - auf. Die Pariser Sektionen der Lehrerorganisation hatten allerdings diese faktische Spaltung verweigert und sich, auf regionaler Ebene, der gestrigen Demonstration angeschlossen.  

Mindestens drei Unglückliche gab es aber auch am Rande der Pariser Großdemonstration. Die drei sozialdemokratischen Ex-Minister Daniel Vaillant, Elisabeth Guigou und Ségolène Royale hatten sich flugs in die Demospitze einreihen wollen. Der erstgenannte hatte von 1999 bis 2002 als Innenminister amtiert, Madame Guigou war in der Regierung Lionel Jospins erst Justiz- und dann Sozialministerin, und Ségolène Royale war damals für Teilbereiche des Schulwesens zuständig. Doch viele Demonstranten waren damit nicht sehr einverstanden und riefen in Sprechchören: "Hinaus ! Hinaus !" Daniel Vaillant kommentierte daraufhin auf den Fluren des Parlaments, der Empfang durch die CGT-Führung sei "warmherzig" gewesen, "aber eine bestimmte Anzahl von Personen, die vielleicht radikaler sind, haben Dinge über die fünf Jahre Regierung gesagt." So ein Unglück aber auch: Da regiert man fünf Jahre lang und betreibt eine in wesentlichen Teilen neoliberale Politik - und dann gibt es Leute, die die Unverschämtheit besitzen, sich daran zu erinnern.

Ihre konservativ-liberalen Amtsnachfolger unter Premierminister Jean-Pierre Raffarin hatten in den ersten sechs Monaten seit den Wahlen im Frühjahr alles daran gesetzt, das Szenario des Streikherbst von 1995 nicht zu wiederholen. Die Erinnerung an die damalige Protestwelle, die sich gegen die Demontage der Sozialversicherungs- und Rentensysteme durch die konservative Regierung von Alain Juppé richtete, sitzt ihnen wie ein Albtraum im Nacken.

Daher bewegte man sich monatelang fast wie auf rohen Eiern, sofern es um sozial- und wirtschaftspolitische Fragen ging. Auf jeden Fall versuchte man tunlichst zu vermeiden, dass es zu Konvergenzen zwischen verschiedenen sozialen Widerstanspotenzialen komme, wie das 1995 der Fall war. Zwar leitete das Kabinett eine Reihe sozialer Rückwärtsentwicklungen auf jeweils klar umgrenzten Gebieten ein. So wurde die 35-Stunden-Reform der Vorgängerregierung - so kritikwürdig diese war, da sie oftmals vor allem als Einfallstor für die Einführung variabler Arbeitszeiten und verstärkter Flexibilisierung diente - für die Beschäftigten in Kleinbetrieben (unter 20 Mitarbeitern) faktisch ausgehebelt. Denn die Höchstzahl zulässiger Überstunden im Jahr wurde per Regierungsdekret hochgesetzt. Diese Lohanbhängigen waren bisher ohnehin nicht in den "Genuss" der Reform gekommen, da deren Einführung in den Kleinbetrieben bereits unter Jospin verschoben worden war. Die Beschäftigten in diesen Mikrobetrieben weisen aber das mit Abstand geringste Widerstandspotenzial auf, da dieser Sektor mittlerweile so gut wie "gewerkschaftsfrei" ist. Und für die übrigen Beschäftigten ändert sich kaum etwas durch den Regierungsbeschluss. Zumal bereits die Reform der Vorgängerregierung eine Art "Balkanisierung" des Arbeitsrechts festgeschrieben hatte, da ihre konkrete Umsetzung unter dem Vorbehalt von einzelbetrieblichen Vereinbarungen unter "Sozialpartnern" steht. Eine breite soziale Widerstandsfront konnte sich daran nicht herausbilden.

In den letzten Wochen jedoch ließen führende bürgerliche Politiker eine Reihe von Testballons aufsteigen, um die Reaktionen auszutesten. Sozialminister François Fillon erklärte am 4. November, die geltenden Vorruhestands-Regelungen seien "eine Katastrophe für die nationale Ökonomie", und die Franzosen müssten sich allgemein auf längere Beitragszeiten für die Rente vorbereiten. Noch in derselben Woche wurde die Vorruhestandsregel im öffentlichen Dienst abrupt und ohne Vorwarnung durch die Regierung aufgekündigt. Wenige Tage vor Fillons Vorstoß hatte der Fraktionsvorsitzende der neuen konservativen Einheitspartei UMP, Jacques Barrot - der selbst 1995 bis 97 Sozialminister gewesen war - angeregt, die gesetzliche Krankenversicherung solle sich künftig auf "schwere Krankheiten" beschränken. Den Rest solle eine private Absicherung übernehmen - für jene, die sich das leisten können und wollen.

Die Phase relativer Ruhe an der sozialen "Front" könnte daher bald vorüber sein - wenn die großen Gewerkschaftsorganisationen aus ihrer anfänglichen abwartenden Passivität herauskommen. Wenn sie derzeit aktiver weden, so könnte das noch an den "Sozialwahlen" vom 11. Dezember liegen (bei denen mit Laien besetzen Arbeitsgerichte gewählt werden) - die Organisationen befinden sich derzeit im Wahlkampf. Danach wird man sehen, wie es um die sozialen Widerstände wirklich bestellt ist.

Bernhard Schmid, Paris

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