Frankreich - Aktionstag am 26. November
Nach einer halben Stunde sah man überhaupt nichts mehr. Der Rauch aus
den zahlreichen mitgeführten, rot leuchtenden Signalfacklen der Eisenbahner
vermischte sich auf der Pariser Place de Denfert-Rocherau mit dem Nebel, der
an diesem Tag ohnehin tief hing. Der lange Demozug setzte sich in einer gespenstischen
Waschenküchen-Atmosphäre in Bewegung. Dreieinhalb Stunden würde
es dauern, bis der letzte Demonstrant des Zuges, der kurz vor 14 Uhr begonnen
hatte, den Platz verlassen haben würde.
50.000 bis 60.000 Demonstranten in Paris, und fast nochmals so viele in weiteren
französischen Großstädten, gingen am Dienstag dieser Woche für
die Verteidigung der services publics auf die Straße, der öffentlichen
Dienste. Die Proteste galten den drohenden Privatisierungsoffensiven der Mitte-Rechts-Regierung,
aber auch der anstehenden Debatte über eine ³Reform² der Rentensysteme
durch Einführung einer privaten Absicherung, etwa durch Einzahlen in börsennotierte
Pensionsfonds. In den öffentlichen Diensten konnten bisher, vor allem aufgrund
der Streikwelle im Herbst 1995, relativ vorteilhafte Rentensysteme erfolgreich
verteidigt werden. Doch die bürgerlichen Parteien, die bereits im März
1997 ein Gesetz zur Einrichtung solcher Rentenfonds nach US-amerikanischem Vorbild
verabschiedet hatten - das kurz darauf durch den Regierungswechsel in die Schublade
verbannt wurde -, haben jetzt für die ersten Monate des Jahres 2003 Beschlüsse
über die "Zukunft der Renten" angekündigt. Diese werden
jedoch nicht ohne erhebliche Widerstände über die Bühne gehen.
Zumal die Börsenkrise des zurückliegenden Jahres, durch die viele
US-Rentner einen bedeutenden Teil ihrer Altersabsicherung verloren haben, den
Neokonservativen das Geschäft erschwert.
Mindestens zwei Drittel der Demoteilnehmer in Paris waren Beschäftigte
der Bahngesellchaft SNCF, von denen wiederum der mit Abstand größte
Teil der CGT angehörte. Die meisten von ihnen befanden sich allerdings
nicht im Streik, sondern hatten sich einen Urlaubstag genommen, um teilweise
von Toulouse oder Limoges bis nach Paris zu kommen. Dabei spielte eine Rolle,
dass einerseits die CGT keine zu starke Radikalisierung der Bewegung wünschte,
andererseits wollen aber auch viele Gewerkschafter an der Basis die "Streikwaffe"
- im Hinblick auf mögliche kommende Auseinandersetzungen mit der Regierung
- nicht zu schnell stumpf werden lassen. Aber auch Mitarbeiter von Rathäusern
und Ministerien, von öffentlichen Kultureinrichtungen, Krankenhäusern
und Post sowie Telekom gingen an diesem Tag zahlreich auf die Straße..
Nicht zuletzt fanden sich auch einige Lehrer, der zahlenmäßige Präsenz
allerdings eher symbolisch blieb. Die mit Abstand wichtigste Lehrergewerkschaft
hatte eine zu starke Politisierung und Radikalisierung der Bewegung befürchtet,
falls sie auf alle öffentlichen Sektoren übergreife. Daher ruft die
FSU-Bürokratie zu einer eigenen Demonstration an einem Sonntag - dem 8.
Dezember - auf. Die Pariser Sektionen der Lehrerorganisation hatten allerdings
diese faktische Spaltung verweigert und sich, auf regionaler Ebene, der gestrigen
Demonstration angeschlossen.
Mindestens drei Unglückliche gab es aber auch am Rande der Pariser Großdemonstration.
Die drei sozialdemokratischen Ex-Minister Daniel Vaillant, Elisabeth Guigou
und Ségolène Royale hatten sich flugs in die Demospitze einreihen
wollen. Der erstgenannte hatte von 1999 bis 2002 als Innenminister amtiert,
Madame Guigou war in der Regierung Lionel Jospins erst Justiz- und dann Sozialministerin,
und Ségolène Royale war damals für Teilbereiche des Schulwesens
zuständig. Doch viele Demonstranten waren damit nicht sehr einverstanden
und riefen in Sprechchören: "Hinaus ! Hinaus !" Daniel Vaillant
kommentierte daraufhin auf den Fluren des Parlaments, der Empfang durch die
CGT-Führung sei "warmherzig" gewesen, "aber eine bestimmte
Anzahl von Personen, die vielleicht radikaler sind, haben Dinge über die
fünf Jahre Regierung gesagt." So ein Unglück aber auch: Da regiert
man fünf Jahre lang und betreibt eine in wesentlichen Teilen neoliberale
Politik - und dann gibt es Leute, die die Unverschämtheit besitzen, sich
daran zu erinnern.
Ihre konservativ-liberalen Amtsnachfolger unter Premierminister Jean-Pierre
Raffarin hatten in den ersten sechs Monaten seit den Wahlen im Frühjahr
alles daran gesetzt, das Szenario des Streikherbst von 1995 nicht zu wiederholen.
Die Erinnerung an die damalige Protestwelle, die sich gegen die Demontage der
Sozialversicherungs- und Rentensysteme durch die konservative Regierung von
Alain Juppé richtete, sitzt ihnen wie ein Albtraum im Nacken.
Daher bewegte man sich monatelang fast wie auf rohen Eiern, sofern es um sozial-
und wirtschaftspolitische Fragen ging. Auf jeden Fall versuchte man tunlichst
zu vermeiden, dass es zu Konvergenzen zwischen verschiedenen sozialen Widerstanspotenzialen
komme, wie das 1995 der Fall war. Zwar leitete das Kabinett eine Reihe sozialer
Rückwärtsentwicklungen auf jeweils klar umgrenzten Gebieten ein. So
wurde die 35-Stunden-Reform der Vorgängerregierung - so kritikwürdig
diese war, da sie oftmals vor allem als Einfallstor für die Einführung
variabler Arbeitszeiten und verstärkter Flexibilisierung diente - für
die Beschäftigten in Kleinbetrieben (unter 20 Mitarbeitern) faktisch ausgehebelt.
Denn die Höchstzahl zulässiger Überstunden im Jahr wurde per
Regierungsdekret hochgesetzt. Diese Lohanbhängigen waren bisher ohnehin
nicht in den "Genuss" der Reform gekommen, da deren Einführung
in den Kleinbetrieben bereits unter Jospin verschoben worden war. Die Beschäftigten
in diesen Mikrobetrieben weisen aber das mit Abstand geringste Widerstandspotenzial
auf, da dieser Sektor mittlerweile so gut wie "gewerkschaftsfrei"
ist. Und für die übrigen Beschäftigten ändert sich kaum
etwas durch den Regierungsbeschluss. Zumal bereits die Reform der Vorgängerregierung
eine Art "Balkanisierung" des Arbeitsrechts festgeschrieben hatte,
da ihre konkrete Umsetzung unter dem Vorbehalt von einzelbetrieblichen Vereinbarungen
unter "Sozialpartnern" steht. Eine breite soziale Widerstandsfront
konnte sich daran nicht herausbilden.
In den letzten Wochen jedoch ließen führende bürgerliche Politiker
eine Reihe von Testballons aufsteigen, um die Reaktionen auszutesten. Sozialminister
François Fillon erklärte am 4. November, die geltenden Vorruhestands-Regelungen
seien "eine Katastrophe für die nationale Ökonomie", und
die Franzosen müssten sich allgemein auf längere Beitragszeiten für
die Rente vorbereiten. Noch in derselben Woche wurde die Vorruhestandsregel
im öffentlichen Dienst abrupt und ohne Vorwarnung durch die Regierung aufgekündigt.
Wenige Tage vor Fillons Vorstoß hatte der Fraktionsvorsitzende der neuen
konservativen Einheitspartei UMP, Jacques Barrot - der selbst 1995 bis 97 Sozialminister
gewesen war - angeregt, die gesetzliche Krankenversicherung solle sich künftig
auf "schwere Krankheiten" beschränken. Den Rest solle eine private Absicherung
übernehmen - für jene, die sich das leisten können und wollen.
Die Phase relativer Ruhe an der sozialen "Front" könnte daher
bald vorüber sein - wenn die großen Gewerkschaftsorganisationen aus
ihrer anfänglichen abwartenden Passivität herauskommen. Wenn sie derzeit
aktiver weden, so könnte das noch an den "Sozialwahlen" vom 11. Dezember
liegen (bei denen mit Laien besetzen Arbeitsgerichte gewählt werden) -
die Organisationen befinden sich derzeit im Wahlkampf. Danach wird man sehen,
wie es um die sozialen Widerstände wirklich bestellt ist.
Bernhard Schmid, Paris