letzte Änderung am 18. Juni 2003

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Solidarische Renten für eine gerechte Gesellschaft

Aufruf eines Organisationsbündnisses zum Rentenstreit in Frankreich

Am 13. Mai fanden in Frankreich gewerkschaftsübergreifend organisierte Streiks gegen eine neuerliche »Rentenreform« statt, mit der die Regierung die Differenzen zwischen Beschäftigten des Öffentlichem Dienstes und der Privatwirtschaft nach unten angleichen sowie das Renteneintrittsalter und die Zahl der Beitragsjahre insgesamt erhöhen will. Indirekt solle damit auch dem »demographischen Schock« entgegengetreten und mehr Beschäftigung geschaffen werden, so die Begründung der Regierung. Wir dokumentieren den gekürzten Aufruf »Appell der 1000«, der zuletzt von über 2000 Mitgliedern aus allen Gewerkschaften Frankreichs, WissenschaftlerInnen und VertreterInnen von Organisationen wie AC! oder Attac unterzeichnet wurde. Das gemeinsame Streikbündnis wurde allerdings mittlerweile von der CFDT verlassen, die sich für den Verhandlungsweg und gegen die Fortsetzung der Streiks ausgesprochen hat.

 

Das Regierungsprojekt zur Rentenreform ist keine Reform, sondern eine Zerstörungsmission. Es begründet die Heraufsetzung des Rentenalters mit Gleichbehandlung und steigender Lebenserwartung. Für eine volle Rente soll der Beitragszeitraum zunächst für die Beamten auf 40 Jahre, später für alle Beschäftigten auf 42 Jahre erhöht werden (momentan gelten in Frankreich 37,5 Jahre im öffentlichen, 40 Jahre im privaten Sektor, d.Ü.). Die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt werden jedoch verhindern, dass dies ein wundersames Anwachsen der wirtschaftlichen Aktivität zur Folge haben wird. Die Beschäftigten werden weiterhin nahezu im selben Alter in Rente gehen, aber (...) mit einer um mindestens 20 Prozent reduzierten Rente – besonders betroffen sind Arbeitslose, prekär Beschäftigte und Frauen. Wer will und kann, wird seine Rente durch Beteiligung an Fonds aufstocken, die den Risiken der Börse ausgesetzt sind. Dieses Projekt folgt also den Rezepten von IWF und Weltbank und den Entscheidungen des EU-Gipfels von Barcelona.

Wir weisen die ungerechtfertigte Dramatisierung einer verlängerten Lebenserwartung zurück, die ständige Beschwörung eines demographischen »Schocks«, der angeblich das ganze Rentensystem zu sprengen droht. (...) Die wahre Frage ist ..., ob nicht ein verdecktes ökonomisches Gesetz, eine unsichtbare Grenze zur Stagnation jenes Teils der gesellschaftlichen Einkommen führt, der zur Vorsorge dient.

Der Unternehmerverband Medef schreckt nicht einmal in der aktuellen Situation – wo gerade die Unternehmen mit Stellenabbau und Vorruhestandsplänen dafür sorgen, dass nur jede/r dritte Erwerbstätige im Alter von 60 Jahren seinen Job noch hat – davor zurück, einen Beitragszeitraum von 45 Jahren zu fordern. Vor diesem Hintergrund ist die aktuell geforderte Heraufsetzung für die Beamten nichts weiter als ein Zwischenschritt: Eine Bresche soll geschlagen werden, die einen Angriff auf die »besonderen Regelungen« bei öffentlichen Unternehmen wie EDF, SNCF usw. zu einem späteren Zeitpunkt ermöglicht sowie eine weitere Heraufsetzung für alle vorbereitet – die Beschäftigten des privaten Sektors vorneweg.

Die Gleichbehandlung von privatem und öffentlichem Sektor ist absolut erforderlich, kann aber nicht dadurch erreicht werden, dass die Ungerechtigkeiten, mit denen die Beschäftigten des ersteren zu kämpfen haben, einfach auf die Beschäftigten des letzteren ausgedehnt werden.

Wie können die immer zahlreicher werdenden Arbeitslosen und prekär Beschäftigten jemals auf eine angemessene Rente kommen, wenn der minimale Beitragszeitraum auf 40 Jahre heraufgesetzt wird? Was ist mit der Situation der vielen Frauen, die aufgrund ihrer Teilzeitbeschäftigung auch nur eine Teilrente bekommen? Die Rente darf nicht schon wieder die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen verschärfen.

Wir wollen nicht, dass erneute Rückschritte unter dem Deckmäntelchen der »Reform« die Situation weiter verschlechtern.

Alternativ schlagen wir vor, eine solidarische Rente auf drei grundlegenden Garantien aufzubauen:

Für die Umsetzung dieser drei Garantien ist es erforderlich, die Balladur-Dekrete von 1993 und die Vereinbarung über die Zusatzrenten von 1996 aufzuheben. Haben wir für ein solches Projekt wirklich keine Mittel, wie man uns immer glauben machen will? Laut Conseil d’Orientation des Retraites würde der Anteil der Renten am BIP von heute 12 Prozent auf 18,5 Prozent im Jahre 2040 steigen. Dieser Prozentsatz scheint uns der zu erwartenden demographischen Entwicklung angemessen.

In diesem Rahmen sind neue Maßnahmen möglich und notwendig, die der Realität der Arbeitswelt besser gerecht werden:

Für die Finanzierung dieser Maßnahmen existiert erheblicher Spielraum: Eine Wirtschaftspolitik, die sich prioritär um die Befriedigung sozialer Bedürfnisse kümmert, wäre auf der Basis eines anderen Wachstums in der Lage, zusätzliche nützliche Jobs zu schaffen.

Außerdem muss die Verteilung des Wohlstands in unseren Ländern neu überdacht werden. Heute fließen nur noch 60 Prozent des Mehrwerts in die Löhne (direkt und in Form von Sozialversicherungsbeiträgen). Dem steht ein Prozentsatz von 70 zu Beginn der achtziger Jahre gegenüber. Der Anstieg der Profite um 10 Prozentpunkte hat die finanziellen Erträge erhöht, ohne sich im Geringsten auf die Arbeitslosigkeit auszuwirken. Wenn man also die Rentenbeiträge der Unternehmen erhöhen würde, könnte man die von uns vorgeschlagenen Reformen finanzieren, den Anteil der Löhne am Mehrwert ausbalancieren und den aufgewerteten Lohnanteil zwischen Beschäftigten und Rentnern neu verteilen. (...)

Die Entscheidung, die uns als bestmögliche im Rahmen gegebener Sachzwänge präsentiert wird, erweist sich bei genauerer Betrachtung als eine soziale und politische Entscheidung zu Gunsten des Kapitals, auf Kosten der RentenbezieherInnen. Diesem Rückschritt stellen wir ein Projekt gegenüber, das die Gleichheit und die Solidarität zwischen Erwerbstätigen und zwischen den Generationen sicherstellt.

Im Namen eines solchen Projektes wollen wir gemeinsam aktiv werden: privat und öffentlich. Weil es gerecht ist und weil es möglich ist.

 

Französischsprachige Informationen zum Aufruf im Internet: www.appel-retraites.org

Übersetzung: Anne Scheidhauer

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/03

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