letzte Änderung am 17. Sept. 2002

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"Die Rückkehr der Sans-papiers als gesellschaftliche Bewegung"

Am Anfang fehlte es vor allem an Information. Am Rande einer Demonstration auf dem Pariser Platz der Menschenrechte am 1. September lieferten sich einige afrikanische und chinesische Immigranten handgreiflichen Streit. Der Grund waren die Flugblätter, die eine ex-maoistische "Organisation politique", sie versucht seit einiger Zeit vor allem unter Immigranten zu agitieren, Minuten zuvor verteilt hatte. Handelte es sich um die ersehnten
Papiere, in die man sich einschreiben musste, um Aufenthaltstitel von Behörden zu bekommen? Hatten die Dokumente amtlichen Wert ? Viele schienen es zu glauben, und falteten die - nach dem Gerangel teilweise zerrupften - Blätter sorgfältig in ihre Tasche. Einige sind des Lesens unkundig.

Das war vor wenigen Wochen. Inzwischen hat sich die Bewegung sichtbar politisiert, und die meisten Hauptbetroffenen haben verstanden, was es bedeutet, sich in einem Kollektiv "papierloser" oder, nach herrschender Diktion, "illegaler" Einwanderer zu engagieren. Und was es heißt, von der Straße aus Forderungen an den Staat zu formulieren und Druck für deren Durchsetzung zu entfalten. In allen Versammlungen und Demozügen werden kollektive Forderungen artikuliert, und die Illusionen über eine rasche individuelle Regelung sind verflogen.

Sichtbar ist der Sinneswandel vor allem in der chinesischen Immigrationsbevölkerung. Sie galt bis vor einigen Jahren als die stillste und unauffälligste Immigrantengruppe, die meist unter sich blieb und sich von politischer Betätigung eher fernhielt. Einer der Gründe liegt darin, das
die chinesischen illegalen Einwanderer vor allem durch Familienangehörige ausgebeutet werden, in Kleinbetrieben und Restaurants, um die Reisekosten abzubezahlen. Doch die Stille ist vorbei. Seit 1996 haben sich mehrere Generationen von Kollektiven "illegaler" chinesischer Einwanderer gebildet. Auch die neueste Mobilisierung hat wieder zu einem gewissen Politisierungsschub geführt. Auf Französisch und Chinesisch werden Demoparolen skandiert.

"Die Rückkehr der Sans-papiers" übertitelte die Pariser Abendzeitung 'Le Monde' ihre Ausgabe vom 31. August. Damals war die Kirchenbesetzung durch "papierlose" Immigranten in der Pariser Vorstadt Saint-Denis zwei Wochen alt. Tatsächlich hat die Bewegung der papierlosen Einwanderer in Frankreich in den letzten anderthalb Monaten einen spürbaren Neuaufschwung genommen. Die Pariser Großdemonstration vom 7. September wurde mit 12.000 Teilnehmern ein großer Erfolg.



Von der Rechts- zur Links- zur neuen Rechtsregierung

In den vorangegangenen drei Jahren war die Sans-papiers-Bewegung Zersplitterungs- und Erosionserscheinungen ausgesetzt gewesen. Die Hauptursache dafür lag wohl in der geschickten Politik des "Teile und herrsche", welche der linksnationalistische Innenminister Jean-Pierre Chevènement zwischen 1997 und 2000 eingeführt hatte.

Eine breite Bewegung aus Selbstorganisationen der Sans-papiers und UnterstützerInnen - aus der Linken, aber auch unter Beteiligung von prominenten Künstlerinnen und Intellektuellen - hatte Mitte der Neunziger Jahre die konservative Vorgängerregierung von Alain Juppé unter erheblichen Druck gesetzt. Die gesellschaftliche Solidarität, die sich rund um die Sans-papiers bildete, hatte am Ende sogar zu nicht unterheblichen Teilen zur Niederlage der Juppé-Regierung beigetragen. Denn angesichts einer breiten Front sozialer Widerstände, die sich zwischen 1995 und 1997 auftat, hatte das Mitte-Rechts-Kabinett am Schluss vor allem auf die rassistische Karte gesetzt. Neue repressive Ausländergesetze sollten verlorene Sympathie zurückbringen und die Angstgefühle von Teilen der Bevölkerung schüren. Doch das Heraustreten der "Illegalen" aus der Anonymität und ihr Auftritt als selbstbewusste Subjekte, statt als vermeintliche anonyme Bedrohung, erlaubte Identifikation mit ihrem Kampf. Die Rechnung Juppés und seines Innenministers Jean-Louis Debré ging nicht auf. Die Rechte provozierte Neuwahlen und lief in die Niederlage.

Doch nach dem Regierungswechsel im Juni 1997 praktizierte Chevènement eine geschickte Politik des Auseinanderdividierens. Eine allgemeine "Legalisierungsoperation" für alle ImmigrantInnen ohne gültigen Aufenthaltstitel sollte es nicht geben, wie dies noch unter der Linksregierung 1981 der Fall war - damals waren 132.000 "illegale" Einwanderer zu Aufenthaltstiteln gekommen. Dieses Mal sollte es vielmehr eine Einzelfallprüfung geben.

Insgesamt erhielten von 150.000 Antragsteller unter der Jospin-Regierung gut die Hälfte die ersehnte "Legalisierung", die andere Hälfte ging leer aus - damit sollte eine Botschaft an die linke wie an die rechte Wählerschaft gleichzeitig ausgesandt werden.

Die Kollektive und Koordinationen der Sans-papiers wurden dadurch erfolgreich gespalten. Das heißt nicht, dass es in den letzten Jahren keine Kämpfe gegeben hätte. Vor allem auf regionaler Ebene blieben "harte Kerne" der Sans-papiers-Bewegung sehr aktiv. Im Jahr 2001 wurden so harte Kämpfe - mit Hungerstreiks, Besetzungen und teilweise scharfen Polizeieinsätzen – in den regionalen Kampfzentren Lille und Nantes geführt. Dort ging es darum, örtlichen Sans papiers-Kollektiven das Recht auf ein Lokal zu erkämpfen, nachdem städtische und staatliche Behörden ihre diesbezüglichen Versprechungen nicht eingehalten hatten. Zugleich lief in Lyon, mit der Besetzung des Hôtel de Nice, ein monatelanger Kampf um "Legalisierung" von rund 150 Betroffenen - darunter viele Algerier und Kosovaren -, die sich mehrere Wochen lang im Hungerstreik befanden. Auf landesweiter Ebene aber war die Bewegung zugleich zersplittert.


Neue Bewegung im August 2002

Das änderte sich jetzt, am Ende des Hochsommers 2002. Am 17. August besetzten in diesem Jahr Sans-papiers die große Basilika von Saint-Denis. Dies geschah mit dem Einverständnis des Priesters in dem Dom, unter dem mehrere Generationen französischer Könige beerdigt sind - weshalb es Ende August auch mehrmals zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit rechten monarchistischen Gruppierungen kam, die eine solche "Schändung der Königsgruft" beklagten. Die Kirche hingegen unterstützte, aus humanistischen Motiven, die Besetzung - das war eine Eigeninitiative der Gemeinde in der Pariser Vorstadt Saint-Denis, aber die offiziellen Stellungnahmen der Hierarchie sprachen sogar ebenfalls einem humanistischen Umgang mit den Sans-papiers das Wort. Der Gemeindepriester des Doms von Saint-Denis, Bernard Berger, ist deswegen am Wochenende des 15. September durch Rassisten tätlich angegriffen worden, die ihm explizit die Aufnahmeder Sans-papiers vorwarfen. Die Nationale Koordination der Sans-papiers verurteilte die Aggression in einer offiziellen Stellungnahme, und führte am Abend des Montag (16. September) eine Solidaritätskundgebung vor der Basilika von Saint-Denis durch.

Im August hatte die Koordination der Sans-papiers im Département 93 (in der nördlichen Banlieue, wo auch Saint-Denis liegt) die "illegalen" Einwanderer aufgefordert, sich in der Kirche in Listen einzutragen, um einen kollektiven Antrag auf Aufenthaltspapiere zu stellen. Der "harte Kern" derer, die da kommen, besteht aus Leuten, die der "Legalisierungsoperation" unter der Jospin-Regierung leer ausgingen. Freilich sind in den letzten vier Jahren auch neue "illegale" Einwanderer dazugekommen, daher die anfänglichen Probleme mit der Unerfahrenheit von Betroffenen.

Doch die Besetzer wurden alsbald vom Erfolg ihrer Bewegung überrollt. Nachdem über 1.000 Sans-papiers sich eingetragen hatten, wurde am 30. August die Besetzung der Basilika abgebrochen, infolge eines Abkommens mit dem Gemeindepriester Bernard Berger. Denn man war zu der Ansicht gelangt, dass der Dom allein nicht alle "illegalen" Einwanderer aufnehmen könne, die bald auch aus anderen Städten und Départements herbeiströmten.

Die Einschreibung in die Listen der Sans-papiers-Kollektive wurde daraufhin nach Paris verlagert, wo sie in den ersten Septembertagen in der Bourse du travail - dem Gewerkschaftshaus - stattfand. An einem einzigen Tag trugen sich 3.000 Papierlose ein : Maghrebiner, Afrikaner, Chinesen. Zugleich fanden vom 3. September an jeden Tag Protestdemonstrationen vor den Präfekturen in den verschiedenen Bezirkshauptstädten im Großraum Paris statt. Dabei wurden erste Listen von Antragstellern aus dem jeweiligen Département übergeben, deren "Legalisierung" gefordert wird. Inzwischen haben sich 16.000 Migranten namentlich bekannt gemacht, die Aufenthaltstitel in Frankreich fordern.

Der neokonservative Innenminister Nicolas Sarkozy hat zugesichert, eine erneute "Einzelfallprüfung" - wie unter der Vorgängerregierung in den späten 90er Jahren - vorzunehmen, und dabei auch auf individuelle "schwierige Situationen" ein besonderes Augenmerk zu haben. Denn Sarkozys derzeitiger Albtraum ist es, dass sich die Solidaritätsbewegung erneut derart ausbreitet wie unter der Juppé-Regierung 1996/97. Der Innenminister spielt daher auf Zeit. Eine bestimmte Anzahl individueller "Legalisierungen" dürften dabei wohl herauskommen, das Gesamtproblem aber wird es nicht lösen.

Die antirassistischen und solidarischen Vereinigungen sind derzeit gespalten. Die nationale Koordination der Sans-Papiers und die Rechtsberatungsgruppe für Immigranten GISTI fodern eine "allgemeine Legalisierung" und verwerfen die Einzelfallprüfung als Lösung. Der GISTI (im Internet : www.gisti.org) hat in diesem Zusammenhang die Initiative zu einer europaweiten Offensive ergriffen. Am vorigen Freitag, dem 13. September, hielt der GISTI zusammen mit einer britischen und einer portugiesischen Antirassismus-Organisation eine Pressekonferenz ab, auf der ein gemeinsamer Aufruf von  20 Organisationen zur EU-weiten "Legalisierung" aller so genannten illegalen Einwander vorgestellt wurde.

Hingegen sind die eher KP-nahe Antirassismusbewegung MRAP und die halblinke Liga für Menschenrechte (LDH) derzeit mit dem Regierungsvorgehen der Einzelfallprüfung noch einverstanden. Sie fordern freilich, eine möglichst große Zahl von Aufenthaltstiteln zu erteilen. Auf allgemeine Kritik stieß aber die Äußerung des Vorsitzenden von SOS-Racisme, einer der Sozialdemokratie nahestehenden Vereinigung : Malek Boutih hatte in einem Zeitungsinterview (mit 'Libération' vom 7. September) erklärt, er sei gegen eine allgemeine Legalisierung, da dies "eine Sogwirkung nach Frankreich" schaffe. Von Solidarität ist das ziemlich weit entfernt.

Innerhalb der sozialdemokratischen größten Oppositionspartei herrscht eher betretenes Schweigen, die wenigen öffentlichen Äußerungen fordern ebenfalls eine Einzelfall-Entscheidung. Lediglich der frühere Kulturminister Jack Lang, der freilich eher als Clown des politischen Establishments gilt, forderte vorige Woche die "allgemeine Legalisierung" aller Sans-papiers, die jetzt protestieren.

Der neue Aufschwung der Bewegung hat auch damit zu tun, dass viele Immigranten sich durch die neue Rechtsregierung stärker bedroht fühlen - will diese doch die Asylverfahren künftig radikal straffen und in der Folge Kollektivabschiebungen, notfalls mittels Charterflügen, wieder einführen. 103 Sans-papiers sind in den vergangenen Wochen tatsächlich abgeschoben worden. Unter ihnen sind zwei der Teilnehmer des Fußmarschs der Sans-papiers vom März und April dieses Jahres : Abdelhak Bougherara aus Valence, und Ahmed Merabet aus Lyon.

Damals hatten 60 "illegale" Immigranten, darunter viele Algerier, Frankreich von Marseille bis nach Paris zu Fuß durchquert, um öffentliche Aufmerksamkeit zu schaffen. Bei ihrer Ankunft in Paris am 27. April standen sie plötzlich an der Spitze eines Demonstrationszugs von 60.000 Menschen, weil der Rechtsextremist Jean-Marie Le Pen eine Woche zuvor ein hohes Wahlergebnis erreicht hatte. Das war im Frühjahr. So stark sind die Proteste derzeit nicht.

Die nächste Pariser Großdemonstration zugunsten der Sans-papiers findet am letzten Samstag im September statt. Am Vormittag des Sonntag, 15. September wurde zudem die Kirche Saint-Ambroise im 11. Pariser Bezirk besetzt - ein symbolträchtiger Ort : An dieser Stelle hatte im März 1996 die erste Besetzungsaktion stattgefunden, welche die damalige Sans-papiers-Bewegung ins Rollen brachte. Wie damals lehnt aber die stockkonservative örtliche Kirchengemeine die Besetzung durch die "papierlosen" Einwanderer ab, anders als in der Basilika der Vorstadt Saint-Denis. Wie 1996 ist daher eine rasche polizeiliche Räumung zu befürchten, falls die Besetzer nicht von allein gehen. Doch die symbolisch wichtige Handlung bleibt.

Bernhard Schmid (Paris)

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