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Updated: 18.12.2012 15:51
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Frankreich: Neue Regierung in "reformerischer" Kontinuität. Nicolas Sarkozy kehrt im Kampfanzug zurück an den Kabinettstisch

Mein bester Feind im Kabinett: Nach diesem Motto verfuhr Jacques Chirac bei seiner Regierungsumbildung am Dienstag. Diese folgte auf den Rücktritt von Premierminister Jean-Pierre Raffarin, der nach der schweren Niederlage der französischen Regierung - und des Präsidenten selbst - beim Referendum vom Sonntag notwendig geworden war. Aber auch aufgrund der Rekordwerte an Unpopularität, die Raffarin seit Monaten erreicht und immer wieder selbst übertroffen hat. (Zuletzt blieben ihm in den Umfragen noch 20 Prozent Zustimmung, das dürften die Besserverdienenden und die unpolitischen Regenbogenzeitschriften-Leser sein.) Dabei diente der ehemalige Werbefachmann aus der westfranzösischen Provinz freilich nur als Prügelknabe für Chirac, der selbst im Amt zu bleiben gedenkt, obwohl in den letzten Tagen Rufe nach seinem Rücktritt lauter zu werden beginnen, und für die antisoziale Politik der gesamten bürgerlichen Rechten. Raffarin bezahlt den geballten Unmut für die regressiven "Reformen" der Renten und der Krankenversicherung, die Privatisierung etwa der Energieversorgungsunternehmen und andere Einschnitte, die in seiner Regierungszeit in den letzten drei Jahren realisiert wurden.

Die neoliberale, "reformerische" Grundrichtung wird freilich beibehalten werden. Dafür bürgt die Ernennung eines der engsten Mitarbeiter Chiracs: Dominique de Villepin, der sieben Jahre lang sein Präsidialamt leitete, bevor er 2002 Außen-, später Innenminister wurde. Aber auch weiterhin wird sie nicht die offizielle Philosophie der Regierung darstellen, die ihr heuchlerisches Bekenntnis "zum französischen Sozialmodell" beibehält: Präsident Chirac hat in seiner Fernsehansprache vom Dienstag abend bekräftigt, angeblich bestehende soziale Errungenschaften bewahren und verteidigen zu wollen. In den letzten drei Jahren wurden sie bevorzugt "bewahrt", indem man sie "den Gegebenheit der Zeit anpasst", das heißt demontiert. Als Priorität der künftigen Regierungsarbeit, in den verbleibenden 23 Monaten bis zur nächsten Präsidentenwahl, bezeichnete Chirac mehrfach "die Beschäftigungspolitik". Damit ist jedoch in erster Linie eine Erhöhung der Kontrolle von Erwerbslosen bei ihrer Arbeitsplatzsuche im Visier, die zu einer Senkung der Arbeitslosenzahlen (derzeit gut 10 Prozent nach "bereinigten" Statistiken) beitragen soll.

Chiracs bester Feind im Kabinett

Im Hintergrund steht freilich ein Mann, dem diese Doppelbödigkeit nicht gefällt, sondern der ein offensives Bekenntnis zur Abschaffung bestehender Marktregulierungen und zum Schleifen von Arbeits- und Sozialgesetzgebungen einfordert. Nicolas Sarkozy - der alte und voraussichtlich neue starke Mann des Kabinetts - hatte während des Wahlkampfs vor der Abstimmung vom Sonntag offen ausgesprochen, dass die EU-Verfassung eine gute Gelegenheit zum brachialen "Umbau unseres Sozialmodells" darstelle. Denn es sei "nicht mehr das beste", da es im Gegensatz zum britischen Modell nicht genügend Beschäftigungsmöglichkeiten schaffe. Deshalb müssten endlich noch mehr prekäre Arbeitsverhältnisse, noch mehr Flexibilität und Arbeitszwang für die Erwerbslosen her

Nicolas Sarkozy alias "Iznogoud" ­ "Ich-will-unbedingt-Kalif-am-Platze-des-Kalifen-werden" ­ schien es egal zu sein, dass er damit den Ausgang des Referendums gefährdete. Denn eine schwere Niederlage Chiracs, so sein Kalkül, würde diesem eine Bewerbung um eine dritte Amtsperiode ab 2007 unmöglich machen. Also wäre endlich der Weg frei für den ehrgeizigen 50jährigen, der schon vor zwei Jahren seine Ambitionen auf eine Präsidentschaftskandidatur offen verkündet hat. Gleichzeitig wären mit diesem Diskurs die Grundlagen für eine rechte Kampfkandidatur gelegt. Sarkozys Profil entspricht dem einer neuen "kämpferischen" Rechten, deren Modell Silvio Berlusconi heißen könnte: Pro-Atlantiker in der Außenpolitik, autoritär in der Innenpolitik, marktradikal in der Wirtschaftspolitik und populistisch im Auftreten. (Der Name des Mannes wird übrigens keineswegs, wie im deutschen Fernsehen üblich, "Sarkoooosi" ausgesprochen, sondern "Sarkosiiiiii".)

Weichenstellung

Offen blieb bis Anfang dieser Woche, ob Chirac dennoch Sarkozy erneut in die Regierung holen würde. Es wurde sogar über seine Ernennung zum Premierminister spekuliert, die einen geschickten Schachzug des alten Fuchses Chirac dargestellt hätte. Denn in diesem Fall wäre Sarkozy schon jetzt unmittelbar in die politische Verantwortung für die sozialen Konsequenzen der Regierungspolitik genommen worden. Bis zur Präsidentschaftswahl in zwei Jahren wäre er mutmaßlich bereits hinreichend "belastet" gewesen, um als gefährlicher Herausforderer neutralisiert zu werden und "ausgebrannt" zu enden.

Eine solche Taktik nennt man auch "Rocardisierung" oder "Balladurisierung", da dieses bittere Schicksal dem sozialdemokratischen Premierminister Michel Rocard (1988 bis 91) und dem konservativen Großbürger Edouard Balladur (Premier von 1993 bis 95) widerfuhr. Beide ließen ihre jeweiligen politischen Hintermänner bewusst gegen die Wand fahren: Rocard wurde durch den "sozialistischen" Präsidenten und Quasi-Monarchen François Mitterrand entsprechend verheizt. Im Falle Balladurs war es sein damaliger neogaullistischer Parteichef Jacques Chirac, der nach der Parlamentswahl vom März 1993 "großzügig" auf das Amt des Premierministers (unter Mitterrand) verzichtete, um sich selbst für die Präsidentschaftswahl zwei Jahre später bereit zu halten. Am Ende traten Balladur und Chirac gegeneinander zur Präsidentenwahl von 1995 an. Und Chirac pflanzte seinem Rivalen erfolgreich einen Dolch in den Rücken, indem er mit einem sozialdemagogischen Oppositionsdiskurs auftrat und so tat, als trage er selbst keinerlei Verantwortung für die neoliberale "Reform"-Dampfwalze. Der Mann, der heute den Präsidentensessel bekleidet, kennt sich also aus.

Heute freilich wäre eine solche Operation politisch höchst riskant: Chirac könnte heute kaum noch so tun, als trage er keinerlei Verantwortung für die reale Politik und ihre "Reformen", und ist durch das Ergebnis des Referendums vom 29. Mai 2005 unmittelbar getroffen. Insofern hätte der Versuch, nunmehr auch noch Sarkozy zu "balladurisieren", zwar vielleicht Erfolg ­ angesichts der aktuellen sozialen und politischen Krise hätte er aber vielleicht die gesamte politische Rechte "herunter gezogen" und schwer angeschlagen zurückgelassen. Ihr einziger Hoffnungsschimmer wäre dann noch gewesen, dass die französische Sozialdemokratie ihrerseits noch schlimmer vom Ausgang der Abstimmung vom vorigen Sonntag getroffen wurde: Die Partei war im Vorfeld völlig gespalten. Ihre momentane Führung, fast die gesamte ehemalige Ministerregie und der größte Teil der Parteirechten (mit Ausnahme des taktisch klugen Ex-Premierministers Laurent Fabius und seiner Umgebung) hatten zum "Ja"-Stimmen aufgerufen. Dagegen stimmten 59 Prozent der sozialistischen WählerInnen ihrerseits mit "Non". Die letzten Wochen lassen den Parti Socialiste (PS) als einen rauchenden Trümmerhaufen zurück. Und im Herbst dieses Jahres droht ihm ein Kongress, auf dem mindest im übertragenen Sinne Blut fließen wird ­ fragt sich bisher nur, auf welcher Seite. Die Schwäche der Sozialdemokratie könnte die Hoffnung der Konservativen für 2007 sein.

Weitere Aussichten

Aber dass Sarkozy jetzt erneut den Posten des Innenministers bekleiden wird, den er bereits von 2002 bis 2004 innehatte, signalisiert eine andere Weichenstellung als die Option der "Balladurisierung".

Denn in diesem Amt kann Sarkozy voraussichtlich auch weiterhin politische Punkte sammeln: Mit seinem Aktivismus in Sachen "Innere Sicherheit" kann der Mann durchaus auf Popularität hoffen. Auch in Teilen der sozialen Unterschichten, da die zerrütteten Lebensverhältnisse in den "sozialen Problemvierteln" tatsächlich für ein gewisses Unsicherheitsgefühl ­ das allerdings größtenteils ideologisiert und von jeglicher realen Kriminalitätsentwicklung abgekoppelt ist ­ sorgen.

Exkurs: Sarkozy und die "Innere Sicherheit"

Vor allem im Vorfeld der letzten Präsidentschaftswahl vom 21. April 2002 war, circa ein Jahr lang, die Frage der "Inneren Sicherheit" durch alle Medien und auf allen Kanälen zum alles überschattenden Megathema aufgebaut worden. Den Startschuss dazu gab die Nationalfeiertagsrede von Chirac am 14. Juli 2001. In den kommenden Monaten taten von den Sozialdemokraten über die Konservativen bis zu den Rechtsextremen alle (nicht-marxistischen) Parteien so, als sei die "Unsicherheit" eines der drängendsten Zukunftsthemen überhaupt.

Dabei wurde dieser Begriff, in seiner ideologischen Vermittlung durch die Medien und durch die Alltagsideologie, zur allgemeinen Chiffre für alle möglichen Aspekte der Zukunftsangst. D.h. die vorwiegend sozial motivierten Ängste wurden durch den Begriff des "Unsicherheitsgefühls" quasi aufgesaugt. Nehmen wir einen Vertreter der sozialen Unterschichten, der jeden Tag Dutzende Kilometer zur (prekären) Arbeit und zurück fahren muss, da er in der Nähe keinen Job findet, und gleichzeitig jeden Tag vor einer möglichen Entlassung oder einem Ende seines befristeten Vertrages oder Zeitarbeitsvertrages zittert. Ihm lässt sich (unter Zuhilfenahme entsprechend suggestiver Bilder von brennenden Autos aus den Banlieues auf allen Kanälen, die ja nicht einmal gefälscht sein müssen) u.U. einreden, die größte Angst, die er hegen müsse, sei, dass jemand sein Auto anzündet. Die Angst vor Sanktionierung, vor Job- und Existenzverlust können sich tatsächlich rund um diese Bedrohungs-Vorstellung kristallisieren, wenn sie im gesamten öffentlichen Diskurs ins Zentrum gerückt wird.

Daraus resultiert der Ausgang der Präsidentschaftswahl von 2002, daraus resultiert das damalige hohe Abschneiden der (selbst bereits in der Krise befindlichen) extremen Rechten. Und darauf basierte eben auch der Erfolg von "Superminister" und Ober-Ankündigungspolitiker Nicolas Sarkozy, der nach seiner Ernennung im Mai 2002 mit seinem Hyperaktivismus in Sachen "Sicherheit" alle Fernsehstudios besetzte.

Ein relevantes Problemchen gibt es dabei freilich noch: Ein Schaubild, das vom "Figaro-Magazine" (Wochenendbeilage der konservativen Tageszeitung "Le Figaro") vom 13. Mai 2005 veröffentlicht wurde, zeigt die Konjunktur der beiden Themen "Innere Sicherheit" und "Arbeitsplätze". Dabei kann man deutlich erkennen, dass kurz vor der letzten Präsidentschaftswahl von 2002 ein steiler Ausschlag der Nennung des Themas "Unsicherheit" nach oben zu verzeichnen ist. Befragt, welches Problem im künftigen Regierungshandeln Priorität haben müsse, nennen damals 60 Prozent die "Innere SicherheitŒ und nur gut 20 Prozent "Beschäftigung". (Deswegen konnte der Sozialdemokrat Lionel Jospin damals die Wahl gegen die Rechten unterschiedlicher Couleur nur verlieren, wenn man die Abwendung der Linkswählerschaft von der neoliberalen Politik seiner Regierung hinzu nimmt: Jospin konnte in der "Mitte" und rechts nicht hinzugewinnen, was er in der eigenen Stammwählerschaft der Linken aufgrund der Sozial- und Wirtschaftspolitik verlor.) Aber bereits seit dem Jahresbeginn 2003 haben sich die Kurven der beiden Themen überschnitten, da das soziale Thema "Arbeitsplätze" aus Sicht der Befragten stetig an Bedeutung gewonnen hat. Und bei der letzten Umfrage, im Mai 2005, nannten nur 10 Prozent das Thema "Innere Sicherheit" als prioritär, hingegen antworteten 55 Prozent "Arbeitsplätze". Insofern bleibt abzuwarten, ob "Superminister" Sarkozy dieses Thema wieder nach oben bringen kann, oder ob seine bisherige Erfolgsmasche sich jetzt in Bälde abgenutzt hat.

Sarkozys politische Zukunft

Für die Weichenstellungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik wird Sarkozy dagegen nicht direkt verantwortlich gemacht werden. Zumal der Mann nicht zögern wird, wie auch bisher in den Medien so aufzutreten, als wäre er der schärfste Kritiker der eigenen Regierung.

Chirac scheint also dahingehend resigniert zu haben, dass er seinen wahrscheinlichen Nachfolger als Chef der bürgerlichen Rechten sich in Ruhe aufbauen lässt. Es sei denn, dass die beiden ehrgeizigen Herren Villepin und Sarkozy sich nun im Kabinett gegenseitig zerfleischen.

Darin liegt vielleicht die letzte Hoffnung Chiracs: Dass sich die beiden "Krokodile" (so die Tagespresse vom 1. Juni) gegenseitig in Schach halten. Sarkozy hat bereits dem neuen Regierungschef signalisiert, dass er nicht bereit ist, ins zweite Glied zu treten - indem er selbst (und nicht der frisch designierte Regierungschef) seinen erneuten Einzug ins Innenministerium in allen Medien hinausposaunte, während noch nicht einmal die Namen der übrigen Minister und Staatssekretäre bekannt sind.

Ansonsten steht Sarkozy aller Voraussicht nach der Weg für die politische Zukunft offen. Aber möglicherweise bedeutet diese Regierungsbildung bereits das Signal, dass der ­ vom Ausgang des Referendums als politische Figur schwer getroffene ­ Chirac den Aufstieg seines schärfsten Konkurrenten als aussichtsreichste Zukunftsvariante für die Rechte nunmehr hinnimmt. Vielleicht hat Chirac ja erkannt, dass sein persönliches politisches Schicksal seit dem vorigen Sonntag besiegelt ist.

Ob Sarkozys derzeitige, in den Medien breit verhandelte Eheprobleme ­ seine Frau und Beraterin ist vorige Woche mit einem Werbefachmann nach Jordanien durchgebrannt ­ ihm eher schaden oder eher Sympathie (Stichwort "Mitleidsfaktor") eintragen, wird sich erweisen müssen. Dagegen wird man darauf vertrauen dürfen bzw. müssen, dass Sarkozy sich auch weiterhin als "großer Kommunikator" (nicht Conducator, das war Ceaucescu) erweisen wird, der seine Person auf allen Kanälen in den Mittelpunkt rückt.

Die Kabinettsliste wird in der zweiten Wochenhälfte bekannt gegeben werden. Die genaue Zusammensetzung der Regierung dürfte man spätestens mit der ersten Sitzung des Ministerrats am Freitag vormittag kennen.

Bernhard Schmid (Paris)


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